Alfred Polgar: Landstraße bei Wien

Alfred Polgar: Landstraße bei Wien (1919)

Häuserzeilen, dem Rand der Großstadt entwachsen, gespenstisch lang und fahl hingewunden, wie Triebe der Kellerkartoffel. Gewimmel von Menschen, die gehen, als hetzte sie Angst und hemmte sie Furcht noch Ärgerem. Vorfrühlings-Spätnachmittag. Eine kühle Sonne leuchtet den Häusern in das welke, rissige Gesicht. Sie werden je weiter ihre Reihe sich streckt, niedriger und kleiner. Die Straße duckt sich immer tiefer, kriecht in den Erdboden, verschwindet endlich ganz in Sand und zertretenem, entfärbten Gras.

            Hier entspringt die Landstraße. Das weißbestaubte, kilometerstein-gefaßte, Feld und Dorf und Städtchen und Länder aneinanderknüpfende Meßband, einst Reichsstraße geheißen. Der Krieg und seine letzte Schärfe, der Friede, haben auch dieses „Band“ gekürzt, zerrissen.

Die Berglehne mit den zahllosen Baumstumpfen gehört noch zur Stadt. Sie sieht aus wie ein heidnischer Friedhof: hier liegt der Wald begraben. Es ist Sonntag. Menschen mit Säge, Axt und Sack ziehen hinaus, Bäume schlachten.

            Die Landstraße schüttelt sie ab, läuft ihnen davon, strömt hin, weiß und einsam, endlich befreit von den trüben Abwässern des großen Menschenpferchs. Pappeln unbelaubt und winterdürr, bilden Spalier. Ein Stamm abseits. Wind streift seine Wipfel, macht ihnen schwanken. Es ist, als ob ein eben in den Boden gelandeter Riesenpfeil verzitterte.

            Schwarz-weiß-Flächen dehnen sich: aufgeworfene Ackerschollen, Schnee in den Furchen. Drüberhin Nebel, materialisierte Schwermut. Zwei Weiber, Tuchbündel auf dem Kopf, inmitten der Straße, eifrig Worte kauend. Ihre Unterhaltung ist am Ende so wichtig und wesentlich wie tiefsinnigste Debatte zwischen erleuchteten Gehirnen.

            Dorf. Die Landstraße schneidet mitten durch. Die Häuschen, zu beiden Seiten Platz machend, weichen ihr aus. Ein paar ganz ängstliche sind den Hügel hinaufgeklettert.

            Männer in bäuerischer Tracht, Gerätschaften huckepack, trotten daher, den Mund schief gezogen von der Pfeife. Sie blicken auf den Wanderer im städtischen Anzug, als ob sie ihn ganz gern totschlügen, wäre nicht fatalerweise gerade Schonzeit.

Ein Auto mit dick Bepelzten knattert sie auseinander. Die Pfeife wechselt in den linken Mundwinkel hinüber, die Augen folgen dem Pferdekräftigen böse, gefährlich. Wie die Mündung einer zielenden Waffe.

Der Autolärm hat Kinder herangelockt. Sie drohen mit der Faust, heben Steine, suchen angestrengt zumindest ein steinschweres Schimpfwort, das nachgeschleudert werden könnte. Früher haben die Landkinder einem so beweglichen, amüsanten, fremdartigen, Monotonie zerschneidenden Ding wie einem Auto zugejauchzt, ihm mit Händen und Mützen gewinkt. Heute reizt und ärgert es sie. Daß Menschen drin sitzen, verkleidet ihnen den Spaß an der lustigen, aufregenden Maschine. Kraft welcher Sendung oder Bestimmung sitzen diese Menschen drin?

Auch die Kinder haben schon gelernt, die Erscheinungen als Symbole der Macht oder der Ohnmacht zu deuten.

Vor dem letzten Haus der Ortschaft hocken zwei Alte, regungslos, Hände im Schoß gefaltet. Sie warten, daß es Abend wird. Das Beste vielleicht, was Menschen tun können. Weisheit und Stumpfsinn schließen hier die mystische Kette, darin alles Wollen eingeschaltet.

Die Landstraße läuft weiter, hinein in Nebel, Finsternis, Ferne. Zwischen Pappeln und Häusern, städtisch verkleidet durch Städte, über Brücken- und Bahngleise, bergauf- und -abwärts, rund um Berge, an Fabrikschloten vorbei, die Kohlenruß in den weißen Staub mengen, an Villen, Schlößchen, Gärten, ganz durchgesickert von gereinigter, destillierter, filtrierter „Natur“, an waldumrauschten Friedhöfen, wo das Totsein gar so viel Charme hat. Abendsonne färbt die dünn beschneiten Nadelwälder mit einem unwahrscheinlich süßen Rosa, an kolorierte Ansichtskarten erinnernd.

Einmal war Landstraßenwanderung Glück und Frohsinn, Phantasie dehnte den Weg ins Unendliche, nirgends stieß Flug der Seele auf sperrende Mauern, mit jedem Atemzuge reiner Luft zog in die Brust Gefühl grenzenloser Freiheit, die mit Sinnen zu schmecken ja nur ein geringes technisches Problem wäre.

Jetzt ist solch bescheidene Freude mit dickem Grau überpinselt. Die Landstraße hat etwas Gehässiges, Krankes, Verdrossenes. Frohsinn ist Verbrechen. Phantasie Verrat an den traurigen, armen Tatsachen. Freiheitssehnsucht egoistische Regung.

Und wenn der Spazierer, heimkehrend, auf die Schar der Kobolde stößt, die, von Stücken geschlachteten Waldes den Sklavenrücken krumm, daherstapfen, schämt er sich auch der melancholischen „Stimmung“, ja selbst des Mitleids.

Liegt solches Mitleid nicht wie Watte um sein Herz, abdämpfend den Schrei der gefolterten Welt?

Und ist Schwermut nicht ein Schlupfwinkel, sichernd vor den Hetzhunden der eigenen Seele?

In: Das Tage-Buch, H. 14/1919, S. 488-489.