N.N.: Der Heimwehrtag in Baden (1927)
Eine machtvolle Kundgebung. – Fortschritte des Selbstschutzes in Niederösterreich. – Nunmehr einheitliche Führung der Heimwehren.
Baden hatte gestern einen großen Tag. Die niederösterreichischen Heimwehren (Selbstschutzverband) hatten unter der Leitung des Majors Karz in dieser Stadt ihre erste große Kudgebung veranstaltet, an der Abordnungen der wehrhaften Organisationen aus allen Teilen des Landes teilnahmen. Die Veranstaltung stand unter dem Zeichen des gewaltigen Aufschwunges der niederösterreichischen Heimwehren. In der bodenständigen Bevölkerung, vor allem in der niederösterreichischen Bauernschaft, hat der Gedanke der Heimwehr feste Wurzel geschlagen. Das Bekennen der Bevölkerung zu den Heimwehren hat auch die Hindernisse beseitigt, die der Organisation des Selbstschutzverbandes entgegenstanden. Seit dem 15. Juli ruft die niederösterreichische Landbevölkerung nach den Heimwehren. Von welchem Schwung die Heimwehrbewegung getragen wird, zeigte die machtvolle Kundgebung in Baden.
Der Heimwehrtagung kommt besondere Bedeutung zu. Bisher litt die Bewegung darunter, daß ein Zuviel an Organisationen bestand, die zwar das gleiche Ziel anstrebten, aber nebeneinander arbeiteten und derart die Aktion schwächten. Dieser Übelstand hat aufgehört. Sämtliche Organisationen haben sich für den Fall, daß die Heimwehren aufgerufen werden, der Führung des Bundesrates Dr. Steidle unterstellt. Der bisherige alpenländische Selbstschutzverband hat sich zu dem österreichischen Selbstschutzverband erweitert, dem nun auch der Wiener, der niederösterreichische und der burgenländische Selbstschutzverband angehören. Die einzelnen Organisationen des Landes haben sich, sobald sie mit den Heimwehren gemeinsam operieren, dem Selbstschutzverband des betreffenden Landes untergeordnet. Diese Einigung wurde nun von Bundesrat Dr. Steidle in Baden verkündet.
Die BotschaftUntertitel: Neue Gedichte aus Österreich. Gesammelt und eingeleitet von E. A. Rheinhardt. Verlag Ed. Strache, Wien-Prag... wurde von allen, denen die Heimwehrbewegung am Herzen liegt, mit Jubel aufgenommen. Nun ist auch Gewißheit gegeben, daß die Heimwehren für alle Fälle gerüstet seien und eine Richtung einschlagen werden, die von der christlich-deutschen Bevölkerung gutgeheißen wird. Nun steht vor allem der Teilnahme der katholischen Männer und Jugend an der Heimwehrbewegung nichts mehr. im Wege. Im Gegenteil ist es Pflicht der Katholiken, der Aufforderung ihrer Organisationen Folge zu leisten.
Bei der Kundgebung waren von den Heimwehren erschienen Abordnungen aus den einzelnen Vierteln des Landes, aus Steiermark und Tirol. In stattlicher Zahl waren vertreten die christlich-deutschen Turner aus dem Viertel unter dem Wiener Wald (Führung Prof. Doktor Dinkhauser), der deutsche Turnerbund von Steinfeld, die Heimwehren von Baden, Mödling, Hinterbrühl, Liesing, Perchtoldsdorf, Schwechat, Wiener-Neustadt, Gloggnitz, Vöslau, Wolkersdorf, Mistelbach, Laa u. v. a., der Verband Deutsche WehrDeutschvölkischer, antisemitisch ausgerichteter Geheimbund, der z.T. von geflüchteten Angehörigen deutscher Freikorps..., der Verband Oberland, zahlreiche Burschenvereine, Schützen- und Kameradschaftsvereine und außerdem eine starke Gruppe von Frontkämpfern.
Unter den Festgästen sah man u. a.: die früheren Minister Kollmann, Dr. Rintelen, Dr. Mataja, die Abgeordneten Klieber, Kraus, Dr. Mittermann, Bierbaumer, Pichula, Dr. Reich, Zippe, die Organisationsvertreter Feldmarschalleutnant Weiß, General Lustig-Prean, Major Papst, General Kasamas, Ingenieur Wenzl, Obmannstellvertreter Scheffel, Hofrat Kupka, Präsident Kattinger.
Neben 2500 Mitgliedern der wehrhaften Organisationen stand Kopf an Kopf eine nach Tausenden zählende Menschenmenge auf dem großen Platz vor dem Kurhaus, wo Prälat Frim unter Assistenz eine Feldmesse las, bei der dle vereinigten Badner Männergesangvereine die Deutsche Messe von Schubert sangen. Nach erfolgter Einweihung von drei Standarten der Bezirksheimwehrverbände Wolkersdorf, Laa a. d. Thaya und Mistelbach begrüßte Minister a. D. Bürgermeister Kollmann in einer zündenden Ansprache die Tagung namens der Stadtgemeinde Baden. Er sagte:
Ein freies Volk kann nur bestehen, wenn es von fremdem Einfluß frei ist. Freie Männer vertragen nicht die Gewalt Fremder über sich. Uns in Österreich droht eine solche fremde Gewalt, die nicht Sinn hat für unser Volk und eine Knechtschaft aufrichten will über unser Volk, das Jahrtausende frei war. Ein Ruf hat Sie hiehergebracht, um Zeuge zu sein, daß nicht allein die anderen, sondern auch wir marschieren. (Lebhafter Beifall.) Ich begrüße Sie im Namen der rotumbrandeten Stadt Baden, die sie gerne haben möchten, die sie aber nie bekommen werden. (Neuerlicher Beifall.) Ich begrüße Sie und heiße Sie alle aus vollem Herzen willkommen.
Wiederholt von großem Beifall unterbrochen, führte Abg. Klieber aus:
Nicht reine Abwehr allein bilden das Ziel unserer Bewegung. Vor allem gilt es, unsere Jugend in positivem, vaterländischem Geiste zu erziehen und die Wehrhaftigkeit des deutschen Bürgers zu heben. Das ist kein müßiges Soldatenspiel. Unsere Bewegung richtet sich nicht gegen den Arbeiter, dem wir als Bruder die Hand reichen und dem wir aus den Fesseln einer wesenfremden Gedankenwelt, aus der Zwangsjacke einer angeblich freien Organisation befreien wollen. Welch unermeßlichen Schaden die hemmungslose Betätigung gewisser Elemente anrichten kann, in welchen Abgrund unsere Heimat stürzt, wenn nicht eine rettende Hand eingreift, das hat uns allen der 15. Juli klar und deutlich gezeigt. Wem die brennende Fackel des Justizpalastes noch immer kein Licht angezündet hat, dem ist nicht zu helfen. Nie wieder Umsturz! Nie wieder Zustände, wo ein Telegramm eines Unverantwortlichen genügt, das ganze Wirtschaftsleben Österreichs stillzulegen; nie wieder dulden wir, daß all jene, die nicht rot gestempelt sind, in ihrer Arbeit und in ihrer Bewegungsfreiheit gestört werden. Die Zeit, da man unser armes Österreich als zweites Bolschewikenland bezeichnen konnte, muß vorüber sein.
Auf legalem Wege, in voller Öffentlichkeit, im Rahmen unserer Gesetze spielt sich unser Handeln ab.
Heute ist es das erstemal, daß wir uns zu einer größeren Feier vereinigen, das erstemal, daß wir Gäste aus den Heimwehren der übrigen Bundesländer, die mit uns Schulter an Schulter standen, begrüßen können. Ich begrüße insbesondere den Bundesführer Dr. Steidle und Minister Doktor Rintelen. Unser Gruß gilt aber auch unseren gefallenen Kameraden, die im Krieg, unsere Heimat gegen eine Welt von Feinden verteidigt und in Ausübung dieser höchsten Vaterländischen Pflicht ihr Leben gelassen haben. Ihnen gilt unser Dank, den wir nicht besser erweisen können, als daß wir unseren toten Helden nachstreben in Treue, Tapferkeit und Vaterlandsliebe.
Abg. Dr. Mittermann erklärte, die Zeit des Schweigens ist vorbei, die Zeit der Tat hat begonnen. Er pries den großen Wahlerfolg im Bundesheer, das nun wieder anknüpfen will an die große Vergangenheit der alten Armee. Abg. Zippe begrüßte die Tagung im Namen des deutschen Turnerbundes.
Bundesführer Dr. Steidle, mit lautem Beifall begrüßt, führte aus:
Revolutionäre Bewegungen, die sozialen Umschichtungen entspringen, haben immer einen Druck oder soziale Versäumnisse der gerade herrschenden Kreise zur Voraussetzung gehabt. Auch in Österreich hat die fortschreitende Industrialisierung Bevölkerungsschichten geschaffen, die sich ihr gutes Recht auf angemessene Lebensbedingungen häufig genug erst im politischen und gewerkschaftlichen Kampfe holen mußten, weil große Teile des sogenannten Bürgertums nicht die Einsicht aufbrachten, den Notwendigkeiten einer neuen Zeitepoche aus freien Stücken Rechnung zu tragen. Mit den unerfreulichen Erscheinungen der heutigen Zeit büßen wir zum größten Teile die Sünden unserer Väter. Derartige sozialrevolutionäre Bewegungen haben aber das Gemeinsame, daß sie im Falle des Erfolges gewöhnlich über das Ziel schießen. Aus den Freiheitskämpfern werden selbst Tyrannen, die dann wieder denselben Fehler begehen, den sie ihren Gegnern vorgeworfen haben und die sie wegen der Tyrannei und Unterdrückung bekämpften. Sie rufen damit selbst wieder naturnotwendig eine Gegenbewegung hervor, die, wenn sie richtig geleitet ist, ein gesellschaftliches Gleichgewicht schafft, oder, wenn sie von unsozialen Leidenschaften beherrscht ist, ebenso ihre Bahn überschreiten und einen neuen Kreislauf von Verwicklungen hervorrufen wird.
Auch bei uns haben die führenden Kreise der Marxisten aus den geschichtlichen Erfahrungen nichts gelernt und Uebergriff auf Uebergriff gehäuft. Sie machten das, was sie an dem bekämpften „Bourgois“ bitter verdammten, in vergrößertem Stile nach, sie schickten sich an, die Herrschaft im Staate mit Hilfe der von ihnen geführten Masten zu ergreifen und die Diktatur einer Klasse mit allen Mitteln, auch denen der Gewalt, die sie in anderen Händen mit glühenden Worten verurteilten, allen anderen Gesellschaftskreisen aufzuzwingen. Aus den Freiheitskämpfern entwickelten sich ausgewachsene Tyrannen kleineren oder größeren Formats, je nach Charakter, Herkunft und Fähigkeit. Der Appetit wuchs täglich mit dem Essen. Und es hatte den Anschein, als ob gerade die österreichische Bevölkerung das geeignete Versuchskaninchen für solche Diktaturgelüste abgeben würde. Aber der immer mehr steigende Ueber-[ ] mit der unersättlichen roten Führerschaft erweckte den Unabhängigkeitssinn, das natürliche Freiheitsgefühl und die gesunden demokratischen Instinkte weiter Bevölkerungsschichten. Und als die unentwegte sozialistische Verhetzung am 15. Juli die lodernde Brandfackel in die Bundeshauptstadt schleuderte, ging ein vollständiges Erwachen durch die gesund gebliebenen Teile Österreichs. Die Abwehr der marxistischen Übergriffe durch Männer, die in der persönlichen und geistigen Freiheit das höchste aller irdischen Güter sehen, ist im Wachsen begriffen.
Angesichts der Hemmungen der verfassungsmäßigen Körperschaften mußten private Organisationen das Befreiungswerk in die Hand nehmen. Das waren und sind unsere Selbstschutzverbände, unsere Heimatwehren, die täglich wachsen und sich über alle Gaue des Vaterlandes ausbreiten.
Der auf Gewalt und Terror aufgebauten Herrschgier der roten Diktatoren muß ein Ende gemacht werden. Die Mittel der Abwehr richten sich ganz nach den Methoden des Gegners. An die Stelle der Klassenherrschaft einer einzelnen Bevölkerungsgruppe muß das soziale, das gesellschaftliche Gleichgewicht gesetzt werden, die Volksgemeinschaft. Der Weg dazu geht einerseits über die Abwehr und Beseitigung der roten Gewaltmethoden, anderseits über die Annäherung und Zusammenführung der sich haßerfüllt gegenüberstehenden Volksgenossen, über die Befreiung und Loslösung der verführten Arbeitermassen von ihren Vögten und über die Besinnung auf soziale Gerechtigkeit zum sozialen Interessenausgleich. Wir müssen um unsere Freiheit, wenn es sein muß, mit der Faust, mit Nägeln, und Zähnen kämpfen. Von Frieden und Versöhnung wollen wir reden, wenn der Gegner den ehrlichen Willen, von der Gewaltherrschaft abzulassen, nicht nur mit
gleißnerischen Worten, sondern durch die Tat bezeugt.
In: Reichspost, 17.10.1927, S. 5.
Hermann Menkes: Lyrische Bekenntnisse
h.m.[enkes]: Lyrische Bekenntnisse. (1919)
(Danton [Robert Bodansky]: Wenn der Glorienschein verbleicht. – Hugo Sonnenschein: Slowakische Lieder. – Marek Scherlag: In der Fremde.)
In dieser Zeit aufgewühlten Denkens und Empfindens ist auch der in sich versponnene Lyriker zum Weltanschauen, Bekennen und zur leidenschaftlichen Stellungnahme gedrängt. So wurde auch das Gedicht zu einer Konfession, zu einem Dokument dieser Epoche. Bekenntnisbücher in diesem Sinne sind die drei Gedichtsammlungen, auf die die Aufmerksamkeit hier gelenkt werden soll. Aber sie sind es in ganz verschiedenartiger, individueller Weise.
Robert Bodanzky (Danton), der gewichtloserem, der UnterHaltung gewidmetem Schaffen bisher sich hingab, gibt ein von den edelsten Impulsen getragenes Bekenntnis zur Menschheit und deren Befreiung von ihrer bisherigen Versklavung durch Staat und Militarismus, während Hugo Sonnenschein und Marek Scherlag aus der Seele ihrer Nation ihre Dichtung schöpfen. Danton ist, wie sein berühmtes Vorbild, ganz von revolutionärem Geiste erfüllt. Seine Satire ist schonungslos, sein unfehlbar treffender Witz voller Bitternisse. Diese Gedichte und Epigramme waren schmerzliche Monologe während des Krieges, der großen Katastrophe aller Menschlichkeit. Danton, ein inbrünstiger Bekenner der Tolstojschen Weltreligion, hat im dumpfen Schweigen jener Jahre diese blutigen Satiren hingeschrieben, die hohnvolle Abrechnung mit der Grausamkeit wie mit der öffentlichen Lüge, mit den großen und kleinen Mächten der Gewalt, der Volksverführung durch die Phrase halten. Sein Wort wurde zu einem heruntersausenden, feingeschliffenen Schwert. Die Gedichte sind das Dokument einer achtunggebietenden inneren Umwandlung zur großen und wahrhaften Humanität, Bodanzky rückt dem Dünkel, der Selbstsucht, dem in Grausamkeit ausgearteten Größenwahn zu Leibe. Er höhnt die falschen Menschheitserlöser, die in die Phrase versponnene Partei. Aber neben dem Haß schlägt in seinem Herzen auch eine innige erwärmende Liebe zu allen Bedrückten und Enterbten. Er ist ein Anarchist im edelsten Sinne, einer der sich gegen jede Art von Vergewaltigung wendet, gegen Krieg und Staat, für den er die große Menschheitsgemeinschaft setzen will. Von seinen kleinen, spitzen Epigrammen sagt er:
Wie derlei Epigramme entstellen,
Die Antwort kann leicht ich Euch geben.
Man braucht nur mit offenen Augen zu sehen
Und darf nicht vorbeigeh’n am Leben.
Dann muß man das Ganze in Reime fassen
Und Worte wählen, die Lügnern nicht passen.
Und Begeisterungsfunken schürt man zur Flamme,
Und so entstehen Epigramme.
Dem Wohltätigen ruft er zu:
Ich hör‘ Euch verworrene Worte stammeln,
Von Wohltätigkeit — von Geldersammeln
Für rekonvaleszente Soldaten,
Die ihre Pflicht türs Vaterland taten!
– – Laßt sie krank sein, die armen Jungen,
Für einmal haben den Tod sie bezwungen.
Doch müßten sie nochmals ins Elend hinaus,
Dann läßt sie der grause Geselle nicht aus.
Und Ihr habt es dann allein verschuldet,
Wenn er zum zweitenmal Todesqual erduldet.
Sammelt nicht! — Macht nicht gesund diese Kranken,
Sammelt nur eines — Eure Gedanken!
Er spricht vom „großen Narren“:
Er schätzt nur eines — das eigene „Ich“
Und sagt er „wir“— dann meint er „sich“.
Doch spricht er vom Durchhalten und Entbehren,
Dann meint er „uns“ — das kann ich beschwören.
Der große Narr — den alle wir kennen,
Muß ich erst seinen Namen nennen?
Für seinen Wahnwitz, der toller als toll.
Da zahlt das Volk einen hohen Zoll,
Und schreit noch obendrein „Hurra“.
Ein ähnlicher Narr starb auf Helena.
Eine satirische Heerschau der Parteien gibt Danton-Bodanzky in seinem auch künstlerisch wertvollsten Gedicht: Der Zirkus ist geheizt. Auch die ironisch beleuchteten Prosaskizzen Held Jakob, König Kapita„, Leib Mendel wird man in diesem befreienden Büchlein. Wenn der Glorienschein verbleicht (Wien, Verlag „Bekenntnis und Befreiung“) genußvoll lesen.
Des jugendlichen Hugo Sonnenschein Slowakische Lieder (GenossenschaftsverlagAus: Der neue Tag, 28.3.1919, S. 7 Gegründet im April 1919 im Umfeld der seit 1918 erscheinenden expressionist. Zs. Dai..., Wien, Bauermarkt 9) sind in ihrer Melodie und in ihrer Frische ganz auf volkstümlichen Ton gestimmt. Schmerzvoll verkündet der Dichter hier das Leid der Enterbten und Geduldigen.
Auf den Schultern meines Volkes
Liegt die Knechtschaft ein Jahrtausend.
Ein Jahrtausend scheuren Fesseln
Meiner Brüder Geist und Hände.
Diese Lieder haben eine vor Leidenschaft vibrierende Musik, eine Ursprünglichkeit, die ganz vom Atem der Natur durchweht, ist.
Dein Lied, du armer Mensch der Slowakei.
Ist ein Verzweiflungsschrei.
Ein Schrei der Seele, die in Banden ächzt
Und doch nach Freiheit lechzt.
Sie nehmen dir alles: dein Blut, dein Feld
Und dein Hirn, dein Geld.
Nur dein Herz und dein Lied, das können sie nicht.
Das klingt und zeigt der Sonne Licht.
Solang dir in der Brust ein Funke Leben glüht,
Solang hast du dein Herzenslied.
Dein Lied, du armer Mensch der Slowakei —
Deinen Verzweiflungsschrei.
Zugleich mit dem Brudervolke besingt Sonnenschein mit Tönen wehmütiger Erinnerung sein eigentlichstes, jüdisches. Diese empfindungsstarken, in Naturfarben glühenden Strophen, die oft zur kurzatmigen tragischen Ballade sich runden, prägen sich tief ins Herz ein.
Marek Scherlags ergreifende Weisen in seinem Buche In der Fremde. Neue Judenlieder (Berlin, Axel Juncker) erklingen aus den stillen, sonnenarmen Gassen des Getto. Aus einer Flut von Erinnerungen strömen diese stillen, oft wehmütigen Lieder, die eine Welt widerspiegeln, ihre feiertäglichen Freuden, ihre entsagungsvolle Tragik und ihr unscheinbares Heldentum. Der Dichter pflückt hier Blumen zwischen Ruinen, ist ein Schönheitssucher im glanzlosen jüdischen Alltag. Es ist nichts Starkes in diesen einfachen Gesängen, aber viel beseeltes, leise atmendes Leben. Am schönsten, wenn dieses Leben dem Dichter von der bloßen Reflektion weg zum plastischen Bilde sich gestaltet wie in dem Gedicht Jankel:
Ein einsames Stämmchen am Wege im Wind,
So seh ich Jankel, das schwächliche Kind.
Gebleicht sein Gesichtchen vom Rauhfrost der Not.
Vater und Mutter sind lange tot.
Die Schule, ein feindlich geschlossener Kreis,
Und er so vereinsamt, verlassen, verwaist…
Wie Pfeilstich verletzt ihn das höhnische Wort:
„Du Judenjunge, du mache dich fort“.
Er bleibt und erfleht einen einzigen Strahl
Vom Licht ihrer Freundschaft, fürs Grau seiner Qual.
Schenkt ihnen sein Herz, sie lachen bloß,
Zertreten es spielend und ahnungslos.
Da schleicht er von dannen, verweint und zerquält.—
Ob Gott wohl die Tränen der Armen auch zählt?
In: Neues Wiener Journal, 5.7. 1919, S. 5 (16).
Paul Keri: Die revolutionäre Literatur Ungarns.
Paul Keri: Die revolutionäre Literatur Ungarns (1926)
Nirgends in der Welt, wo eine Revolution den Krieg ablöste, spielte die Literatur eine so tiefe, bedeutsame Rolle in der Bewegung, war die Revolution so stark mit der Literatur verwebt wie in Ungarn. Das ist leicht erklärlich. In Ungarn schlug man sich mit einem halbmittelalterlichen Feudalismus, der heute wieder, zäher denn je, auf dem ungarischen Trümmerfeld festsitzt. In dem Kampfe, der Jahrzehnte vor dem Kriege anfing, mußte der linke Flügel der Bourgeoisie, meistens Intellektuelle, mit der Arbeiterschaft in einer Front gegen die Machthaber stehen, denn die Bürgerlichen waren kaum weniger rechtlos und unterdrückt als die Arbeiter. In Ungarn war und ist noch ein sehr großer Teil der bürgerlichen Revolution auszukämpfen übrig. Diesen revolutionären Kampf führten die Intellektuellen, und überall, wo die intellektuelle Bourgeoisie in Aufruhr steht, spielen Kunst und Literatur eine besondere Rolle im Kampfe.
In Ungarn wühlte eine latente Revolution schon lange vor dem Kriege. Der Dichter und geistige Führer dieser Bewegung, Andreas Ady, schrieb in einem seiner Gedichte, unmittelbar nach dem Umsturz, schon nach dem Tode Tiszas, an diese Zeiten mahnend: „In Revolution lebte er — der Ungar —, da brachten über ihn den Krieg, das Ungeheuer, selbst in ihren Gräbern tief verfluchte Schurken!“ … Diese revolutionäre Bewegung, an der die unzufriedene Bourgeoisie teilnahm, führte eine Blütezeit der ungarischen Literatur herbei, die ihrer klassischen — übrigens ja auch revolutionären — Periode in nichts nachsteht.
Diese neue ungarische Literatur ist vor allem künstlerisch revolutionär. Außer Ady, an dessen Instrument auch die Saite des Umstürzlers hell klang, ist diese Literatur gar nicht politisch. Und doch ist sie revolutionär in jedem Hauche, aufwühlend im Gebiet der Sprachkunst. Diese Literatur hat die ungarische Sprache umgeformt und sich wiederum von den wunderbaren Möglichkeiten der ungarischen Sprache befruchten lassen.
Die bezeichnende Note der russischen Literatur ist eine visionär vertiefte Psychologie. Die bezeichnende Note dieser neuen ungarischen Literatur ist eine sprachlich-musikalische. Das liegt wohl im Wesen der ungarischen Sprache. In ihrem Urzustand aus türkisch-tatarischen und finnisch-mongoloiden Elementen bestehend, stark mit Slawischem, Ottomanisch-Türkischem, selbst mit Persischem durchsetzt, rauschte der ganze Orient in ihr. Ihre Grammatik kennt keine Beugung, ihr Satzbau steht in scharfem Gegensatz zu den indogermanischen Sprachen. Eine barbarische Sprache, aber eine von höchster Kultur! … Die neue literarische Bewegung hat die leisesten und verborgensten Regungen des heutigen Kulturmenschen aus dieser Sprache herausgeholt, und trotzdem ist diese Sprache urwüchsig, formbar geblieben. Die ungarische Sprache wird — das liegt in ihrem Wesen — nie zu fertigen Formen gefrieren wie die großen westlichen: ein jeder Dichter und Schriftsteller, der da kommt, wird zuerst zur Arbeit an der Sprache gedrängt und findet dadurch ganz neue Töne und Nuancen der Zeitgedanken.
Das hätte dann aber zur Folge, daß diese neuere, revolutionäre Literatur kaum übersetzbar ist. Wir konnten dem Ausland nicht einmal eine ungefähre Ahnung davon geben, was unser großer Dichter Ady eigentlich bedeutet. Die Übersetzungen, die erschienen sind, erscheinen fahl.[1] Einen Widerschein des Adyschen Wesens geben noch am ehesten Ludwig Hatvanys Übertragungen in rhythmischer Prosa, in seinem sonst sehr rhapsodischen, kulturpolitischen Buche Das verwundete Land.[2] Was Ady aber für Ausländer bedeutet, die ihn lesen können, das zeigt die neuere serbische und rumänische Literatur, die von dem Dichter der ungarischen Revolution stark befruchtet wurden.
Andre, die noch mehr im Sprachlichen wurzeln, wie Michael Babits[3], eine Zeitlang der Rivale Adys, der gelehrte Poet dieser Bewegung, lassen sich noch schwerer in fremde Sprachen übertragen. Gewisse feine Blüten dieser stolzen Zeit, wie der unbewußte Expressionist Desider Szomory und der die Sprache der Volkslieder und Volksmärchen in lebendigen Geistesblitzen sammelnde Ernst Szep, sind wieder gerade sprachlich so kühn und originell, daß nur sie selbst sich übersetzen könnten… Am ehesten ist noch der Erzähler dieser Richtung, der wuchtige Bauernschilderer Siegmund Moricz,[4] wiederzugeben.
Was war da für eine Kämpferschar um die Zeitschrift Nyugat („Der Westen“) gesammelt! Ihr führender Publizist und Kritiker, selbst ein Dichter und Gestalter der neuen Sprache und des neuen Gedankens, war der jetzt in Wien in Verbannung lebende „Ignotus“.
Man fürchtete die Macht der Revolution im Schrifttum so sehr, daß zuletzt, unmittelbar vor dem Kriege, Tisza eine Zeitschrift zur Bekämpfung dieser Richtung gründete und die Leitung persönlich übernahm… Zwanzig Jahre entwickelte sich, aus verlachten Anfängen, diese neue ungarische Literatur, unaufhaltsam, reich, mannigfaltig, bis zum Kriege. Das ganze Geistesleben, Zeitungswesen, der Buchverlag, das Theater nahmen einen Aufschwung, der fast unbegreiflich war bei einer zahlenmäßig so kleinen Nation. Das ist nun alles eine wehmütige Erinnerung… „Schwebe sacht und singe lange mir, sterbender Schwan, du, schöne Rückerinnerung“, sagt Petöfi.
Wenn man sich heute über den höllentiefen Unglücksschacht Ungarn beugt: Totenstille! Die Literatur ist mit anderem „revolutionären Schutt“ beseitigt worden. Kaum daß einige noch mit den alten Flügeln zu schlagen versuchen und wagen. Aber die alten Töne klingen nun anders, falsch… Die MaUngarische Avantgarde-Zeitschrift (1916-1926, davon ab 1920 in Wien erschienen) Materialien und Quellen: Júlia Szabó: ...-Richtung, Versuche einer kosmischen Erfassung der Welt, in der Technik des freien Verses, Nachahmung der dadaistischen Bestrebungen, der der Proletarierdichter Bela Revesz[5] schon lange vorgearbeitet hat, hält sich in der Verbannung unter der Führung Ludwig Kassaks[6] hat aber kaum ein Hinterland. In der Muschel tönt das Meer nach! Die Literatur der Revolution gemahnt daran, daß eine Bewegung, die einmal einen solchen Überbau gehabt hat, nicht niederzukämpfen, daß sie eine eherne Notwendigkeit ist.
In: Arbeiter-Zeitung, 20.9.1926, S. 6.
[1] [Orig. FN]: Auf neuen Gewässern, deutsch von Franyo und Gerald (E. P. Tal-Verlag, Wien). Von der Ex zum Ozean, deutsch von H. Mahner (Moritz-Perles-Verlag, Wien).
[2] [Orig. FN]: E. P. Tal-Verlag
[3] [Orig.FN]: Der Storch-Kalif, deutsch von St. I. Klein. (S Fischer. Berlin).
[4] [Orig.FN]: Gold im Kot (Ernst Rowo[h]lt-Berlag, Berlin).
[5] [Orig.FN]: Ringende Dörfer; Deutsch von St. J. Klein.
[6] [Orig.FN]: Ludwig Kassak: Ma-Buch, deutsch von Andreas Gaspar, mit einem Vorwort vom Übersetzer (Sturm-Verlag Berlin)
Eugen Hoeflich: Literatur
Eugen Hoeflich: Literatur (1918)
Als ich sah, daß aus diesem Kriege doch nicht das das Schreiben hindernde Schamgefühl, das dem letzten Erkennen der eigenen Relativität entfließt, geboren wurde, zog ich mich gerne und leichten Herzens von den Kreisen der „Talentierten“ vollends zurück, ging weg, und nahm mir vor, nichts zu lesen und das Theater zu meiden. Ich versuchte zu übersehen, was ich nicht mit mir in Verbindung bringen wollte. Diese neuen Monate, die ich fern aller Literatur und ihrer Mache an der Grenze der Wüste verbracht habe, gaben meinem Entschlusse Recht, denn ich erkannte, dem Leben näher als je, daß nichts berechtigt ist, zu sein, das seine Existenz auf künstliche Affekte stellt, denen nie und nimmer Taten entbluten können. – Vielleicht bin ich zu unliterarisch, daß mir im Anfang nicht das Wort, sondern die Tat war, daß ich als Kind den Mond wollte oder den Tod des Hundes, der mich anbellte und mich weigerte, Surrogate für Mond und Tod entgegen zu nehmen. So kann ich es auch nicht über mich bringen das Hantieren mit Unsicherheiten, Gefühlchen und unklarer Sehnsucht als Literatur zu werten, wo verschlagene Erotik oder aller Grandiosität bare Ruhmsucht Hintergrund ist. Ich sah, daß die der Dichtung notwendige Ekstase nichts anderes ist als Hysterie im ekstatischen Gewande, Assimilationsfähigkeit und Werten der Konjunktur. Nun erkenne ich die ungeheure Distanz, die die Literatur dieser Tage von Kunst einnimmt, von dem gewissen Gesetzen unterworfenen Ausdrucke eines formenden Willens.
Literatur darf nicht außerhalb des Lebens stehen, sie muß ein ehrliches inneres Parteinehmen sein, subjektiv bis ins Letzte – Objektivität ist ja unmenschlich –; Literatur muß Forderung sein, Wille, Ekstase und Weg.
Als ich unten in der Wüste den Entschluß faßte, mich gegen die Götter meines Volkes zu stellen, um dem alten Gott der Wüste, dem Gott der Tat, den Tempel wieder zu bereiten, glomm in mir die Erkenntnis des Lebens auf und ich erfaßte was mir europäische Kultur zu erfassen verwehrt hatte: die Unbedingtheit des Lebens und aller seiner Äußerungen, die Bahn und die Forderung, das Ziel und die Tiefe, den Weg der lodernden Inbrunst, aktives Fordern im Wunsche der Tat, die aus dem Herzen quillt; der Konzentration der Gefühle zum heischenden Wunsche entschwand sich mir das Erkennen der steten Bewegung nach einem Ziele, die feind ist der Trägheit des Herzens und des Gehirns, und ich glaube nun, daß das nur lebenswert ist, was Fließen ist, aktives Fließen, aktiver Wille, Forderung, die zwingt und durch Innerliches erzwungen wird.
Wenn ich mich auch nicht als Europäer fühle, sicher meines asiatischen Blutes, dem der große Geist Asiens stets Ziel des Suchens war, trotzdem ich auf dem Wege meines Volkes mein Absolutes gefunden habe, auf dem Wege, dem die endgültige Richtung nach dem Asien der Propheten und Juda makabis, dem Asien der wirklichen Liebe und des ehrlichen Hasses, der großen und konsequenten Gefühle zu geben mir Pflicht ist, trotzdem bin ich der deutschen Literatur zu dankbar, um es nicht als unerträglich zu empfinden, daß sie, trotz vieler Mätzchen im Hafen der stillen bürgerlichen Herzensträgheit vermodert. Mein Wunsch für sie ist: Schreie, Toben, menschliche Frohheit, die den Tod mit dem Leben überwindet, Entschlüsse, Leben, Leben und weniger Proklamationen des Wortes. Solche Dichter wünsche ich Deutschland.
Dazu aber glaub ich müssen erst Menschen kommen, die nicht Begeisterung mit Ekstase und nicht Wünschen mit Wollen verwechseln.
In: Das FlugblattLiterarische Zeitschrift, hg. von Oskar Maurus Fontana und Alfons Wallis, die in unregelmäßiger Weise, d.h. etwa viert.... Hg. von Oskar M. Fontana und Alfons Wallisgeb. am 1.9. 1898 in Wien - gest. im Sept. 1969 in New York; Herausgeber, Lyriker, Musikschriftsteller, Exilant Wallis ..., H. 3/März 1918, S. 12
Paul Hatvani: Hermann Broch. Die Schlafwandler.
Paul Hatvani: Hermann Broch. Die Schlafwandler. (1932)
Mehr als jede andere Kunstform ist der Roman geeignet, den … „Stil“ der Zeit zu enthüllen; das epische Weltbild wird nachgerade zum Schema, dem wir unsere Welt-„Anschauung“ zugrunde legen… Gewiß ist zum Beispiel das Œuvre Thomas Manns ein geistiges Bildarchiv der bürgerlichen Welt im Zeitalter des Spätkapitalismus, und die psychische Revolution der letzten zwei Jahrzehnte ist in den Romanen des Marcel Proust und James Jyoce festgelegt. Unsere Epoche der Umwertung hat auch formal an den Roman gerührt; nicht mehr die kunstvoll aufgebaute „Handlung“ ist wesentlich, sondern die geistig-orientierte Durchleuchtung der Situation, die ins Denken gesteigerte Darstellung einer Wirklichkeit, aus der sittliche und künstlerische Erkenntnis quillt. Im Fieber des Expressionismus zeigten sich Ansätze zu dieser Wandlung; es sei hier an Carl Einsteins heute schon vergessenen Roman Bebuquin erinnert und an Sternheims Novellenzyklen. Der neue Stil im Roman ist aber eigentlich noch nicht da; wir ahnen seine Formen, wissen seine Ideen und erkennen bereits seine menschliche Sendung: das Weltbild dieser Gegenwart in eine deutbare Ordnung zu bringen… Das ganz außerordentliche Werk des Österreichers Hermann Brochgeb. am 1.11.1886 in Wien - gest. am 30.5.1951 in New Haven CT, USA; Schriftsteller, Kritiker, Industrieller, Exilant D..., das in diesem Zusammenhange als bedeutsam genannt sei, heißt mit tieferem Bedacht Die Schlafwandler (Die Schlafwandler, drei Bänder, davon zwei bereits erschienen: 1888, Pasenow oder die Romantik und 1903, Esch oder die Anarchie, beide im Rhein-Verlag, München). Es wird hier mit ganz ungewohnter Sachlichkeit versucht, die Tragik des deutschen Menschen zu schildern; nicht immer nur das äußere, also das politische Geschehen wiedergeben zu können –, sondern in einer erschreckend-überwirklichen Nachzeichnung der Gedanken und Gefühle. Hier ist nichts Symbol und alles Symptom. Hier geht es nicht gegen die „herrschenden Klassen“ und gegen die Köpfe; hier handelt es sich um Hirn und Herzen. Die Vorstellungswelt des deutschen Volkes seit 1888 ist wiedergegeben, mit einer Sachlichkeit, die jedes politisches Vorurteil endgültig ausschließt. Die Erkenntnis, daß nicht das Wirken der Sichtbaren, der „Prominenten“, das Schicksal der Nation bestimmt, ist gewiß banal genug, um unerwähnt zu bleiben; wo aber wird das alltägliche Leben, so wie hier, in den Kreis der Entwicklung eingeschlossen, um mit mathematischer Präzision den Weg der Geschichte zu weisen? Hermann Brochs Roman hat nur ganz wenige Figuren und es geschehen die große Dinge – Tod, Liebe, Verbrechen, Entsagung – nur ganz nebenbei. Wesentlich ist, was diese wenigen Menschen denken und fühlen und wie weit dieses Denken und Fühlen in die Realität zu wirken imstande ist. Oder eigentlich: wie es die Wirklichkeit verändert, verschiebt, verdrängt; was aus dieser höchst problematischen Wirklichkeit wird, wenn sie eben so (und nicht etwa mit der Unbeschwertheit romantischer Völker) erblickt und erlebt wird. Letzte, schwerste Konsequenz aus der volkstümlichen Verflachung, die Schopenhauers „Welt als Vorstellung“ im 19. Jahrhundert erleiden hatte müssen: in diesen Köpfen ist die Realität bereits ganz identisch mit dem eigenen Ich. Was geschieht, ist Fatum und der Verstand kann bestenfalls ordnen, erklären, warnen. So wird das Leben dieser überaus passiven Helden, Pasenow oder Esch, der pommersche Junker und der rheinländische Kleinbürger, den Gesetzen der Träume untertan; aber dieser Traum der Schlafwandler ist das Leben selbst. (Den halben Weg ging einst Alfred Kubin, der große Zeichner, in seinem Roman Die andere Seite!) Zu diesem Werk Hermann Brochs, der uns in das Jahr 1918 führen wird, [wird] noch manches zu sagen sein. Es steht aber schon heute fest, daß man es nicht wird übersehen können, wenn von der Art des neuen Romans die Rede ist: ich halte es für den entscheidenden Wendepunkt. Ein neues Ethos kündigt sich an; und vielleicht zum ersten Mal im deutschen Roman: die endgültige Überwindung jener Psychologie, die nicht aus der Seele, sondern von Dostojewsky stammt.
In: Moderne Welt. H 6/1932, S. 40.
Fanny Harlfinger: Die „Wiener Frauenkunst“ und ihre Ziele.
Fanny Harlfinger: Die „Wiener Frauenkunst“ und ihre Ziele (1926)
Die im Herbst des vorigen Jahres im Künstlerhause veranstaltete Ausstellung Deutscher Frauenkunst hat als dauernde Frucht gemeinsamen Wirkens die freie Arbeitsgemeinschaft „Wiener Frauenkunst“ entstehen lassen.
Die Wiener Frauenkunst will nicht in den starren, überlieferten Formen einer Vereinigung arbeiten. Nur ein kleiner Kreis von Künstlerinnen aller Zweige wird als ständiger Arbeitsausschuß die Gelegenheiten zu künstlerischen Veranstaltungen ermitteln, diese vorbereiten und dann für jede der sich bietenden Aufgaben die geeignetsten Kräfte um sich versammeln. Dabei sollen nicht etwa nur Ausstellungen veranstaltet werden. Schon der Rückblick auf die freilich erst recht kurze Zeit unseres Bestandes läßt erkennen, daß uns das Feld für fruchtbare künstlerische Tätigkeit viel umfassender erscheint. Die Vorführungen historischer Frauenkleider in Gegenüberstellung mit modernen Gewändern im Künstlerhaus und in der Secession beweisen dies ebenso wie unsere Teilnahme an der Weihnachtsschau der Oesterreichischen Frauenorganisationen, in deren Rahmen wir die Abteilung. „Der gedeckte Tisch“ veranstalteten.
Wir wollen modern sein, in erster Linie in dem Sinne, daß wir darunter enge Verbundenheit mit dem Leben verstehen. Die Kunst unserer Tage steht dem Leben und seinen sichtbaren Äußerungen noch immer recht fremd gegenüber; sie durchdringt es nicht, wie es die Kunst früherer Zeiten tat. Hier die zerrissenen Fäden wieder anzuknüpfen, dazu wollen wir helfen. Und dazu fühlen wir uns gerade als Frauen besonders berufen, Denn abgesehen von den beruflich hergestellten Dingen geht ja das Allermeiste dessen, was unserem Heim und darüber hinaus unseren äußeren Lebensformen das Gepräge aufdrückt, aus Frauenhänden hervor. Aber // wie geschickt und fleißig diese Hände auch sein mögen, wie wenige Früchte ihrer Tätigkeit stehen doch auf künstlerischer Höhe! Und daneben wieder lebt eine Fülle von Ideen in den Köpfen unserer Kunstgewerblerinnen, ohne sich entsprechend ausleben zu können. Hier die fehlende Verbindung herzustellen, soll mit eine der wichtigsten Aufgaben der Wiener Frauenkunst sein und gerade hierbei erhofft sie die wertvollste Unterstützung von Seite der Zeitschrift, deren erste Nummer hie[r]mit in die Welt hinausgeht.
In: Die Moderne Frau, H. 1/1926, S. 10-11.
Max Ermers: Rhythmical art.
M. E.[rmers]: Rhythmical art (1924)
Die letzte Ausstellung der Cizek-Schule
In Wien gibt es eine berühmte Kunstschule, die in hohem Maße die Anerkennung des Auslands gefunden hat. Sie zeigt gerade ihre Resultate in einer Ausstellung, die in allen Städten Nordamerikas zirkuliert und dort unter dem Schlagwort „Rhythmical art“ den Beifall der Pädagogen und Künstler findet. In Österreich hat sich diese Schule noch nicht durchsetzen können, obwohl die gesamte Reform des Zeichen- und Werkunterrichts in den Wiener Volks- und Bürgerschulen auf sie zurückzuführen ist. Dem Abbau der staatlichen Schulreform soll nun auch sic zum Opfer fallen, jene Schule, die unter den geistigen Gütern, die Österreich aufzuweisen hat, zu den aktivsten gehört. Innerhalb weniger Wochen der zweite krasse Fall des Mißverständnisses an der Kunstgewerbeschule. Erst ekelte man Hanak, unseren größten Bildhauer hinaus, nachher löste man die Schule Cizek auf und machte ihn selbst zum Lehrer an der Taferlklasse der Anfänger.
Gewiß Cizeks Wirksamkeit ist nicht ganz leicht zu begreifen, und es gehört schon ein gewisser Scharfblick dazu, pädagogische Arbeit des Unermüdlichen in allen Konsequenzen zu werten. Dem oberflächlichen Besucher und vielleicht auch dem mißverstehenden Direktor der Kunstgewerbeschule mag dies alles als ein Sammelsurium aus Abstraktionismus und russischem Konstruktivismus, aus italienischem Futurismus, Bela Uitz, Itten, Peche und Katharina Schäffer erscheinen. Vermehrt um gewisse Formelemente des Weimarer Bauhauses, vielleicht auch der Negerplastik. Aber eine solche Auffassung wäre mehr als einseitig. In Wirklichkeit ist es Cizek daran gelegen, die Kräfte und Formtalente, die nun einmal in der Jugend ausnahmslos stecken, durch Versenkung in die Eigenart der Schüler eigenartig zu entfalten. Und da Cizek nun einmal ein ganz moderner Mensch ist — dessen Schüler auch Kinos und Bars und Tanzräume mit Separees entwerfen dürfen—, so versagt er ihnen nicht geistige Anleihen bei den kongenialen Maschinisten, Kinetikern und
ähnlichen Völkern des europäischen Kunstbereiches. Alle diese Schulen haben eben noch ihren Beitrag zur Entwicklung unserer neuen Formsprache geleistet, und wer in der Gegenwart und nächsten Zukunft lebt, kann sich ihren Einwirkungen nicht entziehen. Und der Erfolg spricht ganz dafür, daß Cizek am rechten Weg ist. Was er aus den //Schülern herauszuholen versteht, ist einfach unerhört, und wenn sich auch manchmal der Most ein wenig allzu ungebärdig gebärdet, zum Schluß wird doch daraus ein klarer Wein. Und noch eines: nichts von diesen Dingen, die die Jahresausstellung der Schule zeigt (1. Bez., Fichtegasse 4), ist für die Ausstellung gedacht und berechnet; alles für lebendige Räume des täglichen oder festlichen Lebens, wo sie mehr als Dekorationen und Stimmungsauslöser denn als selbständige Kunstwerke wirken. Dies übersehen die Widersacher — und dies ist vielleicht Cizcks größtes Verdienst.
My Ullmann, eine der Begabtesten der Schule, ist eigentlich eine geborene Innendekorateurin. Eine, die es versucht, tiefinnere Erlebnisse in Farben und Formen abstrakt zu komponieren. Das kühle Blau der Abgeklärtheit, das Grün der Jugend und das heiße Rot der Sinnlichkeit dominieren in ihrem Fries, der mit seinen Kurven und Geraden und aufgesetzten Kartonnagen und Objektreminiszenzen die meisten sprachlos machen wird. Natürlich wird das Ganze — als Wanddekoration eines Festraumes, übertragen in glasierten Ton oder anderes solides Material — eine ganz andere Wirkung ausstrahlen. Der jungen Künstlerin selbst wäre solche klärende Anpassung an die Realität nur allzu sehr zu wünschen.
Otto Erich Wagner geht in seiner New Yorker Bar als Zentralbau, der von Bühne und Tanzboden an bis zu den Salons particuliers alles enthält, was des Lebemenschen Herz ergötzt, dem Problem nach, durch Architektur Stimmungen zu erzeugen. Seine Kollegin Erika Klien hat den Hauptraum mit kinetischen Studien nach Tänzerinnen geschmückt, deren vielfach wiederholte, vibrierende Umrisse die Sensationen des erlebten Tanzes nachzittern läßt. An und in den Wänden bringt sie Metopen, Glasgemälde und Friese an, kaleidoskopartig in starken Farben, gegenstandslos zusammengewürfelt, nicht ohne Rausch- und Taumelwirkung. Grotesk, aber packend und aufregend ihre Plakatsäulen. Originell ihre futuristisch tanzenden Reklameaufschriften. Weniger einleuchtend ihre Kompositionen aus Holz, Stanniol, Draht, Reißnägeln usw., stark nachempfunden und den Stempel des Nicht-so-gemußt-Seins allzu deutlich an der Stirne tragend. Walter Harnisch zeigt Bühnenbilder für Stücke von Karl Kraus und sonstige Theaterdekorationen, denen man phantastische Wirkung nicht absprechen kann. Ahuwa Jellin, eine Palästinenserin, wirkt unter den berauschten Jünglingen und Mädchen dieser Schule beinahe wie eine Klassikerin. Ihr großer Gobelin ganz gegenständlich — orientalische Städtearchitektur —, wenn auch in der Zeichnung außerordentlich vereinfacht. Elisabeth Karlinskys Plastiken sind nicht ganz so abstrakt wie die Werke der anderen. Immer blickt noch der Ausgangspunkt der Natur durch die kinetische
Transfiguration. Ihre „Heiligung des Menschen“ ist nicht ohne Schönheit und Weihe. Gerta Hammerschmid und Schachner versuchen sich im Gipsschnitt, Foges in Wanddekorationen, Hans Domenik in plastischen Experimenten kinetisch-halbabstrakter Art.
Nicht alles natürlich ist gleichwertig in dieser Ausstellung der Zwanzigjährigen, die ohne Ausnahme mehr den Kräften, den Bewegungen, den Gefühlsgehalten der Dinge nachgehen, denn ihren äußeren Formen. Eine außerordentliche Lebendigkeit dieser Kunstwerke, in denen es von Strahlen, Kreisen, Durchdringungen, Wirbeln usw. nur so wirbelt, ist die Folge. Und man fühlt, mit welch unendlicher Lust hier die Schüler am Werke waren.
Diese Ausstellung der Cizek-Schule wird aller menschlichen Voraussicht nach die letzte sein. Nach vierjähriger Tätigkeit— eben als die ersten Erfolge zutage traten — hat die Kunstgewerbeschule des Bundes diese hoffnungsvolle Blüte geknickt. Es darf mit Fug und Recht angenommen werden, daß sich die Gemeinde Wien, respektive ihr Stadtschulrat die Gelegenheit nicht entgehen lassen wird, die bedeutende Kraft Franz Cizeks nunmehr in ihre Dienste zu nehmen.
In: Der Tag, 2.7.1924, S. 6.
Paul Hatvani: Wir haben keine Zeit!
Paul Hatvani: Wir haben keine Zeit! (1918)
Wir haben keine Zeit. Wir sind Jugend. Jugend dauert nur zehn oder bestenfalls zwanzig Jahre. Diese kurze, schmerzlich-vergängliche Zeit ist da: Wir dürfen sie nicht unnütz vergeuden!
… Jugend ist Geist: Nachher bleibt allenfalls ein soziologisch-orientiertes Bewußtsein als Erinnerung. Jetzt aber sind wir im Stande, die beglückende Gleichung „Jugend = Zeit“ mit dem entscheidenden Gleichnis „Geist-Tat“ zu ergänzen. Dieses Ganze ist uns Welt und Weltanschauung, Sendung und Beruf.
Wir haben keine Zeit. Daher ist jedes Ornament überflüssig. Nicht mehr vor Metaphern beugen wir uns, sondern vor den Erscheinungen und Ereignissen dieser Welt. Zwischen dem „Ich bin“ des wachen Bewußtseins und dem Echo „Nihil“ der Welterkenntnis suchen wir unsern Sinn in menschlicher Hast. Die Schuld, müde zu werden, bedrückt uns. Der Geist darf nicht ermüden; sein erstes Gebot heißt Pflichtbewußtsein!
Das Pflichtbewußtsein des Geistes nimmt uns alle Zeit weg. Es erzwingt die eiserne Ökonomie der Form. Unsere Form ist die Forderung, die Formulierung, das Manifest! Der Inhalt – sind wir selbst. Wir, die Jugend des Geistes; wir, der Geist in dieser Zeit unendlicher Bedrängnis.
Wir sind die Besinnung. Wir fühlen, was wir denken. Wir denken, was wir fühlen. Das Gleichgewicht zwischen Gedanken und Gefühlen hält uns schwebend aufrecht über den Leichenfeldern dieser Zeit – – –, die wir nicht haben!
Wir haben keine Zeit. Wir versuchen nur, uns eine neue zu verschaffen. Aus den Ruinen der Gegenwart den Geist zu erretten, ist unsere Aufgabe. – Wir wollen ihn in eine neue Zeit, in eine bessere Zeit hinüberretten!
In: Das FlugblattLiterarische Zeitschrift, hg. von Oskar Maurus Fontana und Alfons Wallis, die in unregelmäßiger Weise, d.h. etwa viert.... Wien, März 1918, S. 11
Oskar Maurus Fontana: Programmatisches
Oskar Maurus Fontana: Programmatisches (1918)
Gedichte? Dichtung? Ja! Gedichte! Dichtung! Diese Hefte Bekenntnis zum Dichter. Und weil, was Dichtung ist, schon ganz fremd ist, ein verlogener Begriff wurde, bei dem sich kein wohlerzogener Mensch etwas denken kann, schütteln alle klugen Leute ihre studierten Köpfe: im Krieg Gedichte?! Aber diese Weitläufigkeit, die von allen Schüsseln gekostet und gegessen hat, ist nicht Maß, ist nicht Ziel. Ihr wurde zur Gewohnheit, Dichtung als Ornament zu sehen, als den Luxus des Geistes. Die Dichtung diente als geschmückter Paravent, hinter dem die Schieber der Zeit sich verbargen und ihre dunklen Ehrengeschäfte besorgten. Und solche, die Dichter genannt wurden und werden, machten willig die „Mauer“ dem Wandschirm. Das war, ist Kultur, ist aber nicht Dichtung. Dichtung ist das Wahrhaftigste der Welt und der Dichter ist der menschlichste Mensch. Sie schleichen sich nicht an die Dinge, sie sind in den Dingen, sie sind hinter den Dingen. Sie sind die wirklich Wirklichen. Jede andere Wirklichkeit wird vor der ihren Staub. In der Flucht der Zeit sind sie die Retter des Ewigen, in dem Gemetzel der Gewalten sind sie die Stimme der Gerechtigkeit. Kein Politiker, kein Feldherr, nicht einmal der Mystiker kommt ihnen gleich. Wo der und der vor der Forderung des Tages erliegt, wo dieser im Erkennen ertrinkt, ist der Dichter Führer zur Seligkeit, ist er der unbedingt Tätige. Ja, indem der Dichter die Landschaft anschaut, wird er schon revolutionär gegen diese Kultur, deren Gefräßigkeit Kriege bracht. Der Dichter ist das Auge, der Mund, der Geist einer Erdteile umspannenden Menschheit. Der Dichter tut, wie das russische Volkslied sagt:
Sang so schönen Sang der Greise,
So gewalt’ges Lied der Alte,
Daß anfing das Meer zu lauschen,
Daß die schäum’gen Wogen lauschten
Und die tiefen Ströme lauschten
Und auch lauschten selbst die Ufer;
Sang so schönen Sang der Greise,
So gewalt’ges Lied der Alte,
Daß die gelben Ufer neigten
Sich das eine zu dem anderen.
[…]
Dieses Tun ist nicht Ornament, ist nicht Luxus, ist tiefste Notwendigkeit. Daß es mißkannt, verworfen, verraten werden konnte, ist kein Beweis gegen die Dichtung, nur einer gegen schwache Dichter und vor allem einer gegen das Sein heutiger Gemeinschaften, weil sich dadurch ihr Parasitäres herausstellt, ihr alles Wirkliche überwuchernde Schmarotzerhaftigkeit.
Gewiß, wir werden nach dem Krieg den Politiker brauchen, aber nicht minder in einer ganz veräußerlichten Zeit den Dichter, dessen Weg von Innen zur ganzen Welt führt.
Wieder das Gefühl für Dichtung, für den Dichter zu wecken, ihre verantwortungsvollste Gewissensnotwendigkeit zu zeigen – das ist Ziel des Flugblattes (mit sehr bescheidenen Mitteln.) Man zweifle die Qualität des Gebotenen an – schön, damit kann man sich auseinandersetzen – aber man sage nicht höhnisch: In dieser Zeit Gedichte?! Oder man sage es, aber bleibe dann hübsch bei seiner eigenen Schäbigkeit und spiele nicht weiter den Freund der Künste.
In: Das FlugblattLiterarische Zeitschrift, hg. von Oskar Maurus Fontana und Alfons Wallis, die in unregelmäßiger Weise, d.h. etwa viert..., Wien: III/März 1918, S. 11
Dr. Max Ermers: Jungrussische Kunstausstellung
Dr. Max Ermers: Jungrussische Kunstausstellung. (1924)
Seit einigen Tagen gibt es bei uns eine russische Kunstwoche. Ein Ereignis, das uns zwingen sollte, aufzuhorchen. Und während um die de jure-Anerkennung der Sowjetregierung bei uns noch lebhaft gefeilscht wurde, hielt die neue Kunst Rußlands bereits ihren Einzug: ein jungrussischer Autorenabend, ein russischer Musikabend, eine russische Kunstausstellung. Ein Vortrag Fannina Halles, einer der Wortführerinnen der nachrevolutionären Moskauer Kunst. Heute werden wir sogar Wassilji Kandinsky, derzeit Professor am Weimarer Bauhaus, sehen und sprechen hören (im Österreichischen Museum). Soweit es sich also um die Niederreißung geistiger Blockademauern handelt und um die Möglichkeit, den Horizont nach Osten zu erweitern, haben wir alle Ursache, der Initiatorin, der Gesellschaft zur Förderung moderner Kunst in Österreich, zu danken.
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Wir betreten die Säle der Ausstellung (1. Bez., Grünangergasse 1). Hochgespannt und voll Erwartung. Manifeste rauschen uns entgegen. Gemalte, gegossene, gezeichnete, gedruckte Manifeste. Jedes erzählt uns vom Tod der alten Kunst, der Barschui-Kunst. Die Sowjetkunst beginnt. In Kandinsky hat sie eigentlich vor dem Kriege schon begonnen. Die Welt der Gegenstände war eine bürgerliche Angelegenheit. Menschen, Bäume, Tiere, Berge und atmosphäre Objekte der absterbenden Bourgeoiskunst. Nur Farbflecke, einfach geformte oder sonderbar gestaltete, oder Linien, steife und geschwungene, haben Daseinswert im Bilde. Alles natürlich in Proportion, Relation und sogenannte Harmonie gebracht. Voll von Rapports, die man bei Cézanne bezog. Ideenassoziationen, die an Farben und Formen anknüpfen, halfen mit, eine neue Gefühlsatmosphäre im Beschauer zu schaffen, zu ermöglichen, zumindest vorzubereitcn. Kandinsky schrieb damals sein berühmtes Buch vom Geistigen in der Kunst.
Neben mir steht vor einer Komposition Nr. X Kandinskys ein junger Maler und meint: „Ja, so fühle ich es selbst manchmal, wenn ich am Diwan liege und in die Physiologie meines Leibes hineinschaue. Man braucht dann nur die Hand auf der Leinwand laufen zu lassen und die Bilder entstehen von selbst. Physiologische Explosionen.“ — „Ich kann es nicht so sehen.“ Meint ein anderer, „ich sehe ganz deutlich Reminiszenzen von Feldern aus dem Gemälde, den gelben Mond und Bruchstücke grüner Bäume. Es ist eine Landschaft“ — „Sie können es auch so betrachten,“ meint eine hochgewachsene Dame, die eben aus Rußland zurückgekehrt ist, „ich aber sehe in dem Bild — jenseits von allen Bruchstücken und Resten der Gegenständlichkeit— die Stimmung eines Winternachmittags bei Twer, knapp nach Sonnenuntergang. Man ahnt beinahe schon den jungen Frühling. Aber darauf kommt es eigentlich nicht an; das Schöne in diesen Bildern ist, daß jeder dabei denken oder fühlen kann, was er will.“ Worauf ich prompt an die alten, verwitterten, zerklüfteten Mauern Lionardos denke, deren Betrachtung er um der Anregungen der Phantasie willen seinen Schülern so angelegentlichst empfohlen hatte. Unmöglich natürlich, hier sämtliche Meinungen und Auffassungen der Adepten zu notieren, die bei den häufigen Kontroversen vor Kandinskys Bildern auftauchen. Schwärmt der eine von einer neuen Musik auf der Leinwand, so vergleicht der nächste sie mit der maurischen Ornamentik, die ja auch geometrisch — gegenstandslos ist… Die meisten Besucher aber sind so ehrlich einzugestehen, daß sie zu diesem abstrakten Chaos keinen Zugang finden.
In alledem, was dir Augen der Gläubigen in diesen zum Teil wirklich fesselnden, aber nicht mit überzeugender Kraft aufgebauten Bildern Kandinskys herauslesen, steckt natürlich ein gewisses Wahrheitsgehalt. Zu überschwenglichem Bekenntnis ist aber keinerlei Ursache vorhanden. Um höchst individuelle Angelegenheiten handelt es sich hier, halb aus dumpfen Trieben, halb aus stammelnder Wissenschaft geboren. Verwandt organisierten Geistern mag wohl das eine oder andere der vieldeutigen Werke zur Quelle eines leichten Rausches werden. Für uns sind dies Experimente, nur verständlich aus der Kampfessituation der jungen Kunst aller Länder, aus dem Ringen um eine neue, stärkere, ausdrucksvolle Sprache. Experimente, die noch nicht sehr weit geführt haben.
El Lissitzky. Wie anders mutet uns dies Zeichen an. Ein Ingenieur, kein Maler. Er zeigt zehn Szenenbilder für eine futuristische Oper von Krutschonjch, die 1913 in Petersburg aufgeführt wurde. Damals mit Musik von Matjuschin, mit Dekorationen von Malewitsch. Lissitzky wälzt den Inhalt der Oper, die Sieg über die Sonne heißt, um; macht daraus ein physikalisch-mechanisches Schautheater. Unter Ausschaltung der Menschen, an deren Stelle Figurinen und plastische Schaukörper aus blankem Kupfer, stumpffarbigem Eisen, Glas usw. treten. Ein riesiges Gerüst von Schienen, Rippen, Traversen. Ständern, allseitig sichtbar, bildet die BühneGegründet 1924 durch den umstrittenen Zeitungsunternehmer Emmerich Bekessy, erschien die Zs. ab 6.11.1924 als Wochenzei...; eine Art Scenic Railway. Verschiebbar, dehnbar, drehbar, erhöhbar. Aus dem Gerüste laufen, rollen, kriechen, gleiten, fliegen die Schaukörper, gefolgt von Lichtstrahlenkegeln, Kometen gleich. Im Mittelpunkt des Gerüstes, an der Schalterzentrale, sitzt der Schaugestalter. Dirigiert mit Tastern die mechanischen und geistigen Kräfte der Erde, d. h. ihre Realisationen in den Schaukörpern. Er drückt auf die Taster und alle Beleuchtungseffekte der Welt stehen ihm zur Verfügung. Er drückt und es brüllt der Niagarafall, es tosen die Lawinen, es dröhnen die Hammerwerke, es gellen die Bahnhofsgeräusche von ganz Europa. Zu seiner Rechten steht das Radiomegaphon, zu seiner Linken sind die Apparate, die seine Stimme in die der Figurinen wandeln. Elektrische Riesensätze zittern in die Luft und verschwinden. „Eine andere Gegebenheit soll zustande gebracht werden“, schreibt der Künstler. „Die großartigen Schauspiele der Städte, die niemand beachtet, weil jedermann selbst am Spiele ist, müssen zur Schau gebracht werden, die elementaren Vorgänge der Welt zur höchsten Steigerung. Alle Energien müssen zur Einheit organisiert, kristallisiert werden. Die Sonne als Ausdruck der alten Weltenergie wird vom Himmel herabgerissen durch den modernen Menschen, der kraft seines technischen Herrentums sich eine eigene Energiequelle schafft.“
Liest man dieses Manifest, das in seiner Sonnenemanzipation des pathologischen Einschlages nicht entbehrt, so fühlt man die Sehnsucht einer neuen Ideologie: Rußland, ein neues Zentrum der Welt. Die thaumaturgische Maschine Grundlage einer neuen Religion. Sowjetgott-Vater, der Göttlichkeit beraubt, aber mit höchster Zentralgewalt bekleidet, sitzt als Schaugestalter am Zentraltaster der Welt. Enthüllt die unerhörten Erdkräfte, die Rußland für die Menschheit freigemacht hat (freimachen möchte). Rührender und gigantischer Fiebertraum des armen Rußlands, dem Kapitalmangel bei Entfaltung seiner großen Naturkräfte so völlig die Hände bindet. Lissitzky ahnt die neue Welt der Elektrozentralen, des Broadcasting, der Allernherrschaft der Kinos und der mechanischen Schautheater… Seine Visionen sind groß und man hätte Lust, dem ungeheuren Spektakel des „Sieges über die Sonne“ beizuwohnen. Aber seine Kunstwerke sind ärmlich und schwach, wie die Kräfte des erdenschweren Muschiks, der mit dem primitiven Pflug den Boden aufreißt. Seine Szenenbilder sind Stillleben aus Maschinenteilen und geometrischen Figuren, mit fragwürdigen Fragmenten aus dem Tagesleben gespickt: Sowjetsternen. Särgen, Schachteln, Ruderleibchen. Nur hie und da blinkt ein Funke von Genialität, nein bloß von Witz und Geist durch die intellektuelle Konstruktion Ganz abstrakt, quälerisch und voll Privatallüren erscheinen seine übrigen Arbeiten. Kreise, Quadrate, Rhomben und Rechtecke suchen sich in Relation zu setzen. Proportionsstudien. Farbstudien. Experimente.
Chagall, der Elegiker des russischen Dorfes; // durch die jüdische Brille gesehen. Ganz gegenständlich, zertrümmert er wieder seine Welt der Objekte, spielt Fangball mit den Bruchstücken. Wenn Chagall einen alten Handeljuden über die Dorfkirche fliegen läßt — mit viel Erdenschwere allerdings — so fühlen wir: so heimatlos flogen die Juden vor dem Kriege in Rußland herum. Viel Urgesundes, Russisches, Derbbäuerliches steckt in seiner Farbengebung. Aber vieles mutet uns nur als Spaß an; indessen es dem Maler sicherlich sehr zu Herzen geht. Zu seinem schwermütigen, russischen Maler-, Bauern- und Judenherzen. Auf der Ausstellung kommt Chagall leider nicht voll zur Geltung. Sein graphischer Zyklus Mein Leben gibt uns schwache Ahnungen seiner Kunst.
Von Archipenko ein paar Aktskizzen und Kleinplastiken. Die Zeichnungen könnten ganz gut von irgend einem Klassiker der Genelli-Zeit stammen. Seine eigentlichen Bewegungsstudien, geistreiche kinetische Abstraktionen, fehlen. Ein weibliches Torso-Figürchen, in der Tiefenachse zusammengedrückt und abgeflacht, zeigt ein paar interessante Linien, aber nichts vom eigentlichen Wollen des Künstlers. Das Übrige repräsentiert nur gutes Mittelmaß.
Resümieren wir: Viel Experimente, die für die Entwicklung der Kunst ihre kleinen Beiträge leisten werden. Besonders in der Richtung der Musikalität und der Architektur der Bildwerke. Aber keine irgendwie überwältigend großen Resultate. Maschinenromantik und Apotheose der Technik, Überwindung aller rückwärts gewandten Romantik. Opposition gegen die Welt der Gegenstände. Viel Wollen, hinter dem das Können weit zurückbleibt. Viel Sektierergeist. Elemente einer absterbenden, individualistischen und Elemente einer neuen, sozial eingestellten Kunstatmosphäre durchdringen sich. Europäisches und Russisches. Nicht unwichtig, zu erwähnen, daß alle diese Künstler eher in Paris, Berlin und Weimar anzutreffen sind, wie in Moskau.
In: Der Tag, 4.3.1924, S. 4-5.
N.N.: Der Heimwehrtag in Baden
N.N.: Der Heimwehrtag in Baden (1927)
Eine machtvolle Kundgebung. – Fortschritte des Selbstschutzes in Niederösterreich. – Nunmehr einheitliche Führung der Heimwehren.
Baden hatte gestern einen großen Tag. Die niederösterreichischen Heimwehren (Selbstschutzverband) hatten unter der Leitung des Majors Karz in dieser Stadt ihre erste große Kudgebung veranstaltet, an der Abordnungen der wehrhaften Organisationen aus allen Teilen des Landes teilnahmen. Die Veranstaltung stand unter dem Zeichen des gewaltigen Aufschwunges der niederösterreichischen Heimwehren. In der bodenständigen Bevölkerung, vor allem in der niederösterreichischen Bauernschaft, hat der Gedanke der Heimwehr feste Wurzel geschlagen. Das Bekennen der Bevölkerung zu den Heimwehren hat auch die Hindernisse beseitigt, die der Organisation des Selbstschutzverbandes entgegenstanden. Seit dem 15. Juli ruft die niederösterreichische Landbevölkerung nach den Heimwehren. Von welchem Schwung die Heimwehrbewegung getragen wird, zeigte die machtvolle Kundgebung in Baden.
Der Heimwehrtagung kommt besondere Bedeutung zu. Bisher litt die Bewegung darunter, daß ein Zuviel an Organisationen bestand, die zwar das gleiche Ziel anstrebten, aber nebeneinander arbeiteten und derart die Aktion schwächten. Dieser Übelstand hat aufgehört. Sämtliche Organisationen haben sich für den Fall, daß die Heimwehren aufgerufen werden, der Führung des Bundesrates Dr. Steidle unterstellt. Der bisherige alpenländische Selbstschutzverband hat sich zu dem österreichischen Selbstschutzverband erweitert, dem nun auch der Wiener, der niederösterreichische und der burgenländische Selbstschutzverband angehören. Die einzelnen Organisationen des Landes haben sich, sobald sie mit den Heimwehren gemeinsam operieren, dem Selbstschutzverband des betreffenden Landes untergeordnet. Diese Einigung wurde nun von Bundesrat Dr. Steidle in Baden verkündet.
Die BotschaftUntertitel: Neue Gedichte aus Österreich. Gesammelt und eingeleitet von E. A. Rheinhardt. Verlag Ed. Strache, Wien-Prag... wurde von allen, denen die Heimwehrbewegung am Herzen liegt, mit Jubel aufgenommen. Nun ist auch Gewißheit gegeben, daß die Heimwehren für alle Fälle gerüstet seien und eine Richtung einschlagen werden, die von der christlich-deutschen Bevölkerung gutgeheißen wird. Nun steht vor allem der Teilnahme der katholischen Männer und Jugend an der Heimwehrbewegung nichts mehr. im Wege. Im Gegenteil ist es Pflicht der Katholiken, der Aufforderung ihrer Organisationen Folge zu leisten.
Bei der Kundgebung waren von den Heimwehren erschienen Abordnungen aus den einzelnen Vierteln des Landes, aus Steiermark und Tirol. In stattlicher Zahl waren vertreten die christlich-deutschen Turner aus dem Viertel unter dem Wiener Wald (Führung Prof. Doktor Dinkhauser), der deutsche Turnerbund von Steinfeld, die Heimwehren von Baden, Mödling, Hinterbrühl, Liesing, Perchtoldsdorf, Schwechat, Wiener-Neustadt, Gloggnitz, Vöslau, Wolkersdorf, Mistelbach, Laa u. v. a., der Verband Deutsche WehrDeutschvölkischer, antisemitisch ausgerichteter Geheimbund, der z.T. von geflüchteten Angehörigen deutscher Freikorps..., der Verband Oberland, zahlreiche Burschenvereine, Schützen- und Kameradschaftsvereine und außerdem eine starke Gruppe von Frontkämpfern.
Unter den Festgästen sah man u. a.: die früheren Minister Kollmann, Dr. Rintelen, Dr. Mataja, die Abgeordneten Klieber, Kraus, Dr. Mittermann, Bierbaumer, Pichula, Dr. Reich, Zippe, die Organisationsvertreter Feldmarschalleutnant Weiß, General Lustig-Prean, Major Papst, General Kasamas, Ingenieur Wenzl, Obmannstellvertreter Scheffel, Hofrat Kupka, Präsident Kattinger.
Neben 2500 Mitgliedern der wehrhaften Organisationen stand Kopf an Kopf eine nach Tausenden zählende Menschenmenge auf dem großen Platz vor dem Kurhaus, wo Prälat Frim unter Assistenz eine Feldmesse las, bei der dle vereinigten Badner Männergesangvereine die Deutsche Messe von Schubert sangen. Nach erfolgter Einweihung von drei Standarten der Bezirksheimwehrverbände Wolkersdorf, Laa a. d. Thaya und Mistelbach begrüßte Minister a. D. Bürgermeister Kollmann in einer zündenden Ansprache die Tagung namens der Stadtgemeinde Baden. Er sagte:
Ein freies Volk kann nur bestehen, wenn es von fremdem Einfluß frei ist. Freie Männer vertragen nicht die Gewalt Fremder über sich. Uns in Österreich droht eine solche fremde Gewalt, die nicht Sinn hat für unser Volk und eine Knechtschaft aufrichten will über unser Volk, das Jahrtausende frei war. Ein Ruf hat Sie hiehergebracht, um Zeuge zu sein, daß nicht allein die anderen, sondern auch wir marschieren. (Lebhafter Beifall.) Ich begrüße Sie im Namen der rotumbrandeten Stadt Baden, die sie gerne haben möchten, die sie aber nie bekommen werden. (Neuerlicher Beifall.) Ich begrüße Sie und heiße Sie alle aus vollem Herzen willkommen.
Wiederholt von großem Beifall unterbrochen, führte Abg. Klieber aus:
Nicht reine Abwehr allein bilden das Ziel unserer Bewegung. Vor allem gilt es, unsere Jugend in positivem, vaterländischem Geiste zu erziehen und die Wehrhaftigkeit des deutschen Bürgers zu heben. Das ist kein müßiges Soldatenspiel. Unsere Bewegung richtet sich nicht gegen den Arbeiter, dem wir als Bruder die Hand reichen und dem wir aus den Fesseln einer wesenfremden Gedankenwelt, aus der Zwangsjacke einer angeblich freien Organisation befreien wollen. Welch unermeßlichen Schaden die hemmungslose Betätigung gewisser Elemente anrichten kann, in welchen Abgrund unsere Heimat stürzt, wenn nicht eine rettende Hand eingreift, das hat uns allen der 15. Juli klar und deutlich gezeigt. Wem die brennende Fackel des Justizpalastes noch immer kein Licht angezündet hat, dem ist nicht zu helfen. Nie wieder Umsturz! Nie wieder Zustände, wo ein Telegramm eines Unverantwortlichen genügt, das ganze Wirtschaftsleben Österreichs stillzulegen; nie wieder dulden wir, daß all jene, die nicht rot gestempelt sind, in ihrer Arbeit und in ihrer Bewegungsfreiheit gestört werden. Die Zeit, da man unser armes Österreich als zweites Bolschewikenland bezeichnen konnte, muß vorüber sein.
Auf legalem Wege, in voller Öffentlichkeit, im Rahmen unserer Gesetze spielt sich unser Handeln ab.
Heute ist es das erstemal, daß wir uns zu einer größeren Feier vereinigen, das erstemal, daß wir Gäste aus den Heimwehren der übrigen Bundesländer, die mit uns Schulter an Schulter standen, begrüßen können. Ich begrüße insbesondere den Bundesführer Dr. Steidle und Minister Doktor Rintelen. Unser Gruß gilt aber auch unseren gefallenen Kameraden, die im Krieg, unsere Heimat gegen eine Welt von Feinden verteidigt und in Ausübung dieser höchsten Vaterländischen Pflicht ihr Leben gelassen haben. Ihnen gilt unser Dank, den wir nicht besser erweisen können, als daß wir unseren toten Helden nachstreben in Treue, Tapferkeit und Vaterlandsliebe.
Abg. Dr. Mittermann erklärte, die Zeit des Schweigens ist vorbei, die Zeit der Tat hat begonnen. Er pries den großen Wahlerfolg im Bundesheer, das nun wieder anknüpfen will an die große Vergangenheit der alten Armee. Abg. Zippe begrüßte die Tagung im Namen des deutschen Turnerbundes.
Bundesführer Dr. Steidle, mit lautem Beifall begrüßt, führte aus:
Revolutionäre Bewegungen, die sozialen Umschichtungen entspringen, haben immer einen Druck oder soziale Versäumnisse der gerade herrschenden Kreise zur Voraussetzung gehabt. Auch in Österreich hat die fortschreitende Industrialisierung Bevölkerungsschichten geschaffen, die sich ihr gutes Recht auf angemessene Lebensbedingungen häufig genug erst im politischen und gewerkschaftlichen Kampfe holen mußten, weil große Teile des sogenannten Bürgertums nicht die Einsicht aufbrachten, den Notwendigkeiten einer neuen Zeitepoche aus freien Stücken Rechnung zu tragen. Mit den unerfreulichen Erscheinungen der heutigen Zeit büßen wir zum größten Teile die Sünden unserer Väter. Derartige sozialrevolutionäre Bewegungen haben aber das Gemeinsame, daß sie im Falle des Erfolges gewöhnlich über das Ziel schießen. Aus den Freiheitskämpfern werden selbst Tyrannen, die dann wieder denselben Fehler begehen, den sie ihren Gegnern vorgeworfen haben und die sie wegen der Tyrannei und Unterdrückung bekämpften. Sie rufen damit selbst wieder naturnotwendig eine Gegenbewegung hervor, die, wenn sie richtig geleitet ist, ein gesellschaftliches Gleichgewicht schafft, oder, wenn sie von unsozialen Leidenschaften beherrscht ist, ebenso ihre Bahn überschreiten und einen neuen Kreislauf von Verwicklungen hervorrufen wird.
Auch bei uns haben die führenden Kreise der Marxisten aus den geschichtlichen Erfahrungen nichts gelernt und Uebergriff auf Uebergriff gehäuft. Sie machten das, was sie an dem bekämpften „Bourgois“ bitter verdammten, in vergrößertem Stile nach, sie schickten sich an, die Herrschaft im Staate mit Hilfe der von ihnen geführten Masten zu ergreifen und die Diktatur einer Klasse mit allen Mitteln, auch denen der Gewalt, die sie in anderen Händen mit glühenden Worten verurteilten, allen anderen Gesellschaftskreisen aufzuzwingen. Aus den Freiheitskämpfern entwickelten sich ausgewachsene Tyrannen kleineren oder größeren Formats, je nach Charakter, Herkunft und Fähigkeit. Der Appetit wuchs täglich mit dem Essen. Und es hatte den Anschein, als ob gerade die österreichische Bevölkerung das geeignete Versuchskaninchen für solche Diktaturgelüste abgeben würde. Aber der immer mehr steigende Ueber-[ ] mit der unersättlichen roten Führerschaft erweckte den Unabhängigkeitssinn, das natürliche Freiheitsgefühl und die gesunden demokratischen Instinkte weiter Bevölkerungsschichten. Und als die unentwegte sozialistische Verhetzung am 15. Juli die lodernde Brandfackel in die Bundeshauptstadt schleuderte, ging ein vollständiges Erwachen durch die gesund gebliebenen Teile Österreichs. Die Abwehr der marxistischen Übergriffe durch Männer, die in der persönlichen und geistigen Freiheit das höchste aller irdischen Güter sehen, ist im Wachsen begriffen.
Angesichts der Hemmungen der verfassungsmäßigen Körperschaften mußten private Organisationen das Befreiungswerk in die Hand nehmen. Das waren und sind unsere Selbstschutzverbände, unsere Heimatwehren, die täglich wachsen und sich über alle Gaue des Vaterlandes ausbreiten.
Der auf Gewalt und Terror aufgebauten Herrschgier der roten Diktatoren muß ein Ende gemacht werden. Die Mittel der Abwehr richten sich ganz nach den Methoden des Gegners. An die Stelle der Klassenherrschaft einer einzelnen Bevölkerungsgruppe muß das soziale, das gesellschaftliche Gleichgewicht gesetzt werden, die Volksgemeinschaft. Der Weg dazu geht einerseits über die Abwehr und Beseitigung der roten Gewaltmethoden, anderseits über die Annäherung und Zusammenführung der sich haßerfüllt gegenüberstehenden Volksgenossen, über die Befreiung und Loslösung der verführten Arbeitermassen von ihren Vögten und über die Besinnung auf soziale Gerechtigkeit zum sozialen Interessenausgleich. Wir müssen um unsere Freiheit, wenn es sein muß, mit der Faust, mit Nägeln, und Zähnen kämpfen. Von Frieden und Versöhnung wollen wir reden, wenn der Gegner den ehrlichen Willen, von der Gewaltherrschaft abzulassen, nicht nur mit
gleißnerischen Worten, sondern durch die Tat bezeugt.
In: Reichspost, 17.10.1927, S. 5.