Karl Leuthner: Halbasien

Die emsige Forschung des wissenschaftlichen Spezialisten, die peinlich genaue Tätigkeit des an Hochschulen gebildeten Fachmannes, die sorgfältige und verständnisvolle Mühe des Arbeiters und des Bauern sind die Grundpfeiler der modernen Kultur. Man hat vor dem Kriege gern über die zeitausladende Rastlosigkeit neuzeitlicher Arbeit gemault; und lange bevor die Entente daraus ein politisches Schlagwort machte, die angebliche epische Ruhe großer Kulturzeitalter, des Zeitalters Goethes, zu dem betriebsamen, aber an Genieleistungen armen Tageslauf der Enkel ins Widerspiel gesetzt. Doch das war das Geschwätz der Kulturschmöcke, Weltanschauung aus dem Kaffeehauswinkel lungernder Bohème. Alle großen Künstler waren Schwerarbeiter in ihrer Kunst, und Goethe war es sogar außerhalb seiner Kunst, als Staatsbeamter, oft selbst zum Schaden seiner schöpferischen Muse, als Naturforscher, der das ganze Wissen seiner Zeit zu umspannen suchte. Den Dichter des Faust, den Propheten des Suezkanals, den freudigen Empfänger jeder naturwissenschaftlichen und technischen Errungenschaft zu dem planmäßigen Fortschritt wissenschaftlicher und technischer Naturbewältigung unserer Tage in Gegensatz zu bringen, heißt, weder von Goethes noch von unserer Kultur Wesensart mehr als leeren Wortschall vernommen haben. Die moderne Kultur, die sachlich auf genau arbeitenden Maschinen, auf wohlersonnenen Ersatz von Menschenkraft durch gebändigte Naturkraft und auf rationellster Ausnützung aller in der Erde und unter der Erde ruhenden Kräfte faßt, konnte nicht anders erbaut werden als durch Arbeit und wiederum durch Arbeit und noch einmal durch Arbeit. Die Kraft und Zeit auspressende Gewinngier des Kapitalismus hat bloß zu Sondervorteil mißbraucht und ins Gemeinhändlerische entstellt, was doch der Lebensatem unserer Zeit war: äußerste Kraft und Zeitökonomie und die ihr entsprechende Besinnung der Menschen, sorgfältigster, stets von Wissen, Ueberlegung und Pflichtgefühl geleisteter Fleiß.

Nachdem aber einmal diese gegenständlichen Voraussetzungen und sittlich-geistlichen Kräfte die neue Kulturwelt emporgehoben, die ihr entsprechende Lebensform gestaltet hatten, war in unserem Europa, der menschenwimmelnden Städte, des überbesiedelten Landes bis mehrere Arbeitsgesinnung aus einer Bedingung höherer Gesittung zu einer bloßen und baren Notdurft geworden. Der deutsche Adler des achtzehnten Jahrhunderts, nach Urväterart bestellt, vermochte kaum von den 30 Millionen, die Deutschland damals bewohnten, den Mangel fernzuhalten; die rationelle Landwirtschaft des neuen Deutschlands ernährte fünf Sechstel der 67 Millionen Einwohner, die knapp vor dem Kriege das Reich bevölkerten. Mit dem Kohlenertrag aus der ersten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts wären die Städte des beginnenden zwanzigsten Jahrhunderts dem elendsten Erfrieren ausgeliefert gewesen. Es führt zu der schleudernd bedächtigen Lebensweise der Väter kein Weg zurück, außer dem, der in den Friedhof mündet. Das Nebeneinander altväterlicher Schlamperei und Bummelei und der Vorteile moderner Kultur ist nur denkbar in jenen halbeuropäischen Ländern, in denen die moderne Kultur eben nicht Ergebnis und Ertrag eigener Geistesanstrengung und eigener Mühe, sondern Einfuhr aus Freude ist.

Hier in Rußland und in den Balkanländern, mit grellstem Widerspruch in der Türkei, hatten oder haben noch gleichzeitig ihren Platz die Riesenfabrik mit den neuesten aus England oder Deutschland hergeholten Rohstoffen, das Prunkhotel mit allen Wundern neuzeitlicher Bequemlichkeit und neuzeitlicher Hygiene, und das Dorf mit seinen verlausten Insassen, die mit dem Holzpflug der Vorzeit den Ackerboden mehr ritzten als aufwühlten. Doch in den Städten selbst bilden die meist aus der Fremde eingewanderten oder in der Fremde geschulten Ingenieure und die Schar von Arbeitern, die sie sich abgerichtet, nur Inseln des neuen Arbeiterbodens mitten im Schlammmeer mittelalterlicher Trägheit, mittelalterlichen Schmutzes. Den Grundstock der Bevölkerung der halbasiatischen Bevölkerung stellt eine wirre Menge von Lumpenproletariern und Händlern dar, von denen niemand genau sagen kann, wovon sie eigentlich ihr Leben fristen. Sie erzeugen allzumal nichts, sie schaffen keine Werte, sie bilden nur eine unendliche Kette von Krämern, Schleichhändlern und Wucherern, die sich zwischen den Verbraucher und Erzeuger drängt. Und diese lange Kette des Handels ist eine ebensolange Kette des Betruges, denn wie der Weltverkehr zu seiner technischen Kreditvoraussetzung die Zuverlässigkeit hat, so sind hier, wo hunderte Händler, gleich dem Ungeziefer, auf derselben Ware sitzen und sie benagen, Uebervorteilung und List Daseinsbedingungen. Doch mag sich einer aus dieser Reihe zu Millionenreichtum emporschwingen, mag er sich in Schmutz und Not weiterschleppen, alle erfüllt die gleiche Gesinnung: sie wollen feilschen und mogeln, hökern und wuchern, um nur den Schweiß ehrlicher Arbeit fliehen zu können. Und dieser Geist der Korruption durchzieht die ganze Gesellschaft. Das Händlervolk kauft sich von Gesetzen los, das der schlechtentlohnte, aber zahllos die Kanzleien bevölkernde und faulenzende Beamte verkauft, um besser leben, um vielleicht überhaupt leben zu können. Das gibt der oberflächlichen Beobachtung den angenehmen Eindruck völliger Freiheit von Pedanterie, von der Pflicht- und Paragraphenstrenge; und dient keinem besser als dem Reichtum, der hier am vollsten prassen darf, weil das Aufeinanderstoßen moderner Fabriken und alter Wirtschaftsformen und die erste, märchenhafte Ergiebigkeit unausgeschöpfter Bodenschätze unendliche Gewinne abwirft.

Nur scheinbar steht die Intelligenz zu diesem Sein und Treiben in einem Widerspruch, den man gern bei ungenügender Prüfung der ursächlichen Zusammenhänge sogar zu einem idealen Gegensatz aufgehöht hat. Im Grunde sind diese Intellektuellen des Ostens nicht anders wie die Fabriken des Ostens vollgepfropft mit den fertigen Erzeugnissen des Auslands. Sie handhaben die abgeschlossenen Ergebnisse eines fremden Denkens, das in ihrem Lande keine Entwicklung hatte oder nur in einer Aufeinanderfolge von Gedankenreflexen aus dem Ausland sich entfaltete. Sie handhaben aber dieses überkommene Geistesgut desto kühner, schreiten um so leichter zu den radikalsten Schlußfolgerungen fort, als ihnen eben die Mühe des Erwerbens nie recht anschaulich geworden ist. Sie bilden die unabhängige Jugend, denn sie hemmt nicht der ehrfurchtgebietende Anblick fruchtbarer Arbeit der Väter. Und sie erscheinen ideal allein auf das Gedankliche gerichtete, von der Enge des Brotstudiums weniger begrenzt weil ringsum nirgends das Beispiel strenger Berufsarbeit den Beruf, die gesellschaftlich notwenige Teiltätigkeit als Lebensaufgabe erscheinen läßt. Und wovon leben sie am Ende? Nicht anders als die Fürsten-, Beamten- und Lakaienstädte des achtzehnten Jahrhunderts von dem Ueberschuß des Ackerertrages im dünn besiedelten Lande, einem Ueberschuß, den der Staat für die handeltreibende und in Kanzleien faulenzende Stadtbevölkerung mit allen seinen Steuerschrauben herauspreßt.

So durften wir einst über den Osten reden. Dürfen wir es noch? Ist der Osten nicht unter uns selbst leibhaftig aufgestanden, seitdem der Krieg die Werke unserer westlichen Gesittung verwüstet und den Menschen dieser Gesittung das Herz versehrt hat? „Die Wüste wächst, weh dem, der Wüsten birgt.“ Um uns herum ist es russische Steppe geworden, Steppe eingeebneter Kultur, in unseren ehrwürdigen Kultur- und Arbeitsstädten wimmelt und wuselt die untätige Geschäftigkeit von Warschau und Berdiczew. Und es sind nicht nur Städte aus dem Osten, die ihr altehrwürdiges Handwerk in modernen Schleichhandel umgemodelt haben. Zu ihnen gesellen sich gelehrige Schüler, alles, was im Hungerleben des Krieges die Arbeit hat meiden lernen. Ein neues Lebensideal steigt auf, nicht öffentlich anerkannt, desto eifriger befolgt: zu leben ohne produktiv tätig zu sein, zu leben, indem man eine Ware, wo immer erzeugt, zinsnehmend von Hand zu Hand schiebt. Und diesem Grund- und Haupttypus des östlichen Lebens schließen sich notwendig die abgeleisteten Typen und Gestalten an. Wo der Gewinn aus dem Nichts das Ziel bildet, dort muß wildes Spiel und roh wüstes Genießen unmittelbar daneben erwachsen. Doch wenn nun Habenichtse, denen der Schleichhandel Haufen von Banknoten zugeschoben, an eine Karte, an ein Weib, an eine Flasche Sekt Summen wagen, die einst selbst die goldene Jugend auszugeben sich scheute, so gebührt es sich, daß wir zugleich in Eisenbahnzügen fahren, die von Ungeziefer fast so dicht wie von Fahrgästen überfüllt sind, und der Schmutz überall frech am hellen Tage wächst. Die gute alte Zeit kehrt wieder, wo jeder eine Nase voll nahm und sich weiter an den Stank nicht sonderlich kehrte, die gute alte Zeit zu der unsere täglich sinkende Arbeitsleistung herabzugleiten beginnt, die gute alte Zeit der Dreifelderwirtschaft, zu deren Ertraglosigkeit unsere Äcker fast schon herabgestürzt sind, Wir haben Beamte und Studierende, mit denen wir einen Großstaat ausrüsten könnten, aber bloß für vier Monate Brot und kaum für anderthalb Monate Kohle.

Wir haben alles in Ueberfluß, bloß das nicht, was wir brauchen, was zum Leben unabweislich notwendig ist. Wir stehen auf kargem Boden, in der Steinwüste einer Riesenstadt und haben keine Schätze als welche die Hand und der Geist hervorzaubern. Mit unserem Arbeitsrhythmus schwingt gleichmäßig der Rhythmus unseres Lebens. Wir können nicht feilschen, nicht hazardieren, auch nicht beim Samowar endlose kluge Gespräche führen, wir müssen erfinden und schaffen. Erfinden und Schaffen, das ist die Religion der neuen Zeit. Forschen und erfinden, schaffen und wirken, daraus erfließt auch ihr dreifacher Segen: Freiheit, Demokratie und Sozialismus.

In: Arbeiter-Zeitung, 13.8.1919, S. 1-2.

Leo Lania: Im Nebel. Skizze

Die Großstadt hatte Josef hervorgebracht. Er war ihr Werk. Und man sah es ihm an, in welcher Eile sie ihn zusammengezimmert, wie wenig Mühe sie sich mit ihm gegeben hatte.

Da war sein Kopf zum Beispiel: ein Kopf, der rund und schön, glatt hätte werden sollen wie die Köpfe aller anderen Menschen. Die Großstadt aber hatte es gemacht wie die die Jungens, wenn sie einen Schneemann bauen, hatte ihn in ihrer verfluchten Eile eine elende Stümperarbeit geliefert, und so kam es, daß Josefs Schädel lauter Unregelmäßigkeiten zeigte, Beulen und Ecken, und daß seine kurzen grauen Haare so wild und widerspenstig nach allen Seiten standen wie die Borsten einer ruppigen Bürste. Mitten in sein Gesicht hatte ihm die Stadt einen grünlichblaurot schillernden Fleischklumpen als Nase gesetzt, hatte ihm einen schwarzen, speckigen Gehrock mit auf den Weg gegeben und eine hohe, zerschlissene Pelzmütze. So war wohl Josef auf die Welt gekommen: mit der Nase, dem Rock, dem Kopf und der Mütze. Und so saß er auch müde, eine Schnapsflasche unterm Arm, am Fluß und blinzelte den vorbeiziehenden Vögeln nach und der dünnen, grauen Rauchfahne, die drüben am hohen Fabriksschlot hing – schlaff, gewissermaßen auf halbmast zur Ehre des Feiertags. Von Zeit zu Zeit stieß er mit dem Fuß kleine Steine ins lehmige Wasser.

                                                           *

So schrecklich gleichgültig ist doch das alles; Träge wälzt der Fluß seine schmutzigen, gelblichgrünen Fluten zwischen den steilen Böschungen dahin. Rückwärts, dort, wo Dunst und Rauch in einer dicken Wolkenwand gegen den Himmel steht, ist die Stadt, aus der er kommt, Licht, Leben, Menschen und Brücken, spiegeln sich Paläste und Kaufhäuser in seinen perlenden Wassern.

Auch hier draußen ist noch die Stadt. Dort rechts die Fabrik, Schlote, phantastische Gerippe aus Eisen und Glas. Und dennoch glaubt man die Stadt weit, weit entfernt.

Flußabwärts beginnt der Wald, eine graubraune Silhouette und die Nebel, die aus dem Fluß steigen, flattern wie milchweiße Schleier über den armseligen, zerzausten Bäumen.

Am anderen Ufer: Strecken freien Baugeländes und ein paar große, freistehende Mietkasernen, die aussehen, als hätten sie alle ihre Wünsche und Hoffnungen schon seit langem vergessen und seien nun verdammt, für ewig hier zu stehen, schutz- und freundschaftslos.

Weihnachtstag.

Ganz leise atmet das Leben. Fern bellt ein Hund, dann wird es still. Ein paar Krähen ziehen schreiend dem Walde zu. Dort hat sich schon die Dämmerung zum Schlafen verkrochen.

Ueber allem liegt etwas Schweres, Trostloses:  keine Trauer, die einen elegisch, nachdenklich stimmen könnte, sondern eine hoffniungslose Oede. Wozu überhaupt denken? Der Himmel von einem gleichmäßigen unbestimmten Grau ist weit entfernt und grausam kalt.

All das läßt Josefs verhutzelte Gestalt noch kleiner und unansehnlicher erscheinen. Wie in sich zusammengesunken hockt er da auf der kalten schwarzen Erde – das Gras, das im Sommer die Böschung überwuchert und ihr einen gewissen bescheidenen Aufputz gibt, ist schon längst verdorrt und eingestampft, der graue Kiesgrund schaut allenthalben durch. Josef läßt die Beine über den Fluß baumeln und döst gelangweilt vor sich hin. Woran er wohl denken mochte?

                                               *

An gestern abend dachte er; an gestern abend.

Ein feiner Herr das gewesen. Und nobel. Alles was recht ist, zehn Gläschen Schnaps ist schon allerhand. Wenn das so hinunterrinnt durch die Kehle – ganz warm wird einem dabei, in allen Fingerspitzen spürt man’s kribbeln. Aber er hat’s auch ausgehalten. O, unterkriegen läßt er sich nicht so leicht. Da haben sie Gesichter gemacht, als er so ein Gläschen nach dem anderen hinunterschüttete.

[…]

                                                           *

Da saß auf einmal das Mädchen neben ihm.

Josef hatte gar nicht gemerkt, wie sie hergekommen war. Plötzlich kauerte sie neben ihm auf der Erde, hatte die Knie hochgezogen, den Kopf in die Hände gestützt und schaute über den Fluß. Dann streifte sie Josef mit einem langsamen, müden Blick und schloß halb die Augen, als wollte sie einschlafen.

Auch Josef blinzelte sie von der Seite an, mißtrauisch.

Kein Wort wird gewechselt. Aber Josef ärgert sich: Weil man auch nie seine Ruh‘ und Frieden hat… und was sie ihn so anzustarren braucht!

Das Mädchen, siebzehn- bis achtzehnjährig, verhungert und verwahrlost, in schadhaften Schuhen und einem Samtrock, der einst sehr elegant gewesen sein mußte, hatte ein fadenscheiniges Wolltuch über die fleckige, rosa Seidenbluse geschlagen – die eckigen Schultern zeichneten sich deutlich darin ab. Das hellblonde Haar, in Löckchen gezupft, umrahmte ein hübsches Gesichtchen, das in seiner Blässe wie ausgelaugt schien und das noch fahler wirkte durch die zwei roten Flecken, die auf die Wangen geschminkt waren. Ihre blutlosen Lippen zitterten vor Kälte, daß es aussah, als murmelte sie immerfort etwas vor sich hin. Und dazu wiegte sie ihren Oberkörper, und der Kopf schwankte leise hin und her, als säße er nur ganz lose auf ihrem dünnen Hals und als hätte sie nicht einmal mehr die Kraft, ihn im Gleichgewicht zu erhalten.

Das Mädchen schob sich ganz nahe an Josef heran, immer noch ein Stückchen und noch eines […]

„Schnaps drin?“ Sie zeigte auf die Flasche, die sie unter dem Arm hielt. Eine hohe gebrochene Stimme. Dann riß ihr ein trockener Husten die Worte von den Lippen und schüttelte ihren Leib, daß sie sich in Krämpfen bog.

Nein, machte Josef mit dem Kopf und nach einer Weile:

„Das ist’s… verfluchte Kälte!“

Das Mädchen gab keine Antwort, blickte teilnahmslos, die Hand vor den Mund gepreßt, ins Leere.

„Elendiges Wetter,“ knurrte sich Josef in Wut. Es wird bald finster werden, dann kann man hier draußen krepieren wie ein Hund.“

„Hast gar keinen Schnaps?“ Und dann ganz [?] wie ein Kind, das weinen will: „Oder was zum essen?“

„Hab nichts!“ begehrte Josef auf.

Wieder Schweigen. Beide husten trocken, müde, gleichzeitig.

                                               *

Josefs Gedanken verlieren sich langsam in die Ferne:

Ja, so eine Gläschen Schnaps wär’ schon nicht schlecht… und ein anständiges Stück Brot dazu – und Speck vielleicht; wenn man dann einen solchen Bissen in den Mund steckt – wie Butter zergeht das einem auf der Zunge. Josef mußte schlucken, so trocken ist seine Kehle, und der Speichel quillt ihm wie ein Kautschukstummel im Mund. Sein Blick wird hart und finster: der Wind und die Kälte und der Hunger, die so gemein im Magen herumbohrt und keine fünf Minuten Ruhe gibt, und jetzt auch noch dies Weibsbild, das der Teufel holen mag. Ueberhaupt – sind doch alle anders. Als ob das keine Gemeinheit gewesen ist: ha ja doch dieser verfluchte Hund gestern abend Pfeffer in den Schnaps geschüttet. Na, er machte gleich einen richtigen Schluck – wie soll man das denn auch sofort merken – und dann, wie die Hölle hat das in der Gurgel gebrannt. Hunde…

Auf einmal spürte Josef den Kopf des Mädchens auf seiner Schulter. Sie hüstelte noch einmal und war dann still.

Einen Augenblick blieb Josef ganz erstaunt, regungslos sitzen. Dann kehrten seine Gedanken langsam zur Wirklichkeit zurück. Einige Minuten vergehen. Die Nebelwände scheinen vor allen Seiten zusammenzurücken, immer näher und näher, drohend und unerbittlich Hilflos, verlassen lehnt das Mädchen an Josef, als wäre es ein kleines Kind, das bei ihm Schutz sucht, und er schaut sie bloß an und rührt sich nicht.

                                                           *

Da begann das Mädchen zu schnarchen – leise, allmählich lauter.

Und plötzlich, ganz unvermittelt stieg eine übermächtige, wilde Wut gegen dies Mädchen in Josef auf. Was hat sich auch dies Weib so an ihn anzulehnen! Soll sie sich wen anderen dazu aussuchen, soll nach Hause gehen, wenn sie besoffen ist!

Durch eine rasche Wendung befreite er mit einem Fluch seine Schulter von der Last.

Das Mädchen schlug verschlafen die Augen auf, sah ihn verständnislos an – und wieder fiel ihr Kopf auf Josefs Schulter.

Noch einmal dasselbe Spiel.

„Schau, daß du weiterkommst!“ gröhlte Josef heiser. „Hast du gehört, du sollst schau’n, daß du weiterkommst!“ Josef gab ihr einen leichten Stoß in die Seite. Doch sie, müde und erfroren, hob jetzt nicht einmal die Augen, knurrte was Unverständliches und – schnarchte weiter. Pfeifend stieß ihr Atem durch die zerrissene Lunge.

Dies pfeifende Röcheln brachte Josef vollends zur Raserei: Bei dieser Kälte muß man sich das gefallen lassen! Nichts Warmes im Magen, und die schläft da wie in Mutters Schoß!

Josef will aufstehen – da hält er sie wie eine Puppe im Arm. Einige Sekunden starrt er sie verständnislos an und starrt noch, als etwas ihm selbst Fremdes wie eine rote, heiße Flamme in ihm hochschlägt. Seine Augen, ganz klein geworden, flackern in wilder Gier. „Bist ja ein ganz feines Frauenzimmer!“ schnaubt er zwischen den Zähnen hervor und spürt, wie sich ihr Fleisch durch die feine Bluse zwischen seine Finger drängt, weich und nachgiebig. Da wirft er sie zu Boden und sich wie ein hungriges Tier über sie…

                                                           *

Und dann – in der nächsten Minute – stürzt alles ein. Noch presst er sie an sich und weiß plötzlich, daß sie gar keinen Widerstand geleistet hat, und daß er etwas Lebloses im Arm hält. Da packt ihn das Grauen, huscht ihm wie eine kalte Schlange über den Rücken. In seinen weit aufgerissenen Augen spiegelt sich der schmutzige Himmel, der über dem Wald hängt. Mit einem Ruck springt er auf. Der Rausch ist verflogen. Scheppernd vor Kälte schlagen ihm die Zähne aufeinander.

Entstanden: 1918 (handschriftlicher Vermerk im Nachlass, PHK)

In: Arbeiter-Zeitung, 28.12.1923, S. 5-6.

Theresa Rie-Andro: Zwei Mädchen am Meer

Dies war das schönste: wenn Marghè im Badeanzug leichtfüßig die Treppen der Terrasse herunterstürmte, eine Klippe hinaufturnte und kopfüber ins Wasser sprang. Das schwarze Trikot umschloß sie wie der Panzer einer jungen Kriegerin, der weiße Gummihelm gab ihr etwas von einer Amazone und aus ihren Badeschuhen schienen Flügelchen zu wachsen, die ihr alle Schwere benahmen. Aber auch wenn sie umgekleidet zu Tisch erschien, war Marghè schön: dann lag ihr dunkles Haar auf klassische Art um den schmalen Kopf und ihre weißen Kleider flossen ganz von selbst zu milde bewegten Raffungen und Falten. Marghè, die eigentlich Margherita Bazzini hieß, war die Tochter einer vornehmen Florentinerin, die leidenschaftlich in der Bildhauerei dilettiert hatte, und eines römischen Malers. Ehe und Eintracht der Eltern gehörten der Vergangenheit an, aber in Marghè schien noch etwas von ihren Kunst- und Schönheitsträumen lebendig.

Wir waren ein Dutzend Menschen in diesen blauen Tagen an der Adria, und Marghè kümmerte sich um niemand sonderlich. Sie saß fast immer bei ihrer kränklichen Mutter, die ein feines, wissendes Gesicht hatte, und las ihr aus kunstgeschichtlichen Werken vor. Auch vorher, als hier noch alles von Jugend erfüllt war, sollte Marghè immer kühl und ablehnend gewesen sein. Das ging alles so, bis die Studenten kamen. Dann wurde es in dem kleinen Hotel mit einem Mal anders.

Sie kamen eines Abends, ein Bursch und ein Mädel, beide groß und schlank und so zwanzig Jahre alt – etwas abgekämpft vom Tragen ihrer Handköfferchen und mit sehr bestaubten Schuhen, denn sie hatten den Weg vom Bahnhof zu Fuß zurückgelegt. Herr Meyer, der gerade im Haustor stand, sagte: Nanu! Sie sind wohl auf der Hochzeitsreise?“ Das Mädchen zog den Jungen am Ärmel und flüsterte: „Du! Da bleiben wir nicht!“ Worauf der Bursch sie abschüttelte und brummte: „Sei nicht so albern, ja?“

Sie versuchten keineswegs, von der Wirtin, der sie ja ihre Pässe abliefern mußten, Diskretion zu erzwingen. Nein, sie gaben ganz offen zu, nicht im geringsten verheiratet zu sein. Er hieß Ernest und sie Ilse. Sie studierten an der gleichen Universität und hatten sich zusammengetan, um diese Adriafahrt zu unternehmen. Das erklärte der Junge so aufrichtig, daß selbst Herr Meyer „nichts bei“ finden konnte. Sie zogen ihre Geldbörsen und rechneten und waren selig, daß es auf zwei Mansardenzimmerchen mit voller Pension langte.

Nun hätte man denken sollen, daß es im Hotel endlose Bemerkungen über die unklaren Beziehungen der beiden gab; denn ob sie ein Liebespaar waren, blieb vielen zweifelhaft. Nie sah man sie in zärtlicher Umschlingung, sie schwammen, ruderten, segelten, kletterten miteinander, es war gar nichts „Schwüles“ um sie, wie Frau Meyer bemerkte, aber ihr Gatte sagte: „Das ist eben neue Sachlichkeit. Zwei so junge Menschen, ganz allein in Italien und obendrein unbeaufsichtigt im dritten Stock! Nee, mich macht man nicht dumm!“ Aber Meyers waren die einzigen, die Neugierde zeigten. Bei den anderen Ehepaaren riefen die beiden Sehnsucht, ja Rührung hervor. Da kam eine neue Jugend herauf, die leben durfte, wie sie wollte. Die Frauen seufzten – ihnen war eine solche Reise nicht zuteil geworden. Und auch die Männer, denen solche Liebesfahrten bekannter waren, wurden ein wenig wehmütig, wenn sie die schlanke rotbraune Ilse mit dem Hasengesichtchen ansahen; ihre Partnerinnen waren nicht so nett gewesen.

Alle waren freundlich zu den jungen Leuten, und jeder versuchte, ihnen etwas Nettes zu erweisen. Ilse taute auf dabei, die mehr Hemmungen zu überwinden gehabt hatte als ihr Kamerad. Nur eine wollte von den beiden nichts wissen: Marghè. Trotzdem es natürlich gewesen wäre, wenn ihre Jugend sich einmal zur Jugend der anderen gesellt hätte. Aber sie wandte den Kopf verächtlich weg, wenn sie dem Paar begegnete und vermied nach Kräften ein Zusammentreffen auf den Badeklippen. „Warum bist du so häßlich zu ihnen, Marghè?“ fragte die Mutter, als sie in ihren Liegestühlen auf der Veranda ruhten.

Marghè ließ den Band Burckhard sinken, aus dem sie in ihrem harten, aber klaren Deutsch vorgelesen hatte. „Mammina! Du möchtest, dass ich mit – solchen Gemeinschaft halte …!“

„In anderen Ländern ist es ganz anders als bei uns, Marghè, wo die Mädchen noch völlig in der Familie leben… Man muß sehen und verstehen. Ich wünschte, du wärst mehr wie andere junge Mädchen; du beurteilst alle Dinge des Herzens so hart!“

„Du möchtest vielleicht, daß ich auch so herumzöge?“ fragte Marghè schneidend.

„Da sei Gott vor! Nein, das muß schwer für Mütter sein. Auch für die von Ilse. Aber ich glaube ganz sicher, daß die nichts davon weiß. Denn neulich weinte das Mädchen vor Angst, weil sie eine kleine silberne Nadel verloren hatte, und ich dachte: Wenn diese Mutter schon wegen einer kleinen Silbernadel zankt… Verstehe mich recht, Marghè, du sollst nur nicht verurteilen, was du nicht kennst. Ach, Kind, ich habe soviel gesehen…“

Aber Marghè schien nicht wissen zu wollen, was die Mutter gesehen hatte. Sie nahm das Buch wieder auf und las in ihrem korrekten, etwas harten Deutsch von der Kultur der Renaissance.

Das Seltsame war, daß Ilse und Marghè einander ähnlich sahen. Nicht in der Nähe natürlich und nicht von Angesicht, denn Marghès Züge zeigten reinsten lateinischen Schnitt und hinter Ilses rötlich umbuschtem Hasengesichtlein stand in gottlob noch weiter Ferne die Häßlichkeit. Aber sie waren gleich hochbeinig und schlank, wenn Ilse auch ein wenig knabenhafter und eckiger schien, als die wundervoll fein modellierte Marghè. Sie trugen beiden die Badeuniform des Jahres, Trikot schwarz, Badehelm, Gürtel und Schuhe in Weiß, und sah man eine von ihnen kühn von den Klippen ins Meer sausen, so konnte es sein, daß man später sein Kompliment über diese sportlich prächtige Leistung an die falsche Adresse brachte: was Ilse Verlegenheit schuf, während Marghè verächtlich die Lippen kräuselte.

So ging die Woche herum, die den Studenten gehörte. Eines Abends bezahlten sie ihre Rechnung, denn am frühen Morgen sollten sie heim, und Ilse bekam bei dem Wort Tränen in die Augen, woraus man entnehmen konnte, daß „Heim“ für sie beide nicht das Gleiche war. Ernest ließ eine Flasche Asti Spumante kommen, und sie ratschlagten unter Assistenz der ganzen Terrasse, wie dieser letzte Abend, an dem der Vollmond so herrlich über dem Meere stand, besonders zu feiern sei. „Wir wollen schwimmen!“ entschied Ernest. „Hinaus in den Mondschein – Mond macht warm!“ sagte Ilse träumerisch. „Also hopp, spring hinauf und nimm dein Badezeug wieder aus dem Koffer!“ befahl Ernest. „Ich habe meines unter dem Anzug an. Vertrödle dich nicht, ich gehe jetzt noch ins Boot und hole dich in zehn Minuten an der Klippe ab!“

Das Meer war licht und perlmuttfarben, aber die Klippen lagen im tiefsten Schwarz; dennoch konnte Ernest im Dunkel den weißen Badehelm, die weißen Schuhe schimmern sehen. „Los, ins Wasser! Ich mache nur den Kahn fest und komme dir nach!“

Gehorsam sauste die schmale Gestalt mit prachtvollem Schwung ins Meer und tauchte gleich wieder auf. Ernest sprang ihr nach. Plötzlich hatte er ein sonderbares Gefühl: „Aber das ist doch nicht Ilse!“ „Du!“ rief er leise. Das Mädchen senkte den Kopf aufs Wasser und begann zu kraulen. Ernest war in ein paar Stößen an ihrer Seite. „Marghè!“ flüsterte er. Er hatte kaum je mit ihr gesprochen, nur gehört, daß man sie so rief.

Marghè war ganz nahe bei ihm und doch weltenweit getrennt durch kühles Element. Warum war es Marghè? Wozu setzte sie sich an Ilses Stelle? Sie waren jetzt im hellen Mondschein, alles war wie ein Zauber, fremd und doch bekannt; hatte er das in seiner Seele schon lange geträumt? „Marghè!“ rief er nochmals leise und wollte ihre Hand fassen, aber sie bog ab. Er begriff, daß es nicht größere Nähe gab, als die, in der sie schon waren.

Sie hatten das Tempo verlangsamt, zogen schweigend nebeneinander her, und vor ihnen war blasse, schimmernde Unendlichkeit. Nichts war zu hören als das leise Rauschen, mit dem sie die Wellen teilten. Man verlor das Gefühl für Zeit und Raum. Ernest wusste nicht, war sein Körper eins mit dem Meer geworden. Oder mit Marghè.  

Das Licht war nun bis ans Ufer gedrungen, und auf der Klippe stand Ilse allein. Sie hatte sich, wie immer, ein wenig vertrödelt, und nun glaubte sie zu träumen. War Hexerei in dieser Mondnacht möglich? Stand sie zugleich hier und schwamm weit draußen mit Ernest? Aber gleich erkannte sie die Wahrheit. Marghè, Kühlste aller Kühlen, hatte ihr heimtückisch dieses Erleben des letzten Abends gestohlen!

Sehr einfach, dachte Ilse wütend. Man geht ins Wasser und ihnen nach. Verbieten kann ich Marghè das Meer nicht, aber sie mir auch nicht. Indessen begriff sie sofort das Lächerlichste einer solchen Situation. Überdies sahen von der Hotelterrasse oben sicherlich Leute diesem nächtlichen Mondbad zu. Grotesk, wenn neben einem weißen Helm ein zweiter auftauchte, wenn die Lage offenbar würde!

Nun wandte sich Marghè dem Ufer zu und Ernest mit ihr. Sie schwiegen beide und ihr Schwimmen war lautlos, es war, als ob das wundervolle Wasser sie trüge oder der Mond. Das Meer war seidenglatt, sie zogen Furchen darin, schimmernd wie Platin.

Dann sprang Marghè ans Ufer und sah Ilse stehen. Beide Mädchen hielten sich gerade aufgerichtet und blickten einander an. Sie waren gleich groß, gleich schlank, fast gleich gekleidet, aber dennoch hätte man sie jetzt nicht verwechseln können. Wie Kämpfer hatten sie ihre Helme abgenommen, die sonst nur eben die Nasenspitze freigaben. Aus Marghès Gemmenantlitz und aus Ilses Hasengesichtlein blitzten entschlossene, kampflustige Augen. Zwei Mädchen standen hier, aber auch zwei Charaktere, zwei Nationen, zwei Weltanschauungen – was hatten sie sich zu sagen?

Doch in den großen Augenblicken des Lebens pflegt nicht gesprochen zu werden. Vielleicht bedrängten sie ihre Gedanken zu heftig, als daß sie ihnen Ausdruck verleihen konnten, vielleicht hatte keine von ihnen die Gabe des richtigen Wortes. So standen sie nur eine Weile und sahen sich an. Der schuldig-unschuldige Mann hielt sich hinter ihnen: entschieden verlegen, einen Ausbruch der beiden befürchtend und doch leise hoffend, wie auf ein prächtiges Naturschauspiel.

Endlich blickte Marghè von Ilse fort, die dastand, gehemmt und rechtlos, im Innersten empört und doch die Aussichtslosigkeit ihrer Lage begreifend. „Ich danke vielmals für den Ausflug!“ sagte Marghè in ihrem harten klaren Deutsch. „Ich wollte versuchen. Aber ich weiß jetzt: nicht für mich! Es tut mir leid, wenn ich gestört habe. Ich wünsche eine gute Reise!“ Sie sagte das nicht triumphierend, sondern sehr ernst und nachdenklich, beinahe traurig. Dann schwang sie sich von der Klippe zur Erde nieder, die im Dunkel lag, und verschwand.

Als sie den gleichen Felsen am nächsten Morgen wieder erklomm, um von hier mit einem Kopfsprung ihr tägliches Bad zu beginnen, waren die Studenten schon lange fort. Sie saßen in der Eisenbahn mit bestaubten Schuhen und recht abgemüdet vom Schleppen ihrer Handkoffer, die schwer waren von dem noch nicht recht getrockneten Badeanzug. Ernest war sehr nett zu Ilse, legte ihr seinen Rock auf die Holzbank unter und kaufte ihr grünrosige Fei-* Feigen auf der Station. Alles war wie sonst, und nichts schien geschehen. Aber dennoch wußte Ilse mit dem Hasengesichtlein, daß nicht nur die Reise, sondern auch mancherlei anderes dem Ende zutrieb.

In: Die Bühne, H. 380 (1934), S. 20f und S. 52.