Ludwig Kassák: Bildarchitektur (1922)

             Bewegung ist Leben. Die ewige Bewegung des Lebens ist mit der ewigen Neuerzeugung und Erhaltung des Gleichgewichtes gleichbedeutend. Denn das ewig bewegliche Leben bedeutet letzten Endes nicht die Mannigfaltigkeit der Bewegung, sondern den Zustand einer aus der konstruktiven Bewegung der Weltkräfte sich ergebenden, immer neuen, mithin unendlichen Stabilität. Jede lebendige Konstruktion oder Organisation, deren innere Kraftbewegungen aus welchen Gründen auch immer stillstehen, fällt tot zusammen, verliert ihre dominante Gegenwart, ihr Symbolsein. Wir sehen also, daß der Exponent des Lebens die Bewegung, die Gesamtheit der Bewegung aber die Stabilität, das universale Leben ist. Auch der Mensch verdankt sein Dasein der Kraft der Bewegung: er wurde lebensfähig, mit beweglichen Kräften erfüllt, mitten unter die sich außer ihm bewegenden Kräfte als ebenfalls bewegliche Kraft versetzt. Und wir sehen im Organismus des Menschen den unaufhörlichen Kampf der physischen und psychischen Kräfte um den „normalen Zustand“, um das das Leben bedeutende Gleichgewicht, wie wir auch den Kampf der Revolutionen und Konterrevolutionen um das soziale Gleichgewicht sehen. Unser Zeitalter ist eine Periode der losgelösten und irren Bewegungen. Der Mensch unseres Zeitalters ist der verzweifelte Mensch. Die Kunst des heutigen Menschen ist die dynamische Kunst. Sie ist eine Bewegung, die zuweilen als Reaktion der Gegenbewegung, zuweilen als Bewegung um sich selbst willen auftritt. Diese Phase der Kunst wurde als Erfühlen des Lebens durch den Futurismus eingeleitet, fand ihre Fortsetzung mit gesteigerten ästhetischen Ansprüchen im Suprematismus und lebte zuletzt als aggressiv angreifende, ja eroberungslüsterne Kraft im Proun fort. In all diesen künstlerischen Bestrebungen ist noch alles um der Bewegung willen da, ihre Farben- und Formgesetze bedeuten die Gesetze der Bewegung, die Bewegung als Element des Schaffens und nicht das Schaffen selbst. Statt Synthese Analyse. Aber Kunst ist Schaffen, sie ist Synthese der konstruktiven Bewegungen, ein neues Gleichgewicht in der großen Lebensdynamik als Dokument dessen, daß wir mit unserem Willen und Sicherheitsgefühl zur Erzeugung eines neuen stabilen Punktes da sind. Auf die Suche nach diesem stabilen Punkte zog der Kubismus aus. Er verlor sich in seinen kompositionellen Doktrinen, schuf aber die Grundlage des plastischen Bewußtseins und des architektonischen Gefühls des neuen Menschen. Während also der Futurismus die Bewegung als ernährendes Element des Lebens entdeckte und das Proun die Konstruktivität der Bewegung fand, deutete der Kubismus auf die Möglichkeit der Stabilität, auf die neue Architektur hin. Auf die auf konstruktiver Basis beruhende Architektur, als synthetische Möglichkeit des künstlerischen Suchens unserer Tage. Der Kampf um die neue konstruktive Architektur schlug zwei Wege ein: im Raume und auf der Fläche. Erstere ist Baukunst, das zweite Bildarchitektur. Der Suprematismus setzte in der Malerei „den letzten Punkt über dem Buchstaben l“. Und die Bildarchitektur versucht, mit der Schwungkraft des Proun ihre ersten Schritte nach der Architektur als der einzigen, stofflich und geistig konstruktiv-kollektiven Kunst. Die Kraft der Bildarchitektur, sowie des Lebens selbst wird durch die Bewegung gegeben, sie selbst aber stellt bereits das Ergebnis der Bewegung, die Stabilität, dar. Und deshalb sehe ich in der Bildarchitektur fortan nicht die in den suchenden Künsten vorherrschenden Stoff-, Form- und Farbenprobleme, sondern den Anfang einer neuen synthetischen Kunst. Die Bildarchitektur gehört zu den ersten Dokumenten dessen, daß der sich in Kämpfen aufreibende Mensch von heute sein Sicherheitsgefühl wiedererlangte und seiner in Farben und Formen objektivierten Weltanschauung im Wege der primitiven Kunst zum erstenmal auf die Beine helfen will.

In: MA, H.1/1922, S. 6.

Karl Maria Grimme: Die Kunst in unserer Zeit (1930)

                           Zur derzeitigen Ausstellung im Wiener Künstlerhaus

             Wir können uns die Tatsache, nicht verhehlen, daß die bildende Kunst heute im Bewußtsein der Allgemeinheit nur von geringer Bedeutung ist. Fragen der Kunst berühren innerlich nur einen sehr kleinen Kreis von Menschen, sie belangen nur die Künstler selbst und ein paar ästhetisch Orientierte. Darüber hinaus aber erfassen Malerei und Plastik nicht einmal jene, die wirklich an der Gestaltung des Heute mitarbeiten und somit der Welt etwas bedeuten, geschweige denn, daß sie die breiten Schichten des Volkes in ihren Bann ziehen würden.

Betrachten wir dagegen die Baukunst, so bietet sich ein völlig verändertes Bild. Die Baukunst ist heute ebenso revolutionär, wie es Malerei und Plastik sind, und dennoch hat sie sich durchgesetzt. Von konservativem Festhalten am Überkommenen ist gar keine Rede, wo immer bei uns gebaut wird, ob von Gemeinden oder Privaten, geschieht es im modernen Geist, es fällt niemandem mehr ein, alte Stile zu kopieren. Darüber hinaus aber setzen sich die Prinzipien zeitgemäßen Formgestaltens auch auf allen anderen Gebieten durch. Es kann nur noch ganz wenige Jahre dauern und fast niemand wird sich mehr Stilmöbel anschaffen; schon heute ist dieser Zustand nahezu erreicht. Und betrachten wir die Einrichtungen öffentlicher Lokale, betrachten wir selbst nur die oft verblüffend kühnen. Umbauten von Geschäftsläden, so finden wir, daß man sie sich oftmals gar nicht besser wünschen kann. Die Auftraggeber dieser Architekten sind aber Menschen, die selbst nicht die mindesten künstlerischen Bedürfnisse besitzen, geschweige denn, daß sie bestrebt wären, für ihre Person bewußt mitzuhelfen, den modernen Stil durchzusetzen. Es ist auf diesen Gebieten heute einfach eine Selbstverständlichkeit, nicht mehr vergangenen Zeiten nachzuäffen. Die Arbeiten des modernen Architekten sind also tief im Heute verwurzelt, sein Schaffen ist für die Allgemeinheit tatsächlich eine Notwendigkeit.

Ähnlich steht es um die Erzeugnisse der Technik. Vom Auto, vom Flugzeug kann man heute schon behaupten, daß ihnen hohe ästhetische Reize eignen. Verfolgt man aber auch den Entwicklungsgang anderer technischer Gegenstände, es braucht selbst nur ein Hängelager oder ein Motorzünder zu sein, es ist erst gar nicht nötig, auf die Turbinen oder Lokomotiven zu verweisen, so erkennen wir, daß auch sie nicht nur reine Zweckgegenstände sind, sondern daß ihre Zweckform so gebildet ist, daß sie ästhetischer Wirkungen fähig wird. Dabei verdanken sie aber diese Formen nicht so sehr der Absicht des Entwerfers, stilreinigend zu wirken, sondern vor allem der Erfahrung, daß die ästhetisch ansprechende, formklar gebaute Maschine bei gleicher Leistungsfähigkeit leichter verkauft wird als eine unschöne Maschine. Praktische Erwägungen führen zu einer wertvollen Formgestaltung, das aber zeigt, daß hier ästhetisch hochgrädiges Schaffen ein wirkliches Erfordernis der Zeit darstellt.

Wir sehen also, künstlerische Werte sind für die Allgemeinheit in der Baukunst und in den technischen Erzeugnissen eine Notwendigkeit, auf diesen Gebieten sind sie lebenskräftig, während sie den meisten Menschen in der Malerei und in der Plastik nichts bedeuten. Es drängte sich daher vielen die Vermutung auf – auch so mancher Maler wird durch die bestehenden Verhältnisse in diese Gedankenrichtungen gezwängt – die Vermutung, daß Malerei und Plastik absterbende Künste seien, die für den geistigen Haushalt der Menschen langsam jede Bedeutung verlieren. Diesen Schluß gerade in der heutigen Zeit zu ziehen, hat nun tatsächlich eine gewisse Berechtigung. Wir dürfen ja nicht vergessen, daß wir möglicherweise am einer Weltenwende stehen, wie sie es in der Weltgeschichte noch nicht gegeben hat. Was diese Wende bewirkt, ist die Technik. Sie hat in den letzten Jahrzehnten das Leben jedes einzelnen, sie hat das Gesicht unserer Erde von Grund auf verwandelt, mehr verwandelt, als es je in früheren Zeiten Kriegen, Entdeckungen oder Erfindungen gelang. Eine Umwälzung von solch außerordentlicher Gewalt muß aber genau so auch alle unsere Beziehungen zu den geistigen Gütern umstürzen. Noch wissen wir nicht, was abfällt, was bleibt. Noch wissen wir nicht, wie diese neue Zeit aussehen wird, die vielleicht die Menschheitsgeschichte in eine zweite Phase drängt. Man könnte nun auf Grund der vorhandenen Anzeichen zu dem Schluß kommen, daß sich schöpferisches künstlerisches Gestalten in Zukunft auf anderen Gebieten ausspreche, daß es sich von der Malerei und Plastik abwende, um seine Betätigung vor allem in Zweckgegenständen, in Bauwerken und technischen Erzeugnissen zu finden. Ist schon heute die Technik, wie wir gesehen haben, nicht mehr lediglich eine Zivilisationserscheinung, so würde die Zukunft nahezu ausschließlich im Zeichen einer technischen Kultur liegen. So zwingend nun auch diese Vermutungen derzeit auf Grund der vorliegenden Anzeichen erscheinen mögen, so ist dies aber doch – so weit es Malerei und Plastik betrifft – kaum anzunehmen.

Dies darzulegen kann allerdings nicht Aufgabe dieser Zeilen sein, mancher wird auch sagen, daß hier bindende Schlußfolgerungen heute noch keine Berechtigung haben. Wie dem auch sei, wesentlich ist, daß wir überhaupt einmal diese Dinge in Betracht ziehen, daß wir wenigstens beginnen, uns mit diesen Fragen auseinanderzusetzen. Wir können nicht weiter den Kopf in den Sand stecken. Wir können nicht im Kunstleben ein Als-ob an Stelle von Tatsachen setzen, wir können nicht so tun, als nähme die bildende Kunst noch immer jene bevorzugte Stellung ein, die ihr einst zukam. Sonst spielt die Kunst die Rolle jenes vertriebenen Königs, der sich noch im Exil täglich mit Krone und Zepter auf einen Thronsessel setzt. Dazu ist uns aber die bildende Kunst wahrhaft zu gut. Und mit dem Jammern darüber, daß diese bösen Menschen eben so gar nicht einsehen wollen, welche Glücksgüter ihnen an der bildenden Kunst verloren gehen, ist natürlich gar nichts gemacht. Wir müssen der neuen Zeit die Tore öffnen, und je früher wir dann erkennen, was da kommen will, desto besser ist es.

Nun, der entscheidende Anfang zu dieser Auseinandersetzung geht diesmal von Wien aus. Hofrat Dr. Hans Tietze hat zusammen mit der Gesellschaft zur Förderung moderner Kunst eben jetzt im Wiener Künstlerhaus eine Ausstellung veranstaltet, der es gar nicht darauf ankommt, wieder und wieder einmal Bilder zu zeigen, trotzdem wir hier eine Auswahl der bedeutendsten europäischen Werke der letzten Jahrzehnte versammelt finden. Tietze ist es an Hand dieses Materials viel mehr darum zu tun, Kunst einmal ganz unkünstlerisch auf den Besucher wirken zu lassen, indem er aufzeigt, daß die Kunst vor allem auch allgemein-geistige Inhalte habe. Man soll also in dieser Ausstellung nicht so sehr bewerten, ob ein Bild gut oder schlecht sei, ob das vom Künstler Erstrebte wirklich erreicht wurde, man braucht also von Kunst gar nichts zu verstehen, sondern man soll vor allem den Künstler als Träger außerkünstlerischer Ideen und Strebungen auf sich wirken lassen. Die Bilder werden somit nach Gruppen geordnet, die ihren wesentlichen Inhalt kennzeichnen. Die eine Abteilung zeigt den Künstler als Gestalter übersinnlicher Erlebnisse, die nächste seine Einstellung zur Umwelt, eine dritte weist auf die sozialen Tendenzen einzelner Maler und Graphiker. Neben Gruppen, die in außerordentlich anschaulicher Weise die zeitgeschichtliche Entwicklung der Kunst in den letzten Jahrzehnten dartun, interessiert dann vor allem jene Abteilung, die das Formbilden unserer Zeit auf allen anderen Gebieten, im Fabriks- und Maschinenbau, in der Inneneinrichtung und im Kunstgewerbe, in den technischen Erzeugnissen und selbst in der Mode darlegt. Hier spricht sich ja die Gegenwart am deutlichsten aus.

Wie von Scheinwerfern beleuchtet, zeigt also diese Ausstellung, daß die heutige Kunst tatsächlich Inhalte besitzt, die den Menschen von heute auch dann belangen, wenn er nichts von Kunst an sich versteht. Das ist das unerhört Mutige, das Bahnbrechende. Kunst verbleibt damit nicht mehr auf ihrer fernen Insel der Träume, die aus innerster Nötigung aufzusuchen fast niemand mehr das Verlangen trägt, sondern sie greift ein in das lebendige Leben der Gegenwart. Sie verlangt nicht, daß man ihr nur auf den Zehenspitzen nahe, sie will nicht von Weihrauchfässern umräuchert, sie will nicht anbetend verehrt werden, sondern sie verlangt nur, daß man ihre Stimme höre. Sie zeigt, daß sie jedem etwas zu sagen hat.

Mit dieser Ausstellung Tietzes wird also die Kunst dem Interessenkreis der Allgemeinheit wieder näher gerückt. Die Auseinandersetzung kann beginnen.

In: Die Moderne Welt, H. 15 (1930), S. 14-15.

Berta Zuckerkandl: Eine Gesellschaft zur Förderung moderner Kunst in Wien. (1923)

Eine soeben ins Leben getretene Vereinigung ist seit langen Jahren der Stagnation das erste begrüßenswerte Zeichen wiedererwachter europäischer Gesinnung und neuerstandener nationaler Pflichtbesinnung. Denn solche Polarität der Ziele zeichnet jede echte, wahre Förderung bildender Kunst aus. Sie muß ihre Aufgabe darin erblicken, durch die Heranziehung aller bedeutenden Erscheinungen, die jenseits der vaterländischen Grenzen wirken, jene Atmosphäre zu schaffen, die für die eigenen nationalen Kräfte erlösend, bestätigend und wegweisend in Wirkung treten kann.

             Diesmal sind es nicht Künstler, die Ludwig Hevesi’s seinerzeit über den Eingang zur Sezession gemeißelten Worte zur Tat werden lassen wollen: „Der Zeit ihre Kunst – der Kunst ihre Freiheit!“ Es sind Männer, die als Diener der Kunst, oder als ihre Förderer, sich auf eine Aufgabe besonnen haben, die in früheren Zeiten zu den stolzesten Pflichten der Kulturträger gehörten. Die beiden Direktoren der großen Kunstinstitute: der Direktor der Österreichischen Galerie, Dr. Haberditzl, und der Direktor der Albertina, Dr. Stix, gehören dem Ausschuß der neuen Gesellschaft zur Förderung moderner Kunst an. Um diese schließt sich ein Kreis bedeutender Sammler und Mäzene, von Kunstgelehrten und anderen aktiv mit Kunstinteressen verknüpften Persönlichkeiten. Kein Künstler jedoch wird in die Gesellschaft zur Förderung moderner Kunst aufgenommen. Diese lehnt jede aktive Vereinsbeteiligung seitens der Künstler ab. (Mit Zustimmung aller die Neugründung wirklich begrüßender Künstler.) Weil der Verein ja ausschließlich idealen Interessen der Kunst, losgelöst von jeder wirtschaftlichen Kunstpolitik dienen will. Jedes Parteiwesen, das unausweichlich sonst wuchern würde, soll dadurch vermieden werden. Ohne Rücksicht auf kaufmännische Notwendigkeiten ohne jeden wirtschaftlich orientierten Zwang: frei von den Fesseln, welche im allgemeinen jetzt die Künstlervereinigungen zu Sklaven des Marktes machen, soll nach dem Willen der neuerstandenen Kämpfer die um ihre Entwicklungsmöglichkeiten schwer ringende Zeitkunst Schutz und Pflege finden.

             Es gilt also wieder einmal durch Konzentrierung williger geistiger Kräfte der Verdorfung Wiens entgegenzutreten. Als das Dringlichste erscheinen den neuen Förderern neuer Kunst vorerst zwei Dinge. Diese sind: Wien endlich wieder Gelegenheit zu bieten, mit europäischer Kunst in Kontakt zu treten. Und innig verwebt damit ist die zweite Aufgabe: der energische Versuch, eigene Talente, das Streben der Wahrhaften im Lande zu suchen, zu finden und ungestörter Entwicklung zuzuführen, so wie dies in Zeiten jedes intensiven Mäzenatentums das künstlerische Profil einer Epoche stolz, eigenartig und dennoch demütig gestaltete. Hier denkt die G. Z. F. M. K. eine neue, für Kunstliebende und Künstler gleich erzieherische Methode einzuführen. Nämlich, sie wird, um jungen Künstlern, die entweder dem Stil der Zeit allzu genialisch vorauseilen (wie es einst bei Kokoschka der Fall war), oder für jene Schaffenden, die für den starken Inhalt ihres Ausdruckswillens die erlösende Form erst allmählich zu finden imstande sind, folgendes in Szene zu setzen. Um dem brutalen Mißverstehen oder der Laien Ungeduld sowie der öffentlichen Aburteilung die Produktion noch unklar Strebender zu entziehen, werden geschlossene, dem allgemeinen Publikum nicht zugängliche Ausstellungen geplant, die allein nur den Vereinsmitgliedern zugänglich sein werden. Auf diese Weise ist dem jungen Künstler eine Atmosphäre geschaffen, in der er furchtlos an sich arbeiten kann.

             Die Programmpunkte der neuen Kunstgesellschaft sind vorläufig diese: Eine repräsentative Ausstellung österreichischer Kunst in gedrängter, aber aussagender Auswahl in Wien zu zeigen. Wahrscheinlich als eine deutsch-französisch-russische Ausstellung. Dieser soll dann eine hochqualifizierte kleine internationale Ausstellung folgen.

             Vor allem aber ist als Auftakt der Tätigkeit, die die G.Z.F.M.K. entwickelt, die gestern (Samstag) im Theseus-Tempel eröffnete kleine Ausstellung von einigen Skulpturen und Zeichnungen Anton Hanaks zu betrachten. Denn damit wollte der neue Verein seine Stellung zu Hanak, dem größten deutschen Bildhauer, dem die die Stadt seines Wirkens, dem Wien so viel schuldig geblieben ist, feierlich kundtun. Im Mai wird dann eine umfassende Kokoschka-Ausstellung folgen. Seit zehn Jahren schafft dieser österreichische Künstler, den einst die Klimt-Gruppe trotz des deshalb gegen sie inszenierten Entrüstungssturmes mit seinem Erstlingswerk eingeführt hatte, fort von Wien in Deutschland. Nun hofft die G.Z.F.M.K. die Marksteine dieses zehnjährigen Schaffens vereinigen zu können. Kokoschka ist heute der höchst bezahlte Künstler deutschen Landes und einer der gesuchtesten im Auslande. Es gibt kaum ein Bild von ihm, das sich nicht in Mäzenenbesitz befände. Und es wird schwerfallen, aus Museen und Sammlungen seine Werke zu erhalten.

             Was in Zeiten wie diese jetzt durchlebten die Verwirklichung auch nur eines Teils dieses Programms an Energie und Hingebung verlangt, ist kaum zu werten. Auch an Enttäuschungen wird und kann es bei einer so intensiven Arbeit nicht fehlen. Aber jede Zeit hat das Recht auch auf ihre eigenen, selbst erworbenen, selbst erlebten Enttäuschungen. Auch sie sind produktiv. Denn von jeder Kunstentwicklung gilt das Wort, welches George Clémenceau einst auf die große französische Revolution geprägt hat: „La revolution est un bloc!“. Als ein ganzes muß und soll der Versuch beurteilt werden. Wien wieder zur Stadt wacher Kunst zu erheben. Und die außerordentliche Teilnahme, // welche sich, noch ehe die eigentliche Werbung, die erst jetzt einsetzt, begonnen hat, durch die spontane Anmeldung von zweihundert Mitgliedern kundgibt, zeigt, daß die G.Z.F.M.K. einer tiefen Sehnsucht Form zu geben im Begriffe ist.

             Die äußeren Zeitverhältnisse erscheinen vielleicht ungünstig. Aber gerade an dem Druck, unter dem Wien gegenwärtig steht, entzündet sich die Überzeugung, daß eben nur die Anspannung aller geistigen und künstlerischen Kräfte Wien seine führende Rolle wieder gewinnen kann.

             Nun gilt es vor allem, dies zu begrüßen: Daß die Warte eingerichtet worden ist, von deren Höhe man Kunstland überblickend, die Frage, welche die bildenden Künste seit dem Weltkrieg nicht mehr stellen konnte, entscheidend beantworten wird. Die Frage: Wo halten wir?

             Der Vorstand der Gesellschaft moderner Kunst in Wien besteht aus den Herren Dr. Emil Franck (Vorsitzender), Doktor H. Eißler, W. W. Gartenberg, Regierungsrat Doktor F. M. Haberditzl (Direktor der Österreichischen Galerie), Dr. F. Halle, Dr. K. Rathe, Direktor F. Steinitz, Professor Dr. Alfred Stix (Leiter der Albertina).

In: Neues Wiener Journal, 22.4.1923, S. 4-5.

P. Stf. [= Paul Stefan]: Sensation einer französischen Kunstausstellung.

Heute wird in der Galerie Würthle eine Ausstellung zeitgenössischer französischer Kunst durch den französischen Gesandten feierlich eröffnet werden, die auf viele gewiß mit der Vehemenz einer Sensation wirken wird. Es handelt sich um nichts Geringeres als um eine Zusammenfassung aller oder doch der wichtigsten in dem Frankreich von heute wirkenden Kräfte, um einen Querschnitt durch das Schaffen der allerjüngsten Jahrzehnte. Angeregt wurde diese Ausstellung durch die große Schau der „Independants“ im Petit Palais, die eine Art Annex der Weltausstellung bildete. Sie begann dort, wo die bewundernswerte historische Ausstellung der französischen Malerei endete – an der Schwelle des 20. Jahrhunderts. Nur war es allerdings für Wien bloß möglich, Aquarelle und graphische Blätter zu zeigen; auch diese nur im Ausmaß der zur Verfügung stehenden Räume. Merkwürdig genug ist es aber, daß ein großer Teil dieser Wiener Ausstellung vom Wiener Privatbesitz hergeliehen werden konnte. Es gibt also bei uns Sammler, die mit den repräsentativen Künstlern auch der französischen Malerei von heute in Verbindung stehen – so wenig sie dem großen Publikum bekannt ist.

             Nun ist es fast unmöglich, in diesem Rahmen auch nur die wichtigsten dieser Künstler zu nennen und erst recht, ein Gesamtbild der wirkenden Kräfte zu geben. Halten wir uns an eine Art historischer Anordnung, so beginnt diese große Schau mit dem Übergang vom Impressionismus zu einer Art neuen Tradition. Hier seien vor allem Bonnard, Roussel, Signac genannt. Es ist die Generation der heute Siebzigjährigen. Um etwa ein Jahrzehnt jünger sind die „Wilden“ („Fauves“) wie Matisse, Dufy, Vlaminck, in dieser Ausstellung besonders eindrucksvoll vertreten, Othon Friesz, Derain, Guérin (zwei reizende farbige Blätter), Andrè. Die Kubisten, in großen Wandlungen begriffen, so insbesondere der in Paris lebende Spanier Picasso, der eine völlig klassizistische Periode gehabt hat (wie etwa in der Musik Strawinsky). Zu nennen Braque, einer von den Ur-Kubisten, Gleizès, Metzinger, Lhote, Picabia, Léger. Die verschiedensten Generationen sind durch den Kubismus durch- oder an ihm hart vorbeigegangen. Ihnen widersprechen die Realisten wie die heute 70jährige Suzanne Vallodon und ihr berühmter Sohn Utrillo, der Maler des Montmartre und der Vorstädte, Modegröße ersten Ranges, aber bei weitem mehr als das. Völlig „Idépendante“, also nach allen Seiten Unabhängige sind Chagall, geborener Russe, Modigliani, der noch vom alten „Simplizissimus“ her bekannte Pascin (geborene Bulgare), die zarte Marie Laurencin, der ganz weit und stark ausholende Marcel Grommaire und schließlich einige Allerjüngste, wie Lhermitte, Goerg (geborener Australier) usw.  – man könnte, ja man müßte noch viele Namen nennen, auf viele von diesen anderthalb Hundert Blättern hinweisen, wie etwa auf die reizende Giraudoux-Szene von Chirico.

             Dabei wird niemand so geschmacklos oder so snobistisch sein, durchaus alles, was in der Ausstellung gezeigt wird, gutzuheißen oder gar in den Himmel zu erheben. Man wird sogar behaupten dürfen, daß das ungestüme Suchen so mancher Künstler die Grenzen des Möglichen gelegentlich mißachtet hat. Aber wie viel geniale Begabung ist doch hier überall ausgebreitet! Wie viel Anregungen kommen aus dieser Unzufriedenheit mit dem Übernommenen, die dennoch die große Tradition der Malerstadt Paris nie gänzlich außer acht läßt. Das ist es, was uns diese Ausstellung so wert macht: daß sie aufs neue Zeugnis gibt von der ungebrochenen Kraft der französischen Kunst, von der Freiheit ihrer Entfaltung und der weisen Selbstzucht, mit der diese Freiheit in der Regel, man darf sagen grundsätzlich, gebraucht wird. Französische Kunst ist heute anders, als sie mancher erwartet. Sie ist die gleiche, die sie einst war, in der Fülle ihrer Begabung und ihres Könnens.

In: Die Stunde, 25.2.1938, S. 4.

[E. R.]: Luftmalerei und Luftskulptur.

Die Kunstschöpfungen der Fliegerin Pascalis und Marinettis Gegenaktion.

                                                                                                                                       Paris, im März.

             Vor einigen Wochen stellte hier Frau Louise Pascalis „Luftbilder“ aus. Das sind bildliche Darstellungen der Wolken und der Erde, wie man sie von einem Flugzeug aus sieht. Auf den Gemälden war das Flugzeug teilweise geschildert. Frau Pascalis ist Fliegerin und kann sich rühmen, daß sie die Maschine geschickt zu steuern weiß, aber von Malerei versteht sie nichts, und sie wird, nach ihren ersten Proben zu urteilen, wohl kaum lernen, mit dem Pinsel umzugehen. Deshalb wurde von ihrer gewiß originellen Ausstellung nicht die geringste Notiz genommen, und man würde wahrscheinlich nie mehr von ihr gesprochen haben, wenn nicht die Futuristen, welche die „Aeropeinture“ erfunden haben, es für notwendig gehalten hätten, gegen die von Frau Pascalis an den Tag gelegte Auffassung von „Luftmalerei“ energisch zu protestieren. Marinetti und seine Schuler sind die Begründer dieser „neuen Kunst“ und wollen sich nicht verdrängen lassen. Um der Mitwelt recht deutlich zu zeigen, wie richtige „Aeropeinture“ ausschabt, haben sie rasch eine Ausstellung italienischer futuristischer Luftbilder im Renaissancesaal in der Ruhe Royale veranstaltet, eine Ausstellung von Werken Prampolinis und seiner Anhänger. Zur Eröffnung ist Marinetti höchstpersönlich in die Seine-Stadt gekommen, und bei dieser Gelegenheit hat er seine Meinung in recht kräftigen Worten geäußert, wie man es von ihm gewöhnt ist.

Seit seinem Hervortreten mit „futuristischen Ideen“ ist Marinetti um mehr als Dezennien älter geworden, aber er hat sich indessen kaum verändert. Er macht sich durch das gleiche Ungestüm bemerkbar wie früher, durch dieselbe geschwollene Rhetorik und durch ein unvermindertes Talent, Zukunftslosungen hinauszuschreien. Vor zwölf Jahren hat er den Taktilismus, die Tastkunst, entdeckt. Dann hat er Symphonien aus verschiedenen Geweben komponiert. Hierauf hat er die Kochkunst der Zukunft den Musen angehängt. Nun ist ihm die Luftmalerei nicht mehr neu genug und daher träumt er bereits von der „Aeroskulptur“.

Die „Aerokunst“ ist überhaupt ein Lieblingsgebiet der Futuristen. Im Jahre 1908 veröffentlichte Marinetti ein Gedicht in freien Versen, das die erste lyrische Verherrlichung des Fliegens war. Andere italienische Dichter wandten sich darauf ebenfalls der Aeropoesie zu. Im Jahre 1926 entwarf der inzwischen verstorbene Azari die ersten Luftgemälde. Dottori wandte die neue Kunst bei den Dekorationen des Flughafens in Ostia an. Diese der modernen Technik angepaßte Malkunst ist eine besondere Form des Vitalismus, die Verkörperung des ständigen Strebens nach Steigerung der Lebensleidenschaft und parallel damit der sinnlichen Genüsse. Die neuen Aspekte sollen in einer neuen Harmonie aufgelöst werden, die keine Festigkeit kennt, im Gegenteil, nur in der ständigen Bewegung existiert.

Dies und ähnliches konnte Marinetti diesmal vor dem aus Snobs zusammengesetzten Publikum, das zur Vernissage erschienen war, in aller Ruhe auseinandersetzen. Vor einem Dutzend Jahre war es anders. Damals machten die Dadaisten einen solchen Höllenlärm, daß Marinettis Stimme im Tumult völlig unterging. Seither jedoch hat der Futurismus auf der ganzen Linie gesiegt, wenigstens in Italien, wo er förmlich zur Staatskunst ausgerufen worden ist, der Dadaismus dagegen, der Surrealismus, der Orphismus und andere Ismen sind auf der Strecke geblieben. Marinetti gibt sich freilich mit diesem Erfolg nicht zufrieden. Er verlangt von seinem Vaterland mehr Anerkennung. Er macht für sich und seine Anhängerschaft die Ehre geltend, Italien an die Seite der Alliierten gebracht zu haben. Und in diesem Zusammenhang ist es nicht verwunderlich, daß er von d’Annunzios Initiative nicht viel hält und bloß seinen persönlichen Mut schätzt. Denn Marinettis Glaubensbekenntnis ist das der Tat. Er mengt Kunst mit Politik. Das merkt man den Werken seiner futuristischen Anhänger an.

In: Der Tag, 20.3.1932, S. 26.

Richard Guttmann: Expressionisten

Vor einigen Jahren brachte der Hagenbund eine Ausstellung der Werke Eduard Munchs, in der die Entwicklung dieses Meisters zum Expressionisten genetisch dargestellt war. Selber ist dieses Schlagwort auch bei uns nicht verklungen und mit dem Auftreten der extremen Richtungen des Expressionismus, des Kubismus und des Futurismus, gebrauchten es nicht nur die Snobs, sondern auch Leute, die einer Sache gerne auf den Grund gehen. Der Kubismus ist russisch-französischen Ursprunges. Er reduziert die Formen der dargestellten Dinge auf ihre primären euklidischen Bestandteile, Kreisstücke und Vielecke, und geht jeder sonstigen Wiedergabe peinlich aus dem Wege. Der Futurismus ist eine italienische Angelegenheit. Auch er weicht dem empirisch Gegenständlichen aus und sucht die den Formen zugrundeliegenden seelischen Ereignisse, mit Umgebung der sichtbaren Gestalt, auszudrücken. Als drittes Extrem erscheinen die Primitiven, als deren Führer der Russe Kandinsky galt – – aber halt! Ich spreche zu den Lesern einer Zeitung und darf nicht wissenschaftlich deduzieren. Das Deutsche an der Sache war zunächst die bei uns beliebte Ruchässerei alles Fremdländischen, aber dann begann man – zur Ehre unserer Künstler! – ernsthaft nachzudenken. Das Bezeichnende aller Richtungen, die Abkehr vom sinnlich Wahrgenommenen und von dessen Einordnung in das konventionelle Geben, hatte seine tiefe, innere Richtigkeit. Die äußeren Mittel der Malerei und Plastik sind vollkommen ausgeschöpft und die Großstadt – hier handelt es sich nur um Großstädter – bringt keinen großen Bildner mehr hervor. Die mechanische Wiedergabe der gesamten Welt und ihres äußeren Geschehens durch die Photographie, die moderne Reproduktionstechnik und die Kinematographie haben der effektiven Intelligenzschwäche des Gegenwartsmenschen das naive Verhältnis zur Kunst genommen und je größer sein Bildungsdünkel ist, je mächtiger das scheinwissenschaftliche Gebäude der Ästhetik anschwillt, umso dürftiger und dürrer wird die ganze Kunst. Die Einführung der seinen Abstraktion in das künstlerische Schaffen ist somit ein wohl verständlicher Ausweg, aber mit zweifellos negativem Ergebnis. Ich behaupte, im Gegensatz zu dem leider gefallenen Fritz Burger, daß das Bestreben formal und graphisch zu abstrahieren, entweder zu primitiven algebraischen Symbolen oder zu einer neuen, absoluten Ornamentik führt. „Ursache und Wirkung der Kunst gehen über alle Begriffe“, hat schon der weise Feuchtersleben gesagt und wenn die künstlerische Gestaltung den ganzen Gefühlsprozess von vorneherein in Begriffe preßt, dann wird die Kunst ein Zweig der Logik oder der Mathematik. Wenn mir einer die Appassionata oder die F-moll Phantasie von Chopin erklären will, weil ich sonst nicht hören und genießen könnte, würde ich ihn für einen dummen Kerl halten.

Das Ohr ist der Weg zu einer ungeheuren Gefühlswelt, während, die Kunst, die durch das Auge geht, knapp ist und mit der Gegenständlichkeit steht und fällt. Die Expressionisten kämpfen gegen diese tragische Grenze mit allen geistigen und ungeistigen Mitteln und weil sich die ganze Sache, wie alles im menschlichen Leben, auf die Persönlichkeitsfrage zuspitzt, hört der Kampf mit der Erscheinung des großen Meisters auf. Ist vielleicht das Juwel deutscher expressionistischen Malerei, die Auferstehung Christi auf dem Flenheimer Alter des Grünenwald, mit allen unsern Gescheitheiten und Abstraktionen erreicht worden?

Es macht nichts, wenn der Künstler nach innen blicken lernt. Futurismus und Kubismus werden so vielleicht einen fruchtbaren Niederschlag zeitigen. Besonders was die Läsung des Raum- und Zeitproblems in der Malerei betrifft. Als selbständige Formungsmethoden in der Richtung vollkommener Abstrahierung des Gegenständlichen können sie nicht beliehen.

Man hört auch öfters die Frage, ob solche Bilder schön seien. Geschäftige Vielredner haben bei uns in den letzten Wochen bewiesen, daß die Schönheit nicht zur Kunst gehöre. Die Schönheitsempfindung ist für jeden normalen Menschen der unsagbare, innere Ausbruch des Rassengefühls. Schönheit und Rasse gehören deshalb zur Kunst und der unverdorbene Instinkt wird die naive Frage nach der Schönheit nie unterlassen. Für den in Abstraktionen wühlenden rasselosen Literatenkaffehausköter besteht die natürlich nicht.

Selbstverständlich falle ich den Herrschaften, die jetzt im ersten Stock des Künstlerhauses ausstellen, nicht hinein. Mir imponiert der kopierte Expressionismus und der Kubismus aus zweiter Hand nicht. Die genetische Anordnung fehlt und man weiß nicht, was Ernst und was Gschnas ist. Ich warne Neugierige vor den mündlichen Erklärungen der Künstler, denn sonst könnte man die Ausstellung für ein Dokument der Hauptkrankheit unserer Zeit: der Verbomanie, halten. Zweifellos! Die Leute können malen und zeichnen. Das ist aber nicht alles. Die Vergangenheit einzelner weist auf eine gewisse durchschnittliche Züchtigkeit. Und das ist wenig. Denn Meister ist keiner unter ihnen. Aber dafür mancher tragische Clown. Der fatale „Bund der geistig Tätigen“ hat die Armen als seine Kunstgruppe in die Manege geführt. Das soll er künftig nicht mehr tun. Mit solchen Geistestalern renommiert man nicht.

In: Der Morgen, 12.5.1919, S. 11.

Max Eisler: Mußte die »Kunstschau« aufgelöst werden? Das Ende einer bedeutenden Kunstvereinigung.

Wien hat in diesen Tagen eine seiner ansehnlichsten Künstlervereinigungen verloren. Auf eine merkwürdig diskrete Weise. So diskret, daß über diesen immerhin bemerkenswerten Vorfall unserer nicht gerade üppig bestellten Kunstchronik kein Sterbenswörtchen in die Öffentlichkeit gedrungen wäre, wenn nicht… Aber darüber später.

Verzeichnen wir zunächst den nunmehr historisch gewordenen Tatbestand. Die „Kunstschau“ war seinerzeit durch eine Sezession aus eben jener „Secession“ entstanden, bei der sie jetzt, nach mehr als zwanzig Jahren, wieder gelandet ist. Unter der Führung Josef Hoffmanns und Gustav Klimts hatte sich eine kleine Gruppe unzufriedener Künstler von dem Haupttrupp getrennt, und zu dieser „Klimt-Gruppe“ war später der „Sonderbund“-, die Vereinigung der Jüngsten, gestoßen. Mit diesen beiden Ereignissen – man könnte sagen: mit diesen beiden Anfängen – sind auch schon die besten Zeiten der „Kunstschau“ genannt. Die „Klimt-Gruppe“ hatte ihre Ausstellungen in einem schönen Pavillon von Hoffmann auf dem Platz des Eislaufvereines begonnen, hatte für Van Gogh endlich auch bei uns eine Gasse geöffnet und hatte Kokoschka auf den Schild gehoben. Mit dem „Sonderbund“ kamen dann neue, ungewöhnliche Talente wie Faistauer und Kolig, Böckl und Wiegele hinzu. Auch der Zusammenhang mit den Avantgarden des Auslandes wurde zwar nicht gerade planmäßig gepflegt, aber gelegentlich doch mit starker Wirkung aufgenommen. Und unvergessen ist eine Darbietung aller Werke Hanaks in der Vorhalle einer Ausstellung im Österreichischen Museum.

Freilich, das alles ist schon eine gute Zeit vorüber. Die Veranstaltungen der letzten Jahre haben die lebendige Kraft der früheren nicht mehr gehabt. Das lag natürlich auch an dem allgemeinen Lauf der Dinge. Die Situation unserer Kunst ist – die Architektur immer ausgenommen – verworren, und es fehlt an einem kraftvoll-verwegenen Nachwuchs. Aber im übrigen ist der Niedergang auch dieses Künstlerbundes nur ein Beispiel mehr für einen gesetzmäßig wiederkehrenden Prozeß. Genau genommen haben Kunstvereine ein zeitlich nur sehr beschränktes Lebensrecht. Nachdem sie einmal gegründet sind, sollten sie tunlichst bald wieder aufgelöst werden. Denn die Bewegung, welche die jungen Frondeure zusammentrieb, hält ja in ihrer ursprünglichen Kraft und Gemeinsamkeit niemals lange an und, in den Rahmen eines Vereinstatutes gebracht, weicht der rein künstlerische Impuls nur zu bald einer neuen, unerfreulichen Konvention. Auch die „Kunstschau“ war diesem Gesetz verfallen. Daß sie ihm – ohne Überanstrengung – so lange widerstehen konnte, sprach für ihre besondere Frische. Aber zuletzt war ihre Auflösung doch schon eine innere Notwendigkeit geworden. Es könnten demnach alle Teile mit diesem Ausgang der Dinge zufrieden sein. Wenn nicht…

Ja, hier sitzt der Haken. Die Sache hat nämlich noch eine andere Seite. Jeder Kunstverein bedeutet auch eine Kameradschaft. Sie beruht auf einer gemeinsamen Anschauung der Kunst, auf einer gemeinsamen edlen Leidenschaft, auf einem gemeinsamen Bekenntnis. Ist also besonders sauber und gut fundiert. Und hat demgemäß immer wieder wunderbare Früchte getragen. Man denke nur etwa an die Impressionisten in Frankreich von Pissaro bis Cézanne und Van Gogh. Wie rein und stark war da – unberührt von den politischen – bis zum Fanatismus entfesselten Strömungen des Tages – die Freundschaft geblieben, wie weit war sie in ihrer Treue, wie weit in ihren Opfern gegangen und wie reich war der Gewinn für die Kunst gewesen! Und dabei waren diese Franzosen nicht einmal Mitglieder eines richtigen Künstlervereines, sondern nur im Geiste, nur im Ziele verbunden.

Bei uns aber… Ein Kunstverein hat mehr als zwanzig Jahre bestanden. Hat also ausgedient. Und wird aufgelöst. Alles wahrscheinlich unter peinlicher Beobachtung der statutenmäßig festgelegten Formalitäten. Die Mitglieder bekommen den Bescheid ins Haus: „Der Vorstand… zu seinem größten Bedauern… die Verhältnisse… usw.“. Schluß. Ganz wie bei einem Verschönerungsverein. Schon ein Veteranenverein hätte eine derartige Erledigung nicht ruhig hingenommen. Und mit gutem Recht. Denn auch bei dem bravsten Veteranenverein wäre die Frage aufgekommen: „Was ist mit der Kameradschaft?“

Die „Kunstschau“ hat sich über diese Kernfrage, die uns heute allein interessiert, einfach hinweggesetzt. Jedenfalls aber hat sie sich ihre Sache in diesem entscheidenden Punkte sehr leicht gemacht. Sie sagte sich, es ist heute besser, wir schließen uns einer der beiden großen Kunstvereinigungen an, ging zur „Secession“, präsentierte dieser ihre Mitgliederliste, die „Secession“ wählte von rund 50 rund 30 für sich, und alles war in bester Ordnung. Daß bei dieser Auswahl einige Künstler der „Kunstschau“ von hervorragender Bedeutung übergangen blieben, daß die Auswahl also nicht rein nach künstlerischen Gesichtspunkten vorgenommen worden war und daß auch die übrigen durch Jahre Kameraden gewesen sind, die man – gerade heute – um keinen Preis verlassen durfte, fiel bei den Entschließungen scheinbar nicht weiter ins Gewicht.

                                                                   *

Jedenfalls: nachdem einmal die organisatorisch begreifliche Auflösung vorgenommen war, blieb nach unserer Ansicht nur ein Weg gut gangbar: Fusion für alle oder für keinen. Der einzelne hätte dann ruhig den neuen Anschluß vollziehen können – freilich erst, mit Rücksicht auf die anderen, nach einer ziemlichen Wartezeit. Auf solche Weise wäre der Effekt der gleiche geblieben, aber der Gedanke der Solidarität hätte keinen Schaden genommen.

Unter den wenigen, welche die „Secession“ gewählt hatte, befand sich auch Oskar Strnad. Es war – das muß gegenüber einer anders lautenden Nachricht betont werden – sofort eingeladen worden. Und hat, mit Dank für die Freundlichkeit, abgelehnt. Man wird ihn verstehen, er konnte gar nicht anders. Denn er war ein Kamerad.

In: Der Morgen, 26.9. 1932, S. 9.

A.F.S. [Adalbert Franz Seligmann]: Kunstausstellungen (1921)

Im neuen Trakt des Oesterreichischen Museums (Eingang von der Wollzeile aus) ist, wie wir bereits angezeigt haben, eine Ausstellung eröffnet worden, die einen Ueberblick über die Wirksamkeit der Wiener „Gesellschaft für vervielfältigende Kunst“ während des letzten Halbjahrhunderts gibt, zugleich aber, wie man sagen darf, einen Ueberblick über die gesamten modernen Graphik während dieser Zeit […]

Im Erdgeschoß des nämlichen Traktes ist jetzt eine Ausstellung von Schülerarbeiten (Ornamentklasse Cizek) der Kunstgewerbeschule zu sehen, am Stubenring eine solche der Klassen Hoffmann (Architektur), Stark (Email), Rothansl und Wimmer (Textilien). Hier sieht man das Neueste vom Neuen. Bei Cizek wird der Futurismus, Kubismus, Kinetismus und was es sonst auf diesem Gebiet gibt, offiziell gelehrt. Man sieht da „Studien über die kubische Existenz der Dinge, – wobei die Frage offenbleibt, ob diese Existenz auch wirklich existiert! – ferner ornamentale Kompositionen, die die ‚Sehnsucht‘, die Musik, den Brandgeruch und dergleichen darstellen. Wir erwarten, daß demnächst als Aufgaben für eine musikalische Kompositionsklasse Themen gegeben werden wie zum Beispiel „Zitronengelb mit karmoisinroten Streifen“, „Spirale“, § 31 des bürgerlichen Gesetzbuches“ und so dergleichen. Ein Riesenapparat wird aufgeboten, Philosophie, Religion und Wissenschaft werden zu Hilfe gerufen; die Berge kreißen und es kommt im besten Fall ein neues Tapeten- oder Krawattenmuster heraus. Es ist jammerschade, daß so viel Mühe, Intelligenz, Fleiß und wohl auch Talent an solche unfruchtbaren Spielereien des Geistes und der Hand verschwendet werden; und das noch dazu in einer Zeit, da sich überall die Anzeichen mehren, daß der Bolschewismus – dessen Spiegelungen in der Kunst ja diese neuesten Manieren sind! – sich selbst ad absurdum führt. Allerdings wird das Absurde in der Sozialpolitik durch den ungeheuren wirtschaflichen Zusammenbruch mit der Zeit jedermann offenbar; in der der Kunst ist die Absurdität nicht zu beweisen. Daher wird diese Richtung in der Kunst auch ein längeres Leben haben als in der Politik, wo sich ja die Umkehr schon vorzubereiten scheint. Indes ist es doch symptomatisch, daß auch hier an allen Fronten abgeblasen wird und in allen führenden deutschen Kunstzeitschriften warnende Stimmen sich erheben. So dürften die noch überall pilzartig aufschießenden expressionistischen Ausstellungen und Revuen nicht als Zeichen des endgültigen Erfolges gedeutet werden, sondern vielmehr als letztes – oder vorletztes Aufflackern vor dem Erlöschen einer Bewegung, die nur in einer Zeit möglich war, in der Intelligenz und Neurasthenie an Stelle eines spezifischen Kunstempfindens getreten sind.

            Ganz und gar im modernsten Fahrwasser bewegt sich O.R. Schatz, ein junger Kunstbeflissener, der eben bei Hevesi (Mariahilferstraße 13) eine Kollektivausstellung veranstaltet hat. Immerhin ist trotz aller karikaturenmäßiger Verzerrung, namentlich in einigen Holzschnitten und Kreidezeichnungen, außer dem jetzt so häufigen – und recht billigen! – Rhythmus ein gewisses Verständnis für die Formen des menschlichen Körpers zu spüren., Auf einer Linie zwischen Expressionismus und Impressionismus sucht dann ein junger russischer Maler, A. Akidos, seinen Weg; er hat in seiner Werktstatt (9. Bezirk, Spittelauer Weg 1) eine Auswahl seiner Arbeiten zur Schau gestellt, unter denen manche Landschaften und ein Blumenstück seinen Farbensinn erkennen lassen.

            Eben da wir diese Zeilen beschließen wollen, erhalten wir die Nachricht, daß im unteren Belvedere die neuen Erwerbungen der Staatsgalerie, untermischt mit manchem aus den älteren Beständen, dem Publikum zugänglich gemacht worden sind. Darüber demnächst ein Mehreres; einstweilen nur so viel, daß neben einigen sehr hübsch und geschmackvoll aufgestellten, in Hinsicht der Qualität im allgemeinen nicht eben aufregenden Plastiken und Gemälden der Gotik und Barocke namentlich Wiener Künstler des verflossenen Jahrhunderts mit zum Teil vorzüglichen Arbeiten zu Wort kommen. So Waldmüller, Fendi, Pettenkofen, Tina Blau (das prachtvolle Praterbild aus dem Hofmuseum, ein Clou der Ausstellung), Klimt; die vielumstrittene „Medizin“ und einige Landschaften werden manchen enttäuschen. Von Neueren und Neuesten ist gleichfalls allerlei da: sehr schön der „Eselreiter“ von Gaul (Berlin), einem künstlerischen Verwandten unseres Barwig, von dem einiges Treffliches zu sehen, wenn auch nicht sein Bestes. E. Schiele ist ganz gut vertreten; von anderen aus diesem Kreise manches, dem man nicht ansieht, daß es unter dem Einfluß des Modegeschmacks etwas übereilt erworben worden ist. Ob eine sogenannte „Aktstudie“ von einem sicheren Böckl (Nr. 13) als abschreckendes Beispiel ausgestellt ist oder ob man sich hier mit dem Publikum einen schlechten Witz gemacht hat, ist nicht klar. Vielleicht soll auch nur die fortschrittliche Gesinnung der Galerieverwaltung – etwas heutzutage scheinbar Unerläßliches! – dadurch dokumentiert werden, daß dergleichen Zeit ernst genommen, angekauft und ausgestellt wird. Jedenfalls wäre es besser gewesen, den Beschauer nicht vor dieses Dilemma zu stellen. Solche Mißgriffe dürfen aber nicht hindern, festzustellen, daß die ganze Ausstellung gut gehängt ist, einen vortrefflichen Eindruck macht, in jeder Hinsicht als Sehenswürdigkeit gelten kann und daß der gründlich illustrierte Katalog der Galerieverwaltung das ehrenvollste Zeugnis ausstellt.

In: Neue Freie Presse, 17.6.1921, Abendblatt, S. 5.

Hans Ankwicz-Kleehoven: Juliausstellungen. Ein Epilog

Das wichtigste künstlerische Ereignis dieses Monats war unstreitig die Ausstellung der von Professor Dr. Peter Behrens geleiteten Meisterschule für Architektur [gesperrt gedr. im Orig.] an der Wiener Akademie der bildenden Künste. Sie lieferte den erfreulichen Beweis, daß jetzt auch an unserer bisher allzusehr im „Akademischen“ befangenen Kunsthochschule – zumindest in der Architekturklasse – jener Geist des Fortschrittes wieder lebendig ist, der dort mit Otto Wagner ausstarb und seitdem bloß an der Kunstgewerbeschule bei Josef Hoffmann und Oskar Strnad eifrigste Pflege fand. Nunmehr nehmen wieder unsere beiden staatlichen Kunstschulen schöpferischen Anteil am Aufbau einer neuen Kunst und erziehen die Jugend zu Idealen, die den Forderungen der Zukunft bereits in ausgeprägter Form Rechnung tragen.

[…]

Und wie von der Akademie in Bälde eine neue Raumkunst ausgehen wird, so sehen wir an der Kunstgewerbeschule in der Ausstellung des Professors Cizek eine neue vom Raum ausgehende Flächenkunst im Werden. Auch die in der Fichtegasse Nr.4 (2. Stock) untergebrachte Ausstellung der Cizekschen Klasse für ornamentale Formenlehre eröffnet die überraschendsten Perspektiven auf kommende Kunstmöglichkeiten und zeigt, zu welch ungewöhnlichen Leistungen unsere jungen Burschen und Mädchen befähigt sind, wenn ihr reiches Talent an den richtigen Lehrer gerät. Aber obwohl der Name des Professor Cizeks als eines der erfolgreichsten Kunstpädagogen heute in der ganzen Welt bekannt ist, ist sein Ruf doch scheinbar noch nicht bis nach Wien gedrungen, denn Wien liegt ja bekanntlich ein wenig abseits von der „Welt“. Nur so konnte es kommen, daß man diese Abteilung wie so manches andere unersetzlich Wertvolle für überflüssig gehalten und darum aus Sparsamkeitsgründen mit dem laufenden Schuljahr „abgebaut“ hat. Demnach ist die vorstehende Ausstellung die beste und reifste, die der Kurs bis jetzt gezeitigt hat, zugleich auch seine letzte gewesen. Man kann sie unter Führung Professor Cizeks jederzeit besichtigen und fühlt sich darin in eine völlig neue Welt versetzt, in deren originelle Formen-und Farbensprache man sich bei einigem guten Willen rasch einlebt. Professor Cizek hatte seinen Schülern heuer das Thema gestellt, die Außen- und Innendekoration zu einem modernen Gesellschaftshaus mit Theateranbau zu entwerfen, und diese Aufgabe wurde nun mit ebensoviel Erfindungsgabe wie in durchaus einheitlichem Stilwillen gelöst. Hervorzuheben sind namentlich die Arbeiten der hochtalentierten Giovanna Klien, die einen unerschöpflichen Reichtum an dekorativen Einfällen mit feinstem Gefühl für erlesene Farbenharmonien verbindet, in denen der Geist Klimts in kubistischem Gewande wiederzuerstehen scheint; Elisabeth Karlinsky lieferte die Zeichnungen zu feinen, von Max Blaha ausgeführten Glasätzungen und betätigte sich mit Erfolg auch als Plastikerin, von Marie Ullmann stammt ein wirkungsvoller konstruktivistischer Fries, von Walter Harnisch der Entwurf zu einem modernen Theater, von Otto Erich Wagner der Plan zu dem erwähnten Gesellschaftshaus, von Herbert Ploberger eine Anzahl konstruktivistischer Plastiken. Es wäre höchst bedauerlich, wenn durch die Abbaumaßnahmen an der Kunstgewerbeschule auch ein guter Teil der Lebensarbeit Professor Cizeks in Frage gestellt würde, dessen unablässiges Bemühen, im Verein mit seinen Schülern neue, zeitgemäße Ausdrucksmittel zu schaffen und die Verwendbarkeit des Kinetismus auch in der angewandten Kunst zu erweisen, gerade in der jüngsten Ausstellung von schönstem Gelingen gekrönt erschien. […]

In: Wiener Zeitung, 1.8.1924, S. 4.

Bruno Adler: Kunstwerk und Publikum. (Zur Ausstellung Johannes Itten)

            Eine Ausstellung von Gemälden, Zeichnungen und Plastiken von Johannes Itten, den manche zu den bedeutendsten Erscheinungen der modernen Kunst zählen, ist beinahe etwas wie eine Sensation für das Wiener Kunstleben gewesen. Mehr läßt sich über ihre Wirkung noch nicht aussagen; wenn aber die Einstellung der zünftigen Kunstkritik jener des Publikums beiläufig entspricht, dann ist alles beim alten geblieben: Impotenz, die gerade noch die Kraft zu einem Wutausbruch aufbringt, das bodenlos alberne Gewitzel der Feuilletonisten, Snobismus, der sich noch nicht ganz sicher fühlte und vereinzelt die vergebliche Mühe der Gutmeinenden. Es wird nicht lange dauern, bis der wie nur je talentierte Nachwuchs der jungen Maler die Folgen dieser Ausstellung sinnfällig dokumentieren wird.

            Jetzt, da sie geschlossen ist, über ihre Werke zu berichten, wäre nur dann nicht wertlos, wenn Worte imstande wären, ein Bild nachzubilden. Gewiß, auch eine verständnisvolle Bildbeschreibung, wie sie andernorts versucht wird, nützte vielleicht dem Beschauer, in den sich das Lied der Linie und der Farben Chorgesang wie ein Erlebnis eingeprägt haben; doch wird er kaum zu finden sein. Da nun aber an diesen Werken die vielfältige Problematik, die das Verhältnis des Publikums zum Künstler kennzeichnet, akut wird, und weil die Kluft zwischen diesem und seinem Zeitgenossen so groß geworden zu sein scheint, daß ein paar Druckseiten vom Verstand williger aufgenommen werden als alle Kraft und Reichtum gestalteten Lebens von der Seele, werde diese Ausstellung zum Anlaß, mit ihrer Erklärung auch einer Klärung jener Beziehung zwischen Kunst und Publikum zu dienen.

            Es ist eine fundamentale Erfahrung aller Kunstpädagogik, daß die Werke der neuen Kunst – dieses irreführende Schlagwort gebrauche ich nur, um mich nicht eines noch schlechteren bedienen zu müssen; natürlich ist das wesentliche dieser Kunst nicht das Neue – daß diese Werke dem Beschauer solange stumm und unverständlich bleiben, als er sich nicht des Wustes liebgewordener ästhetischer Vorurteile und Mißverständnisse entledigt, der ihm jede Möglichkeit einer freien inneren Bewegung benimmt. Die pietätlose Beseitigung jener Irrtümer aus Gewohnheit ist die erste Aufgabe und die einzige, die die Hilfe des Intellekts in Anspruch nimmt. Ist sie gelöst, so ist zugleich das Kunstempfinden des Menschen von aller doktrinären Gebundenheit befreit, gelöst und fernerhin auf nichts als seine Intensität angewiesen. Trotzdem schwätzt jedermann heute von der Unrechtmäßigkeit einer Kunst, die einer theoretischen Ausdeutung bedürfe und beruft sich auf sein allein maßgebliches Empfinden, ohne zu bedenken, mit welcher Unsumme von Verstandesvorurteilen belastet er unter fast völliger Ausschaltung ursprünglichen Gefühls an die Betrachtung des Kunstwerks herangeht. Er verlangt von der Kunst „Schönheit“, weil ihm die sogenannte Ästhetik, eine Pseudowissenschaft, die es einmal gegeben hat, ein verbrieftes Recht darauf gibt; er will ein Stück Natur im Kunstwerk wiederfinden; will etwas erfahren, sich dabei etwas denken, ja er will sogar erfahren, was er sich dazu denken soll, und er will sehen, was er selbst schon gesehen zu haben, also zu wissen glaubt. Noch mehr, unendlich vieles fordert er vom Kunstwerk und findet er seine Forderungen befriedigt, dann erst kommt das Gefühl, das sich bei ihm nicht früher einstellt, auf seine Kosten. Wenn aber der Künstler ihn nur um eines bittet: Folge mir, fühle mit mir, gib dich, befreit von allen Denkgewohnheiten, ganz meinem Werke hin, gib dich hin an das Leben der Formen, verliere dich im Reich der Farben, – dann zieht sich der Gefühlsmensch empört in seine Gehirnzellen zurück. Und ruft nach der Ästhetik wie nach der Polizei.

            Die allgemeine Verbildung hat jedem Pedanten das Maß gegeben, mit dem alle Kunst gemessen werden könne und das Recht zu solchen Unfug nahm er sich selbst. Da entfernte sich die Kunst von den Menschen, bis sie sie nicht mehr sahen. Und heute ist sie, wie der größte Maler unserer Zeit, Cézanne, dieser einfache große Mensch, gesagt hat, zu einer Angelegenheit geworden, die sich nur an eine äußerst beschränkte Zahl von Individuen wendet. Und damit meinte er nicht, daß nur wenige von uns gescheit genug seien, seine Bilder zu verstehen, sondern weil die Zahl derer gering ist, die nicht festgerannt sind in einem Aberglauben, nicht vertrocknet im Konventionellen, nicht in einer ungeistigen Gebundenheit gelähmt, weil die von aller Verbildung bewahrten, innerlich ganz freien, schwingenden, in der unmittelbaren Wirklichkeit des Lebens atmenden Menschen, weil die Menschen – Kinder Gottes, aufhebend alle Gegensätzlichkeit in der Einheit schöpferischen Lebens – selten sind, darum gibt es keine Kunst für die Allgemeinheit. Es ist eine Antwort auf viele Fragen: wie jede Kunst gibt auch die sogenannte neue, an der nichts neu ist wie ein tiefer Ernst, reiner Wille, unbedingte Strenge und Reinheit der Gesinnung, nur jenem alles, der mit gleicher Unbedingtheit denkt, fühlt, lebt; der aber zur Ausnahme geworden ist wie der Künstler. Daß diese einzige Forderung des Kunstwerks, die an die ungetrübte Geistigkeit des Menschen, sich stärker vernehmlich macht, als man gemeinhin glaubt, beweist ein sich mit der Kraft gesetzmäßiger Notwendigkeit wiederholendes Phänomen. Niemandem, auch dem gründlichsten Verächter des Kitsches nicht, wird es passieren, daß er z. B. in den Ausstellungen der Künstlergenossenschaft einen Wutanfall erleidet; mehr als einen leichten Ekel vor der Langweile dieser leeren Betriebsamkeit wird er schwerlich spüren. Nun beobachte man aber, was deren Autoren und Anhänger vor den Werken der Jungen aufführen; wie da ruhige Familienväter, besonnene Geschäftsleute und Kunstfreunde toben, in blinde Raserei verfallen, den Weltuntergang heraufbeschwören, wie der Anstrich der guten Erziehung plötzlich abfällt und der ganze bürgerliche Ungeist zuinnerst getroffen sich auslebt. Seit Kokoschkas erstem Auftreten kennen wir diese Exzesse der soliden Leute, ihre wilden Tänze, Beschädigung der ausgestellten Bilder, spontane Infamien und überlegte Gemeinheiten – sichtbarste und hörbarste Antwort auf jene Zumutung des Künstlers, die den ganzen Menschen, sein bestes Fühlen, sein blankes Leben beansprucht und statt dessen auf den Verdiener trifft und den Genießer; der nun, ahnungslos, höchstens dunkel eine Gefahr witternd, die die armseligen Inhalte seiner Existenz bedroht, wehrt sich solcherart, gibt vor, den guten Geschmack oder ein ästhetisches Ideal zu verteidigen und ahnt kaum, um wieviel näher er der Wahrheit kommt, wenn ihm, wie es häufig zu geschehen pflegt, der beliebte Ausdruck für alle Schrecken des Endes entfährt: Bolschewismus!

In: Die Wage. Eine Wiener Wochenschrift, Nr. 23, 6.6.1919, S. 565-567.