Ludwig Kassák: Bildarchitektur

Ludwig Kassák: Bildarchitektur (1922)

             Bewegung ist Leben. Die ewige Bewegung des Lebens ist mit der ewigen Neuerzeugung und Erhaltung des Gleichgewichtes gleichbedeutend. Denn das ewig bewegliche Leben bedeutet letzten Endes nicht die Mannigfaltigkeit der Bewegung, sondern den Zustand einer aus der konstruktiven Bewegung der Weltkräfte sich ergebenden, immer neuen, mithin unendlichen Stabilität. Jede lebendige Konstruktion oder Organisation, deren innere Kraftbewegungen aus welchen Gründen auch immer stillstehen, fällt tot zusammen, verliert ihre dominante Gegenwart, ihr Symbolsein. Wir sehen also, daß der Exponent des Lebens die Bewegung, die Gesamtheit der Bewegung aber die Stabilität, das universale Leben ist. Auch der Mensch verdankt sein Dasein der Kraft der Bewegung: er wurde lebensfähig, mit beweglichen Kräften erfüllt, mitten unter die sich außer ihm bewegenden Kräfte als ebenfalls bewegliche Kraft versetzt. Und wir sehen im Organismus des Menschen den unaufhörlichen Kampf der physischen und psychischen Kräfte um den „normalen Zustand“, um das das Leben bedeutende Gleichgewicht, wie wir auch den Kampf der Revolutionen und Konterrevolutionen um das soziale Gleichgewicht sehen. Unser Zeitalter ist eine Periode der losgelösten und irren Bewegungen. Der Mensch unseres Zeitalters ist der verzweifelte Mensch. Die Kunst des heutigen Menschen ist die dynamische Kunst. Sie ist eine Bewegung, die zuweilen als Reaktion der Gegenbewegung, zuweilen als Bewegung um sich selbst willen auftritt. Diese Phase der Kunst wurde als Erfühlen des Lebens durch den Futurismus eingeleitet, fand ihre Fortsetzung mit gesteigerten ästhetischen Ansprüchen im Suprematismus und lebte zuletzt als aggressiv angreifende, ja eroberungslüsterne Kraft im Proun fort. In all diesen künstlerischen Bestrebungen ist noch alles um der Bewegung willen da, ihre Farben- und Formgesetze bedeuten die Gesetze der Bewegung, die Bewegung als Element des Schaffens und nicht das Schaffen selbst. Statt Synthese Analyse. Aber Kunst ist Schaffen, sie ist Synthese der konstruktiven Bewegungen, ein neues Gleichgewicht in der großen Lebensdynamik als Dokument dessen, daß wir mit unserem Willen und Sicherheitsgefühl zur Erzeugung eines neuen stabilen Punktes da sind. Auf die Suche nach diesem stabilen Punkte zog der Kubismus aus. Er verlor sich in seinen kompositionellen Doktrinen, schuf aber die Grundlage des plastischen Bewußtseins und des architektonischen Gefühls des neuen Menschen. Während also der Futurismus die Bewegung als ernährendes Element des Lebens entdeckte und das Proun die Konstruktivität der Bewegung fand, deutete der Kubismus auf die Möglichkeit der Stabilität, auf die neue Architektur hin. Auf die auf konstruktiver Basis beruhende Architektur, als synthetische Möglichkeit des künstlerischen Suchens unserer Tage. Der Kampf um die neue konstruktive Architektur schlug zwei Wege ein: im Raume und auf der Fläche. Erstere ist Baukunst, das zweite Bildarchitektur. Der Suprematismus setzte in der Malerei „den letzten Punkt über dem Buchstaben l“. Und die Bildarchitektur versucht, mit der Schwungkraft des Proun ihre ersten Schritte nach der Architektur als der einzigen, stofflich und geistig konstruktiv-kollektiven Kunst. Die Kraft der Bildarchitektur, sowie des Lebens selbst wird durch die Bewegung gegeben, sie selbst aber stellt bereits das Ergebnis der Bewegung, die Stabilität, dar. Und deshalb sehe ich in der Bildarchitektur fortan nicht die in den suchenden Künsten vorherrschenden Stoff-, Form- und Farbenprobleme, sondern den Anfang einer neuen synthetischen Kunst. Die Bildarchitektur gehört zu den ersten Dokumenten dessen, daß der sich in Kämpfen aufreibende Mensch von heute sein Sicherheitsgefühl wiedererlangte und seiner in Farben und Formen objektivierten Weltanschauung im Wege der primitiven Kunst zum erstenmal auf die Beine helfen will.

In: MA, H.1/1922, S. 6.