N.N. Aufruf der Nationalversammlung an das deutschösterreichische Volk

N.N. Aufruf der Nationalversammlung an das deutschösterreichische Volk (1918)

            Die provisorische Nationalversammlung erläßt an das deutschösterreichische Volk einen Aufruf, in dem nach einer Mitteilung über die gestern gefaßten Beschlüsse gesagt wird:

            Jetzt, da die Freiheit gesichert ist, ist es erste Pflicht, die staatsbürgerliche Ordnung und das wirtschaftliche Leben wiederherzustellen. Die Vorsorge für das tägliche Brot, die Zufuhr von Kohle, die Bereitstellung der notdürftigsten Bekleidung, die Wiederaufnahme des Ackerbaues, die Aufnahme der Friedensarbeit in den Fabriken und Werkstätten ist unmöglich, wenn nicht sofort alle Bürger bereitwilligst und geordnet zur Tagesarbeit zurückkehren. Unsere armen Soldaten, die zur Heimat, zu Weib und Kind zurückkehren wollen, können nicht befördert und verköstigt werden, wenn unser Verkehr stockt. Jeder, der den Anordnungen der Volksbehörden nicht Folge leistet, ist sein eigener, der Feind seines Nächsten und der Feind der Gesamtheit. Wir sind nun ein Volk, sind eines Stammes und einer Sprache, vereinigt nicht durch Zwang, sondern durch den freien Entschluß aller. Jedes Opfer, das Ihr bringt, gilt den Euren und nicht fremden Herren noch fremden Völkern. Darum muß jeder mehr tun, als das Gesetz fordert. Wer über Vorräte verfügt, der öffne sie dem Bedürftigen. Wer überschüssige Gewandung besitzt, helfe die frierenden Kinder bekleiden. Jeder leiste das Äußerste! Jeder denke von allem an die nächsten Wochen und Monate. Für später ist gesorgt. In wenigen Monaten wird der Weltverkehr wieder frei sein. Nach wenigen Monaten, so hoffen wir, kehrt in der Welt und kehrt in Deutschösterreich das normale Leben wieder. Dann wird das gesamte Volk sich seine dauernde staatliche Ordnung geben. Bis dahin Vertrauen, Eintracht, Selbstzucht und Gemeinsinn!

                                               Heil Deutschösterreich!

                                    Die provisorische Nationalversammlung

In: Neues Wiener Journal, 13.11.1918, S. 4.