Paul Stefan: Sensation einer französischen Kunstausstellung (1938)

P. Stf. [= Paul Stefan]: Sensation einer französischen Kunstausstellung.

Heute wird in der Galerie Würthle eine Ausstellung zeitgenössischer französischer Kunst durch den französischen Gesandten feierlich eröffnet werden, die auf viele gewiß mit der Vehemenz einer Sensation wirken wird. Es handelt sich um nichts Geringeres als um eine Zusammenfassung aller oder doch der wichtigsten in dem Frankreich von heute wirkenden Kräfte, um einen Querschnitt durch das Schaffen der allerjüngsten Jahrzehnte. Angeregt wurde diese Ausstellung durch die große Schau der „Independants“ im Petit Palais, die eine Art Annex der Weltausstellung bildete. Sie begann dort, wo die bewundernswerte historische Ausstellung der französischen Malerei endete – an der Schwelle des 20. Jahrhunderts. Nur war es allerdings für Wien bloß möglich, Aquarelle und graphische Blätter zu zeigen; auch diese nur im Ausmaß der zur Verfügung stehenden Räume. Merkwürdig genug ist es aber, daß ein großer Teil dieser Wiener Ausstellung vom Wiener Privatbesitz hergeliehen werden konnte. Es gibt also bei uns Sammler, die mit den repräsentativen Künstlern auch der französischen Malerei von heute in Verbindung stehen – so wenig sie dem großen Publikum bekannt ist.

             Nun ist es fast unmöglich, in diesem Rahmen auch nur die wichtigsten dieser Künstler zu nennen und erst recht, ein Gesamtbild der wirkenden Kräfte zu geben. Halten wir uns an eine Art historischer Anordnung, so beginnt diese große Schau mit dem Übergang vom Impressionismus zu einer Art neuen Tradition. Hier seien vor allem Bonnard, Roussel, Signac genannt. Es ist die Generation der heute Siebzigjährigen. Um etwa ein Jahrzehnt jünger sind die „Wilden“ („Fauves“) wie Matisse, Dufy, Vlaminck, in dieser Ausstellung besonders eindrucksvoll vertreten, Othon Friesz, Derain, Guérin (zwei reizende farbige Blätter), Andrè. Die Kubisten, in großen Wandlungen begriffen, so insbesondere der in Paris lebende Spanier Picasso, der eine völlig klassizistische Periode gehabt hat (wie etwa in der Musik Strawinsky). Zu nennen Braque, einer von den Ur-Kubisten, Gleizès, Metzinger, Lhote, Picabia, Léger. Die verschiedensten Generationen sind durch den Kubismus durch- oder an ihm hart vorbeigegangen. Ihnen widersprechen die Realisten wie die heute 70jährige Suzanne Vallodon und ihr berühmter Sohn Utrillo, der Maler des Montmartre und der Vorstädte, Modegröße ersten Ranges, aber bei weitem mehr als das. Völlig „Idépendante“, also nach allen Seiten Unabhängige sind Chagall, geborener Russe, Modigliani, der noch vom alten „Simplizissimus“ her bekannte Pascin (geborene Bulgare), die zarte Marie Laurencin, der ganz weit und stark ausholende Marcel Grommaire und schließlich einige Allerjüngste, wie Lhermitte, Goerg (geborener Australier) usw.  – man könnte, ja man müßte noch viele Namen nennen, auf viele von diesen anderthalb Hundert Blättern hinweisen, wie etwa auf die reizende Giraudoux-Szene von Chirico.

             Dabei wird niemand so geschmacklos oder so snobistisch sein, durchaus alles, was in der Ausstellung gezeigt wird, gutzuheißen oder gar in den Himmel zu erheben. Man wird sogar behaupten dürfen, daß das ungestüme Suchen so mancher Künstler die Grenzen des Möglichen gelegentlich mißachtet hat. Aber wie viel geniale Begabung ist doch hier überall ausgebreitet! Wie viel Anregungen kommen aus dieser Unzufriedenheit mit dem Übernommenen, die dennoch die große Tradition der Malerstadt Paris nie gänzlich außer acht läßt. Das ist es, was uns diese Ausstellung so wert macht: daß sie aufs neue Zeugnis gibt von der ungebrochenen Kraft der französischen Kunst, von der Freiheit ihrer Entfaltung und der weisen Selbstzucht, mit der diese Freiheit in der Regel, man darf sagen grundsätzlich, gebraucht wird. Französische Kunst ist heute anders, als sie mancher erwartet. Sie ist die gleiche, die sie einst war, in der Fülle ihrer Begabung und ihres Könnens.

In: Die Stunde, 25.2.1938, S. 4.