Hugo Bettauer: Die verfluchte Stadt.

             Vorwurf für ein grotesk-phantastisches Drama, das Oskar Panizza hätte schreiben können: Gottvater, erzürnt, weil ihm sein Ebenbild so wenig gelungen ist, beschließt, die entartete Menschheit tüchtig zu bestrafen und wendet sich, wie immer in solchen Fällen, an Satan. Der faßt einen echt satanischen Plan. Die Menschheit soll aus den Ebenen und Bergen haufenweise zusammengetrieben werden und so genötigt sein, zu Zehntausenden und Millionen miteinander zu leben, auf daß sie ihre bösen Eigenschaften und Instinkte gegeneinander ausleben müssen und jede ihrer schlechten Taten zur vollen Geltung kommt. Auf diese Art sind die Städte entstanden, von denen aus sich alles Übel über den Erdball ausbreitet, denn Kriege und Pestilenz, Haß und Gemeinheit, Kapitalismus und Bolschewismus, verderbte Liebe und Wahnsinn, Brudermord und Kubismus – dies und alle anderen schrecklichen Dinge haben ihre Geburtsstätte und ihren Nährboden nur in der Stadt, werden dort zu Beulen, die, wenn sie platzen, ihren giftigen Eiter über die Länder spritzen.

             Heute ist die Welt mit solchen Sammelstätten des Verbrechens und Grauens ordentlich bespickt. Da aber die Menschen klug und zäh sind, haben sie aus ihren Großstadtnöten eine Tugend gemacht, Licht, das von selbst brennt, unter- und überirdische Bahnen, Fernsprecher, Automobil und Kanäle zur Beförderung ihres Unrates erfunden und, vergessend, daß alle diese Erfindungen eigentlich Verzweiflungsausbrüche sind, höhnen sie die noch nicht in die Stadt gepreßten, die das, was sie Komfort nennen, entbehren müssen, ja, dafür keine Verwendung haben. So sind die Millionenstädte zu riesigen Maschinerien geworden, in denen der einzelne von dem Tosen der Treibriemen und dem Surren der Räder so betäubt wird, daß er gar nicht zur Besinnung seiner selbst kommt, ja es sogar als herrlich empfindet, daß man auf das fünfte Stockwerk hinauffahren kann, als wenn es eine große Errungenschaft und kein Jammer wäre, überhaupt fünfte Stockwerke zu haben. Bis von Zeit zu Zeit irgend etwas an dieser Maschine in Unordnung gerät und sich dann die ganze Erbärmlichkeit einer auf Rädern, Treibriemen und Batterien aufgebauten Existenz erweist. Wir haben jetzt eine solche Woche hinter uns, in der es sich deutlich gezeigt hat, wie furchtbar das Leben in der Großstadt an sich ist, wenn der künstliche Mechanismus stillsteht. Nur zwei Tage dauerte der Streik der Eisenbahn, der Post, des Telephons und diese zwei Tage genügten, um zu erfahren, daß man in der Millionenstadt verlassener, einsamer, hilfloser lebt, als auf der höchsten Alm. Am schwersten wurde das Telephon entbehrt. Es hab zwar zum erstenmal in der Geschichte des Wiener Telephons keine falschen Verbindungen, aber auch keine richtigen. Das Leben war einfach wie erdrosselt. Ich weiß ganz sicher, daß, wenn ich meinen Verleger anrufe, ich ihn nicht erreichen werde, weil sich die Zentrale nicht melden wird oder die Beamtin ihren schlechten Tag hat und nicht will oder weil sie mir bis zum Zerspringen ihr monotones „Besetzt bitte, leider“ ins Ohr plärren wird. Aber immerhin – die Möglichkeit der Verbindung besteht, sie kann doch gelingen und wenn ich verzweifelt das Höhrrohr abhänge, tröstet mich das Bewußtsein, daß es vielleicht später gehen oder der Verleger mich anrufen wird. So aber lebte man ins Leere hinein, zitterte bei dem Gedanken, wer weiß was zu versäumen, hatte das Gefühl, stumm geworden zu sein und hilflos wie ein kleines Kind.

             Dann kam dieser überaus sympathische Streik der Straßenbahner und die Großstadt verwandelte sich mit einem Ruck in die Hölle, die sie auch sonst ist, ohne daß man es aber immer merkt. Man stelle sich vor: Eine Stadt mit zwei Millionen Menschen und einer Ausdehnung, wie keine zweite Stadt auf dem europäischen Kontinent, ohne irgend ein ernstlich in Betracht kommendes Verkehrsmittel! Es gibt ja ungefähr dreitausend Automobile in Wien und sie sind ohnedies wie verrückt durch die Straße gejagt, aber schließlich sind es doch nur zehntauend Menschen, die von ihnen Gebrauch machen können, und zwar mehrstenteils solche, die eigentlich im Interesse des Gesamtwohls besser zu Hause bleiben würden. Die anderen aber, die arbeiten müssen, die unter dem ehernen Zwang der Jagd nach blauen und braunen Fetzen stehen, die zwar nichts wert sind, aber doch vor dem Hunger schützen, diese anderen Million Menschen stand fassungslos mitten in einer Wüste von Hitze und Staub erfüllt und mußte auf verfluchten Granitwürfeln, deren Kanten die Sohlen zerschneiden, phantastische Entfernungen zurücklegen. Wie ein Strom wogte es durch die Straßen, in der Früh dem Zentrum zu, abends gegen die Peripherie, und alle diese Männer und Frauen, Mädeln und Burschen schienen mit erloschenen Augen, Falten um den Mund, grünlich-gelbe Wangen und Wut im Herzen zu haben. Und wenn ich die Blicke sah, mit denen die schreitende Schar den vorbeirasenden Automobilen folgte, so erschrak ich vor so viel dumpfen Haß, Neid und Verzweiflung, die, auf Millionen verteilt, ungefährlich, einmal gesammelt und konzentriert, furchtbar sein können.

             Die trostlose Abhängigkeit, in der wir Städter leben, mag wohl jedem in diesen Tagen gedämmert haben. Die Abhängigkeit vom guten und bösen Willen der anderen, von einem gerissenen Treibriemen, dem Bruch eines Wasserrohrs. Zehntausend Menschen wollen mehr Lohn, als man ihnen geben will, und zwei Millionen Menschen müssen mit keuchender Lunge sich die Fußsohlen wund laufen! Eine winzige Bleisicherung brennt durch und eine fröhliche Gesellschaft muß aus dem Dunkel des Hauses auf die Straße flüchten, die Übeltat einer organisierten Mörderbande und sechzig Millionen Deutsche stehen unter der Fuchtel des Ausnahmegesetzes, ein Schutz am Peter- und Paulstag und die ganze Welt stand in Flammen. Und der Streik, der Mord, der Schutz wird immer nur in der Stadt geboren.

             Gott hat die Menschen geschaffen und der Teufel die Städte…

In: Der Morgen, 3.7.1922, S. 5.

Hugo Bettauer: Die Neujahrsnacht der Banknoten.

             Um einen grünen Tisch herum sitzen wohlbekannte Gestalten, um sich nach rastloser Wanderung einer kurzen Muße hinzugeben und bei Punsch und Krapfen den Eintritt des neuen Jahres abzuwarten; der Einser, der Zweier, der Zehner und Zwanziger, der Fünfziger und Hunderter, der Tausender und Zehntausender haben genau nach Rang und Wert ihre Plätze eingenommen. Zwei Stühle sind für weitere Gäste reserviert. Der Einser und der Zweier befinden sich in despektierlichem Zustand. Abgerissen, fetzig, schmutzig, klaffende Risse notdürftig mit Heftpflaster verklebt, in sich zusammengesunken sitzen sie da, als wollten sie demnächst verenden.

             Dem Zehner ist die Nachbarschaft ersichtlich unangenehm, er rümpft die Nase, schüttelt sich vor Ekel und brummt wütend:

             „Ihr hättet auch lieber zu Haus bleiben können. Ordentlich kompromittieren tut Ihr die ganze Gesellschaft!“

             „Na, na, spiel‘ dich nicht auf, Zehner,“ ruft der Hunderter höhnisch, „schaust ja selber schon wie ein Pülcher aus! Auf ja und nein wird sich nach dir auch keiner mehr bücken wollen.“

             „Mir alle san halt strapaziert,“ keucht der beleidigte Zweier!

             „Volksfreunde san mir,“ echot der Einser, „Kinderfreunde und Genossen der notleidenden Klassen!“

             Das war zu viel der Anstrengung, der Einser rutscht vom Stuhl hinunter und sein Oberkörper trennt sich vom Unterleib. Der Zweier bückt sich, um dem Genossen zu helfen, dabei kommt auch er zu Fall und der Zehner stoßt sie beide wütend mit dem Fuß beiseite.

             Der Tausender beschwichtigt die Aufgeregten. „Laßt’s die armen Hascher lieger! Sie haben ja eh‘ die längste Zeit schon kein Leben mehr g’habt! Wann i der Hausherr wär, tät ich sei im neuchen Krematorium verbrennen! Kosten eh‘ mehr, als sie wert san!“

             Der Zwanziger will sich noch nicht beruhigen! „Eine Schande ist es, so mit uns umzugehen! Auf ja und nein kann uns allen dasselbe geschehen! In den letzten Wochen habe ich schon genug Schimpf und Schande erleben müssen.“

             Der Tausender reckt sich, wirft funkelnde Blicke aus den braunen Augen und meint:

             „Es herrscht eben keine Achtung und Ehrfurcht mehr in diesem Lande, seit der gute Kaiser Karl…“

             „Nichts von Politik,“ brüllt der demokratisch gesinnte Hunderter dazwischen.

             Der Tausender begehrt auf: „Wer etwa behauptet, daß ich Monarchist bin, ist ein Verleumder! Aber einen Herrn brauchen wir, sage ich! Wissen Sie, was mir neulich beinahe geschehen wäre? Beim Heurigen war es, als nach kräftigem Genuß von neuem Wein und Powidlgolatschen sich so ein reich gewordener Selcher beinahe, weil er nichts anderes zur Stelle hatte, mit mir…“ Die anderen Worte flüsterte der Tausender indigniert den Nachbarn zu, von denen der Hunderter erbleichte, während der Zehntausender in schallendes Gelächter ausbrach.

             „Allerdings, mir könnte das nicht so leicht passieren! Na, ja, schließlich bin ich auch unter den geänderten Verhältnissen ein Wertfaktor, den man respektieren muß!“

             „An Schmarrn bis du,“ kreischt der kranke, schäbige Zehner im Bewußtsein, eh‘ auf dem letzten Loch zu pfeifen. „Du und der Tausender, Ihr seid nichts als Schwindler, besonders seitdem Ihr von hinten wie die Zwillingsbrüder ausschaut.“

             Mit philosophischer Ruhe mengt sich der Fünfziger ein. „Meine Herren, geben wir uns keinen Illusionen hin, Schwindler sind wir alle! Jeder von uns will etwas vorstellen, was er nicht ist, und ob einer sich Tausender nennt oder Zehntausender, in Wirklichkeit ist er ein Dreck!“

             „Da muß ich doch sehr bitten,“ meint scharf der Zehnstausender. „Ich als der Erste und Beste unter Ihnen denke in diesem Punkt wesentlich anders…“

             Die Tür geht auf und der Herr Fünftausender tritt ein. Einen Moment ist alles baff, der Glanz des nagelneuen Gewandes, das der späte Gast trägt, fasziniert, der Hunderter vergißt seine demokratische Gesinnung , der Zehner seinen beleidigten Zustand, beide springen auf, um den Fünftausender an die Spitze der Tafel zu führen. Da schlägt der Zehntausender mit der Faust wütend auf den Tisch.

             „Oha, das wär‘ noch schöner! Da links von mir ist der Platz für den neuen Herrn, denn ich bin noch immer der Rangältere.“ Und spitz wendet er sich an den verwirrt und verlegen ins Licht blinzelnden Fünftausender:

             „Der Herr hat wohl mit Erfolg in Valuta spekuliert? Unsereins kann sich nämlich nicht so ohneweiters ein neues Gewand leisten.“

             Verdrossen, geknickt, zerrissen wacht der Zwanziger aus dem Halbschlummer auf.

             „Tun’s Ihnern nix an, Herr Präses, Sie gehören ja selbst zu den neuen Reichen, die was im Jahr 1914 noch gar net auf der Welt waren!“

             Der Fünftausender setzt sich artig, fühlt die neidischen und bewundernden Blicke und denkt sich: In eine schöne Gesellschaft bin ich geraten! Wer weiß, vielleicht schau‘ ich bald auch so aus, wie der stinkerte Zehner da!

             Jetzt kommt aber breitspurig, mit wuchtigen Schritten, würdevoll der letzte Gast, der Kommerzialrat Fünfzigtausender. Vergebens hat er sich allegorisch einzukleiden versucht, er sieht entschieden „eingewandert“ aus und je vornehmer er sprechen will, desto mehr jüdelt er.

             „Platz da, meine Herren,“ ruft er und setzt sich breitspurig an die Spitze der Tafel. „Hast ä Hitz, was Sie da haben! Nü, Herr Tausender, Sie sehen auch schon etwas mitgenommen aus, von die anderen Herren gar nicht zu reden! Und Sie, Herr Zehntausender, Ihnen ist auch nicht ganz wohl? Also,ich sag‘ Ihnen, jetzt, wo ich da bin, wird ein neuer Zug in die Sache kommen! Reißen wird man sich um mich und was echter Kavalier ist, wird gar nicht ohne mir in die Bar gehen wollen!“

             Und schon schließt sich alles gegen den neuen Eindringling zusammen. Der Zehntausender rückt von ihm ab und vom unteren Ende der Tafel werden stürmische Rufe“ „Schieber! Schieber! Schieber“ laut. Der Zehner kreischt: „Haut’s den Hebräer tor“, der Hunderter brüllt: „Wart nur, bei der nächsten Plünderung!“

             Der Lärm wird so groß, daß im Café „Zentral“ am Literatentisch, wo eben heftig über Stendhal, Daimler, Goethe, Julisüd, Wildgans und Chemosan diskutiert wurde, Unruhe entsteht. Die Türe fliegt auf und der Hausherr, Herr Gürtler, kommt mit der Nachtmütze auf dem Kopf und einem Staberl in der Hand.

             „Ruhe, Bagage, elende! Wan i euch allemiteinander nur schon los wär, ös elendige Gauner, ös! Marsch ins Steueramt mit euch! Aber rasch, sonst hol i mein Freund, den Rosenberg, und lass‘ euch alle zusammen abstempeln!“

In: Der Morgen, 2.1.1922, S. 4.

Raoul Auernheimer: Börsenjugend

Zwei bescheidene Erinnerungen mögen dieser bescheidenen Zeitbetrachtung vorangehen.

Die eine liegt ungefähr fünfzehn Jahre zurück und rankt sich um einen allerdings nicht sehr hoch gewachsenen deutschen Dichter der damaligen Zeit, der zur Aufführung eines seiner Reimlustspiele am Burgtheater nach Wien gekommen war und dem in einer gewählten Gesellschaft zu begegnen ich das Glück hatte. Jener deutsche Dichter war zu jener Zeit kein jungen Mann mehr, er stand vielmehr bereits in den gewissen reiferen Jahren, die man in Nekrologen gern mit einiger Übertreibung als „Vollkraft des Schaffens“ bezeichnet. Sein Schaffen war nicht unbelohnt geblieben, und da nichts umsonst ist, am wenigsten der Gelderwerb, so ist es begreiflich, daß der gefeierte Autor in den Kreisen der damaligen literarischen Jugend mehr für einen Geschäftsmann als für einen im Blauen schwärmenden Poeten galt. Immerhin war ich enttäuscht, als ich sein erstes Wort vernahm, das im Rauchzimmer noch vor dem Nachtmahl fiel. Er stand schweigend abseits, an den Türpfosten gelehnt, und schien, die Augen nach aufwärts gewandt, wie es sich für einen deutschen Dichter gehört, an dem Gespräch keinen Anteil zu nehmen, das mehrere Herren, unter dem Kronleuchter dicht beisammen stehen, über die neue Russenanleihe – ein fernes Wort! – fachkundig führten. Der Dichter gab sich den Anschein, gar nicht zuzuhören, mußte aber doch auf dem Laufenden sein, denn plötzlich trat er unter die Kritiker jener Anleihe und sagte, das ganze Gewicht eines hochangesehenen Namens in die Wagschale werfend: „Und Sie mögen sagen, was Sie wollen, meine Herren: Es ist doch’n Geschäft!“ Die letzten, in unverkennbarem Berliner Tonfall gesprochenen Worte blieben mir in Erinnerung, verschmolzen mit der Persönlichkeit ihres Urhebers, und wann immer ich in der Folge Verse von ihm irgendwo hörte oder las, immer mischte sich in das poetische Reimgeklingel des achtbaren Mannes jener zuerst gehörten Worte fatales Nebengeräusch: “Es ist doch’n Geschäft!“

             Die zweite Erinnerung liegt ungefähr vier Jahre zurück und hat mit Literatur noch viel weniger zu tun. Sie betrifft einen damals halbwüchsigen Gymnasiasten, der, inmitten einer größeren Gesellschaft, in der gleichfalls eifrig finanzielle Fragen erörtert wurden, plötzlich aus sich heraustrat und sein Vertrauen zu einem in Rede stehenden Börsenpapier in einer Weise kundgab, die auf eine längere Erfahrung und gründliche Beschäftigung mit diesem Gegenstande schließen ließ. „Meiner Ansicht nach,“ sagte der Sechszehnjährige mit der ruhigen Bestimmtheit eines Bankdirektors, „haben Reisschäl-Aktien noch immer eine Zukunft. Ich halte das Papier.“

             Die beiden Erinnerungen haben das Gemeinsame, daß sie sich seither verallgemeinert haben. Weder aus Dichtermund noch aus dem Munde unserer aufblühenden Jugend haben Börsenkurse heut noch etwas Überraschendes, am wenigsten aus diesem. Allenfalls wird man es erstaunlich finden, das erste erwachen derartiger Regungen einer finanziellen Pubertät an das verhältnismäßig vorgerückte Alter von sechzehn Jahren gebunden zu sehen. Die heutige Börsenjugend fängt im allgemeinen schon bedeutend früher an; nicht nur, daß ihre frühe geschäftliche Weisheit das Erscheinen der Weisheitszähne nicht abwartet, sie verträgt sich unter Umständen auch recht gut mit dem noch weit kindlicheren Stadium der Milchzähne. Man erzählt mir von einem dreijährigen Zeitkind, dem sein Vater oder Taufpate bei der Geburt ein paar Lire in die Wiege gelegt hat. Der Kurs der Lire hat sich in diesen drei Jahren nicht unerheblich verändert, wie sogar die Erwachsenen bemerkt haben, und so ist es begreiflich, daß der aufgeweckte Sprößling sich bei erwachendem Bewußtsein seines zunehmenden Reichtums bewußt wurde. In jüngster Zeit soll sich dieses Valutakind bereits aus eigenem Antrieb nach dem täglichen Stand der Lire bei Besuchern des Kinderzimmers erkundigt und am Ende auf Grund reiflicher Erwägung, vielleicht mit Rücksicht auf den italienischen Kredit, zum Verkauf seiner kostbaren Lire entschlossen haben. Man kann den kleinen Dreikäsehoch zu dieser hochherzigen Handlungsweise nur beglückwünschen, selbst wenn sie mehr geschäftlichen Erwägungen – etwa einer möglichen Valutaanforderung durch den bösen, bösen Finanzminister? – entsprungen sein sollte. Wenn sie bei den Erwachsenen Nachahmung fände, so wären wir wahrscheinlich fein heraus. Aber die Erwachsenen denken nicht daran. Sie behalten ihre Valuten und spekulieren weiter gegen den Staat, das heißt, auf sein Zugrundegehen. Das gilt ja heut in eingeweihten Kreisen als die sicherste Kapitalanlage. …

             Denn es ist keine Frage, daß das Spiel der Kinder – wenn ich sage Spiel, meine ich natürlich Börsenspiel – in dem Spiel der Erwachsenen seinen, wenn auch nicht gerade moralischen Hintergrund hat. Es ist wie in der „Familie Benoiton“, einem alten Burgtheaterlustspiel, das, wenn man es wieder aufführte, überraschend jung und zeitgemäß wirken dürfte. Dort tritt ein Freier auf, der in eine der Töchter des Börseanerhauses verliebt ist. Er begegnet zunächst ihrem Brüderchen, dem fünfzehnjährigen Fanfan, und er benützt die sich ihm bietende Gelegenheit, um sich über die Sitten der Familie ein wenig zu unterrichten. Wenn dann fünf Minuten später Papa Benoiton nach Hause kommt, weiß der neugierige Freier bereits genug, und wenn Fräulein Benoiton gleich darauf selbst erscheint, so viel, daß er beherzt die Flucht ergreift. Der kleine Fanfan macht Geschäfte, versteht sich, Börsengeschäfte. Er spekuliert in Briefmarken, und zwar à la hausse – „immer à la hausse!“ ruft der Erzeuger dem „auf die Börse“ eilenden Sprößling mahnen nach – und er hat sich in diesem Zusammenhang einen ganz hübschen, räuberischen, kleinen Plan zurechtgelegt, um die „anderen kleinen Börseaner“ hineinzulegen. Der Fischzug, den Fanfan mit einem Konsortium seiner Altersgenossen plant, hat zur Voraussetzung die väterliche Information, daß im Amerikanischen Freiheitskriege – die Zeit der Handlung – die Südstaaten voraussichtlich unterliegen würden. Fanfan macht sich diesen Wink zunutze und kauft heimlich im Verein mit seinem Konsortium alle südamerikanischen Markenzeichen auf, deren es in Bälde keine mehr geben wird und die infolgedessen einer ungeheuren Wertsteigerung entgegengehen. Auf diese einfache Weise hofft Fanfan, reich zu werden, und reich zu sein, ist der einzige Traum dieser jungen Knabenseele, wie seiner heutigen Nachfahren. Er „liebt die reichen Leute“, weil sie, wie er dem Besucher naiv gesteht, „so schöne Wagen, so schöne Wohnungen und Kleider haben“. Sein Ideal ist die väterliche Kasse, eine schwere „eiserne Kasse mit einem Geheimschloß“, und seine größte Kränkung, daß seine Kasse aus Holz ist und nur ein ganz gewöhnliches Schloß hat. … Wenn man an Stelle der unschuldigen Briefmarken in dieser hübschen Szene den Namen irgendeines unserer Spielpapiere setzt und Fanfan um zwei Jahre jünger macht, so hat man ein ziemlich ähnliches Bild unserer heutigen Börsenjugend, ähnlich genug, um darüber zu lachen und vielleicht sogar, um darüber zu weinen. Übrigens ist die erste der beiden dramaturgischen Verbesserungen vielleicht gar nicht einmal unbedingt notwendig. „Man kann mit allem wuchern, auch mit Menschenleben“, sagt Hebbels Herodes. Man kann, wie unsere Philatelisten aus Erfahrung wissen, auch an Briefmarken ein schönes Stück Geld verdienen.

             Im Verlauf der Szene, die uns die Seele des Bürschchens Fanfan entschleiert, entdeckt uns auch der wackere Papa Benoiton die seine, und auch diese Stelle liest sich heute sehr anzüglich. Papa Benoiton seinerseits hat in seiner Jugend keineswegs mit Wertpapierchen gespielt, sondern mit Bleisoldaten und kleinen Kanonen. Aber die schlechten Erfahrungen, die man mit der militärischen Gloire gemacht hat, haben ihm die Grundsätze einer ganz anders gerichteten Erziehung eingegeben. Sie beruht auf einem offen eingestandenen Materialismus. Als Fanfan klein, das heißt, als er noch kleiner war, spielte er mit einer kleinen Wage, einem kleinen Kompaß, einer kleine Geldkasse. Sein Sinnen und Trachten ist auf das Gegenständlich-Nützliche, dem materiellen Genusse Dienliche gerichtet. Diese Einstellung ist am Ende nichts anderes als der natürliche Rückschlag gegenüber der unklaren militärischen Gloire, die Abkehr von den Sünden des Militarismus.

             Ähnlich, wenn auch nicht ganz gleich, liegen die Verhältnisse im heutigen Österreich, und nicht nur in Österreich. Auch wir haben die längste Zeit mit Bleisoldaten gespielt, und es ist am Ende nicht zu verwundern, daß die Kinder wie die Erwachsenen an diesem Spiel gründlich die Lust verloren haben, und, bitter enttäuscht, in die platte Welt der Geschäfte flüchten. Der jetzigen Börsenjugend ging eine Heldenjugend voran, die für unbezahlte und unbezahlbare Ideale glühte und daran verbrannte. Damals in jener heut schon märchenhaft fernen Zeit des kriegerischen Seelenaufschwunges, war das erste Wort, das die von der Mutterbrust abgesetzten kleinen Kinder aussprechen lernten, das Wort „Brotkarte“. Heut ist es das bedeutend ausländischer klingende Wort „Valuta“. Noch früher, vor der Brotkarte, war der erste artikulierte Laut hergebrachter Weise „Papa“. Es war eine noch regelmäßige Welt, die fest gefügt in festen Formen bestand, und es ist begreiflich, daß sie heute vielen als eine ideale Welt erscheint. Allein auch dieses patriarchalische „Papa“-System hat, wie sich gezeigt hat, seine bedenklichen Nachteile. Das patriarchalische System ist das absolutistische und ein schlecht beratener Absolutismus – jeder Absolutismus ist seine Natur nach schlecht beraten, weil er sich nur von Günstlingen, die sich ihm unterwerfen, beraten läßt – hat uns am Ende soweit gebracht. Die Verdienermoral hat jede andere beerbt und die grünste Jugend schwelgt in Börsenkursen, an den sie die Erwachsenen sich begeistern sieht. Die jungen Mädchen haben ihr Bankkonto bei irgendeinem kleinen und manchmal auch jungen Bankier, dessen Adresse die Eltern nicht immer kenn, die Gymnasiasten lesen den Kurszettel unter der Bank, und in die erste Liebeserklärung mischt sich der letzte Tip. Alles gibt, alles nimmt, und alles verdient, wenn auch nur in Kronen – ein Trost, wenn auch nur ein schwacher, für den Moralisten.

             Im übrigen hat es der Moralist in diesem Punkte, wenn er gerecht urteilen will, nicht ganz leicht, schwerer jedenfalls als der alter Macher Sardou, der sich in jenem Stücke über ähnliche Erscheinungen der Aufschwungs- und Gründerzeit einfach lustig machte. Daß die Jugend selbst für diese Ausartung am wenigsten verantwortlich zu mache ist, liegt auf der Hand. Auch hier bestätigt sich die volkstümliche Weisheit von den Jungen, die nur zwitschern, wie die Altern sungen. Die jungen Mädchen, die für ihre laufenden Toilettebedürfnisse ihr Börsenkonto bei dem manchmal nicht ganz ungefährlichen kleinen Bankier sorgen lassen, haben fast immer eine Mutter, die selbst an der Börse spielt, das Valutakind hat meisten einen Valutaonkel, und der Geschäfte machende Gymnasiast, der jederzeit einen guten Börsentip, wenn nicht gar Rohöl oder Gummireifen „an der Hand“ hat, ahmt in neun unter zehn Fällen nur das väterliche Beispiel nach. Aber auch die Väter und Mütter sind nur halb verantwortlich zu machen; die andere größere Hälfte der Verantwortung trifft den Staat, der durch die ständige Geldverschlechterung das Börsenspiel geradezu zu einem Akt der Selbsthilfe und überdies – da man sich auf die Notenpresse verlassen kann – zum ungefährlichsten aller Glücksspiele gemacht hat. Allenfalls kann man den Eltern daraus einen Vorwurf machen, daß sie ihre Hoffnungen und Sorgen etwas zu ungezwungen im Beisein der unmündigen Jugend (wenn es so etwas überhaupt noch gibt) erörtern.  Etwas mehr Zurückhaltung und – Geschmack wäre in dieser Hinsicht den Erwachsenen dringlich zu empfehlen. So wie man sich in Gesellschaft nicht kratzt, sollte man auch nicht fortwährend über Börsenkurse reden, zumindest in jener Gesellschaft, die den Ehrgeiz hat, auch noch etwas anderes zu sein als eine Erwerbs- und Wirtschaftsgenossenschaft zur Auswertung des jüngsten Börsentips. In den preußischen Offiziersmessen der Vorkriegszeit entstand die sinnreiche Einrichtung, daß jeder, der nach neun Uhr abends im kameradschaftlichen Beisammensein das Wort „Dienst“ gebrauchte, eine kleine Geldbuße in die Regimentskasse zu entrichte hatte. Eine ähnliche Einführung sollte man auch in Bezug auf Aktien und ähnliche Dinge in unseren Abendgesellschaften treffen – nur dürfte die Buße nicht zu klein sein. Allerdings müßte man nebst dieser Geselligkeitsakte auch noch einige andere Gesetze schaffen: vor allem eines, das die Spekulation in ausländische Valuten, das heißt die Spekulation auf den Zusammenbruch des eigenen Staates, endlich als dasjenige brandmarkt, was sie tatsächlich ist, nämlich ein Verbrechen; (Mit Schreckgesetzen ist leider, wie tausendfache Beispiele der Geschichte zeigen, die Spekulation niemals unterdrückt worden. Anm. d. Red.) und ferner eines, das das wüste Rasen der Notenpressen, diese Affenschande der Besiegten, endlich kategorisch abstellt. Geschähe dies, so würde auch unsere verjobberte Jugend wieder idealistisch werden: sie ist es im Grunde, und man muß ihr nur die Gelegenheit geben, es zu sein.

In: Neue Freie Presse, 9.7.1922, S. 1-3.

Arthur Rutra: DER WEG

Es ist wieder ein Kampf! Ein doppelter Kampf. Die Jungen stehen gegen die Älteren, die Jüngsten gegen die Jungen. Die Triebkräfte dieser Bewegung sind deutlich erkennbar; sie wurzeln in der Hast des Jahrhunderts und haben durch die Jahre des Krieges, der das Tempo des Lebens zu amerikanischen Rekordleistungen hinaufpeitscht, noch eine weitere Steigerung erfahren. Wenn man auch den Krieg mit allen seinen Folgeerscheinungen als ein rein akzidentelles Ereignis betrachtet, so darf die Beeinflussung des Moments wegen der ungeheuren Gefahr, die sie birgt, nicht von der Hand gewiesen werden. Der Instinkt der Gewalttätigkeit ist wachgerufen und seine Macht, die stets die Ausrede der Bequemlichkeit für sich haben wird, ist nicht zu unterschätzen. Dilettanten werde sich ihm mit Freude verschreiben, die Guten und die Besten, die dem Inferioren gegenüber stets schwächer sein werden, preisgegeben oder gezwungen, mit ihm zu paktieren.

Diese Bewegung ist allgemein und mannigfaltig sind die Spielarten der Form, die zur Äußerung kommt. Es gibt Bewegungen, es gibt Fluida, es gibt Hochstapelei tiefster seelischer Überzeugung. Alles drängt, sucht und tastet – wonach? … Nach dem Platz, auf dem wieder eine Kathedrale errichtet werden kann, über dem sich die Gotik einer neuen Zeit erheben könnte? … Vielleicht. Berufen sind die einen, die anderen auserwählt. Und beide glauben. Die drängen und in ihrer Stabilität verharren. Die Jungen und Jüngsten haben längst den Platz, auf dem die Alten und Älteren stehen, aufgegeben und suchen eine neuere Welt – die anderen verteidigen einen Platz, der ihnen gar nicht streitig gemacht wird. Sie sprechen von Dichtkunst; den einen ist sie Kultur, den anderen Ekstase. Kultur baut auf Kultur, Ekstase wirft sich in die Welt und verliert sich an sie. Beide begehen einen Fehler: denen die Dichtkunst Kultur ist und die unbekümmert weiter Seit auf Stein fügen, vergessen, dass kulturelle Werte vernichtet, gefährdet und verschoben wurden; sie bauen weiter und merken nicht, dass Teile morsch geworden sind… Und sie vergessen, dass das Gefüge verwittern kann. Die Ekstase aber nimmt zu vieles auf, sie ist wahllos und verschwendet sich ebenso gerne an die Metaphysik wie an den Journalismus. Sie hat das starke Erlebnis der Gegenwart noch nicht in sich aufgenommen, während die andere es an sich vorübergehen ließ. Ihre Entschuldigung ist, dass sie jung ist – wie das Alter der anderen. Sie nimmt Erscheinungen wichtig, die vorübergehender Natur sind, weil sie alles wichtig nimmt, weil sie ernst ist und von der Fruchtbarkeit des Augenblicks aufs tiefste erschüttert. Und beide sind ehrlich: in ihrer Blindheit und in ihrer Übersichtigkeit.

Was ist aber Dichtkunst? Ekstase ist ein Bekenntnis – Kultur ein Glaubensbekenntnis. Ein Bekenntnis kann ein Pamphlet sein, eine Proklamation, kann auch – Dichtung sein. Dichtkunst ist geläuterte Ekstase, kultivierte, wenn sie den Weg über die Seele nimmt. Immer aber wird Ekstase das Primäre sein.

Gegensätze sind immer gewesen, sie sind auch heute vorhanden, schärfer denn je, wenn auch nicht so offensichtlich und durch Umgangsformen gemildert. Die Alten werfen den Jungen vor, dass sie Schriftsteller sind, Buchstabensetzer, die Jungen sagen wieder von ihnen, dass sie keine Dichter sind, oder doch solche, denen das Kostüm einer verblichenen und überwundenen Zeit am Leibe festgewachsen ist. Können, sollen Gegensätze versöhnt werden, bis der Ausgleich in ewigem Wechsel neue zeugt? Versöhnung ist Kompromiss. Die Gegensätze müssen sich verstärken, bis sie über sich selbst hinausgewachsen und zur Norm geworden sind. Dann werden sie wieder durch neue abgelöst werden.

Wer ist aber alt und wer ist jung? Jung ist nicht mehr der Tag, denn das Morgen ist jünger und das Gestern trägt schon verwitterte Züge. Darum sind die Jungen von heute den Älteren von gestern verbrüdert. Und der Wechsel der Tage ergibt ein Chaos. Dieses aber ist das Versöhnende, denn es gebiert oder es wird gebären, bis es gesättigt, bis es genügend befruchtet ist. Befruchtet von allen, die sagen: „wir“. Bis einer emporwachsen wird, der ausspricht: „Ich!“

Hier liegt das Geheimnis: von allen, die leben, lebt jeder nur, weil er „wir“ gesprochen hat. Nähme man es ihm – das Schemen, das er ist, träte schärfer hervor, Das „wir“ ist seine Stärke – wie das „ich“ seine Schwäche offenbaren würde. Es ist die Berufung auf andere, die Flucht vor der eigenen Unzulänglichkeit. Er lebt nicht, weil er da ist, weil er sein Leben fühlt, sondern weil er fasziniert ist von einer Unwirklichkeit, die er für Leben hält. Er glaubt gesteigerter zu leben und lebt wirklich nur flacher. Er wähnt tätiger zu sein und ist in Wahrheit untätiger. Er bildet sich ein, zu bauen, und er zerstört nur. Nicht einmal das, denn er hat nicht die ewigen Gesetze des Wachstums erforscht. Leben, wirken, schaffen kann nur der, der sich am Wachstum emporrankt, dessen Seele den Gleichklang hat mit dem ewigen Schlag des Lebens. Nur dieser, der hinablauscht in seine Seele, in der sein zweites Gesicht die Wahrheit verkündet, der hinauflauscht in den Weltraum, aus dem ihn Millionen Spiegelungen grüßen, wird „ich“ sagen können. Dieser wird auch tätig sein, denn er wird Opfer bringen können, durch seine eigene Stärke. Dieser wird auch bauen, denn er wird die Steine mit eigenen Händen heranschaffen. Dieser wird sich wegwerfen in der Ekstase und sich wiederfinden in der Sammlung. Und wird schweben im ewigen Mysterium des Seins.

In: Der Anbruch, H. 8/1918, S. 6-7.

Georg Fröschel: Lob des Spiels

An einem Ast im Tiergarten baumelte ein Erhängter. Als man die Leiche abgeschnitten hatte, fand man in den Taschen des Selbstmörders ein leeres Zigarettenetui aus Holz, ein Portefeuille mit einem Barbetrag von 17 Mark, ein reines, jedoch sehr zerschlissenes Taschentuch mit einer siebenzackigen Krone und einige beschriebene Blätter, die wir im folgenden wörtlich wiedergeben:

             „Man tut dem Spiel unrecht. Es ist banal, das obligate Verdammungsurteil nachzuplappern. Von einem höheren Gesichtspunkte aus ist die Ansicht von der moralischen Verwerflichkeit des Spiels unhaltbar. Für den Bürger zum Beispiel ist das Spiel eigentlich die einzige Entschuldigung. Der Bürger lebt sonst dahin, an der Erde und am Geld klebend – schläft, ißt, arbeitet und zeugt Kinder. Er weiß nichts von den Dingen, die er nicht tasten kann, nie glüht er, nie wagt er sich über sich selbst hinaus. Nur wenn er spielt, tut er einen Blick in die andere Welt, in ihre unwürdigste und trübste Ecke vielleicht, aber doch in die Welt des Irrealen und Ungegenständlichen. Nur wenn er spielt, hat er eine Spur von Phantasie. Dann gibt es für ihn Dinge, die er sonst nicht kennt, Träume, Aufregungen, und Kämpfe, von denen sein plattes Leben sonst nichts weiß. Der Künstler, der spielt, tut unrecht, denn ihm ist die andere Welt auch ohne Karten und Würfel geöffnet, ihm winken bessere Göttinnen als Fortuna mit ihrem leeren Lächeln. Der Spießer aber, der spielt, ist doch reicher, als der Spießer, der die Karten verachtet. Er weiß mehr von sich und der Welt und sein enges Leben hat ein schmales Fenster ins Freie.

Auch der Staat als solcher dankt dem Spiel viel.

             Das Spiel gab zum erstenmal die Regel, die über den Menschen steht, zwang sie, ihr Tun und Lassen einem höheren Prinzip unterzuordnen. Das Spiel schlug die erste Bresche in die Dispositionsfreiheit des Menschen und ist vielleicht deshalb die Keimzelle des Staates.

             In den Urzeiten, da der Mensch noch ungesellschaftlich existierte und gleich dem Tier den Zusammenhang zwischen Zeugung und Geburt noch nicht begriffen hatte, lebte er ganz ohne Unterordnung unter fremden Willen, bloß eigenen Trieben und Wünschen folgend. Aber als der Urmensch zum erstenmal von der Jagd ermattet vor niedergehendem Gewitter in einer Höhle Schutz suchte und dort den anderen Menschen traf und sie dann, zu müde, um sich zu erschlagen, ihre Beute gemeinsam am Feuer breiten und der eine spielend den Hüftknochen des Elentieres in die Höhe warf, der mit der rauchgeschwärzten Seite nach oben liegen blieb und dann der andere dasselbe tat, und der Knochen die weiße Seite zeigte, und als dieses Tun allmählich zum bewussten Speil ward, und die fette Keule demjenigen als Preis ausgesetzt wurde, der das nächste Fallen des Knochens richtig voraussagte, da war nicht nur das Spiel, da war auch das Gesetz und mit ihm ein Wesentliches des Staates geschaffen.

             Von einem außerhalb des menschlichen Willens sich ereignenden Geschehnis war menschliches Tun und Lassen abhängig geworden. Zum erstenmal duldete ein Mensch, der verlierende, etwas, wozu ihn nicht faktische Gewalt, sondern freiwillige Unterwerfung unter eine Konvention nötigte.

             Bedeutsam ist es, daß diese sich dem Gesetz des Spieles Unterwerfen seinen stärksten Ausdruck bei den alten Germanen fand, die im Spiel auch die persönliche Freiheit einsetzten und auch diesen Preis, für den sie sonst bis zum letzten Blutstropfen kämpften, willig zahlten. Sie bewiesen schon damit ihre Sendung zur objektiven Staatsbildung und ihren Beruf zum Bürger, der dem über ihm schwebenden Gesetz willenlos untertan ist und über dem der Staat wie ein rocher de bronce, wie eine eherne und unerbittliche Gottheit errichtet werden sollte.

             Der Staat schützt die Rechte des Spiels nicht durch die Gewalt seiner Exekutivorgane, aber das Spiel schützt sich selbst, indem es die Spielerehre schuf. Sie wird nicht hoch gewertet und doch ist sie die einzige Form der Ehre, die im Laufe der Menschheitsgeschichte keine Änderung erfahren hat.

             Alle anderen Ehrbegriffe haben den Kreislauf von ehrlos zu ehrwürdig wiederholt durchlaufen. Die Geschlechtslehre hat sich in der Entwicklung der Jahrtausende ihrem Inhalt nach ebenso geändert wie die Standesehre, wie die Auffassung vom Eigentum und vom Staat. Nur die Spielerehre ist die gleiche geblieben. Einer materialistischen Auffassung der Ethik sollte dies ernstlich zu denken geben. Wenn die Skeptiker alle Argumente für sich haben, die sagen, daß der Mensch das Gute nur tue und das Schlechte nur unterlasse, wenn äußere Gewaltmittel ihn hindern oder abschrecken, seinen Trieben nachzugeben, wenn behauptet wird, daß die Moral im ganzen bloß der Ausdruck der bestehenden Machtverhältnisse sei, so bleibt dem Idealisten schließlich nichts als das verachtete Spiel zum Beweise der menschlichen Güte.

             Im Spiel allein bewies und beweist der Mensch seine Achtung vor dem frei geschlossenen Übereinkommen, vor der Abmachung auf Treu und Glauben, die durch keinen Polizisten geschützt werden muß. Im Spiel allein beugt sich und opfert der Mensch freiwillig einem höheren Prinzip, ehrt den Vertrag und damit sich selbst.

             Ich habe die Gesetze des Spieles bis zum Ende erfüllt.“

Der Polizei gelang es nach einiger Zeit, die Leiche des Selbstmörders zu identifizieren. Es war Tiburce Freiherr von Hollenbach-Verault, der das ungeheure Vermögen, das er von seinem Vater ererbt, völlig im Spiel verloren hatte. Seine Gattin, Marie Yvonne, geborene Gräfin Chaloniakowska, war bereits ein paar Jahre früher in öffentlicher Armenpflege gestorben, sein Sohn Horace hatte Dienste in der Fremdenlegion genommen, seine Tochter Eugenie galt als eine der reizvollen Kokotten in der internationalen Lebewelt.

In: Der Tag, 13.4.1923, S. 4.

Carl Marilaun: Die jungen Männer

„Der ‚junge Mann von Welt’, dessen österreichischer, Wienerischer Spielart Richard Schaukal, ein älterer Mann von Welt vor zehn Jahren ein ironisch-apologetisches Brevier gewidmet hat, ist im Aussterben begriffen. Er war ein ‚junger Herr’, und servierte seine tadellos manikürte, nach dem Journal des Londoner Schneiders equipierte und hinreißend gescheitelte Eleganz jeden Mittag in der großen Korsoauslage zwischen Graben und Kohlmarkt. Er war bei Demel zu treffen oder in der Weinstube der Berta Kunz, er plauderte mit Frau Anna Sacher unter der roten Glashalle ihres Hotels, er stand wie angewachsen an der Sirk-Ecke, man traf ihn in der Burgtheaterloge und beim Stelzer, und sein Vormittag in der Statthalterei oder am Ballhausplatz war nur die Einleitung zum Gustostück seines nicht allzu anstrengenden, aus lauter angenehmen, aber dringenden Nebensächlichkeiten bestrittenen Daseins: zum Gang über Graben und Kärntnerstraße, wo man eine Menge von Leuten Gutentag zu sagen und einer Unzahl schöner Frauen die Hand zu küssen hatte.

Heute gibt es nur noch junge Männer in der Gegend des ‚jungen Herren’. Das hübsche, etwas nichtige, nette und küssdiehandgeschäftige Gesicht des jungen Mannes von Welt ist auch auf dem wohlsituierten Korso nicht mehr zu erblicken. Wie es überhaupt auch keinen eigentlichen Korso mehr gibt, welche Tatsache ich natürlich keine melancholische und nicht einmal eine bissige Betrachtung zu knüpfen ersonnen bin. Graben und Kärntnerstraße sind belebter als je, und die jungen Männer, die man dort trifft, tragen zwar bereits Anzüge und Winterröcke des Londoner oder eines nicht billigeren Wiener Schneiders, aber sie behalten den Hut auf dem Kopf, wenn sie mit dem gewissen, unangenehm und impertinent taxierenden Blick des jungen Mannes von heute mit ihren Damen sprechen. Zu ihrer Entschuldigung könnten sie allerdings anführen, daß die Damen danach sind, wenigstens meistens. Der gesellschaftliche Verkehr vollzieht sich auf der Basis einer gegenseitigen und wahrscheinlich wohlangebrachten Geringschätzung. Man trifft sich mittag auf dem Kohlmarkt und begrüßt einander mit einem Augurenlächeln, das vermutlich anderen, weniger gesellschaftsfähigen, aber Gott sei Dank zurückliegenden Begegnungen gelten dürfte. Wenn diese neuen Herrschaften „Guten Tag“ zueinander sagen, klingt es so ungefähr wie: „Weit haben Sie’s gebracht!“ Und da sich die heutige Gesellschaft auch als beste Gesellschaft nicht gern ein Blatt vor dem Mund nimmt, kann man auf dem Kohlmarkt nicht so selten einen jungen Mann im Gürtelüberzieher seine Dame, die einen Pelz von Drecoll oder Grünbaum trägt, mit dem auf dem Graben und Kohlmarkt geflügelt gewordenen Wort begrüßen hören: „Seit wann gehen Sie hier spazieren?“

Worauf der unbeteiligte Zuhörer unter Zuhilfenahme des gesellschaftlichen Jargons eigentlich sagen müßte: „Weit gebracht!“ Aber meistens sagt es schon die Dame selbst.

Man sollte glauben, daß der junge Herr, den es nicht mehr gibt, das am lebhaftesten erstrebte Ideal der jungen Männer von heute wäre. Aber wer dies glaubt, irrt sich vielleicht doch in der Psyche dieser aufsituierten und bereits auf eine bewegte Jugend zurückblickenden Fünfundzwanzigjährigen. Diese jungen Herren haben wirklich andere Sorgen. Ihr Lebensinhalt ist keineswegs der Raglan, den sie tragen. Daß er teuer ist, versteht sich von selbst; daß er beim ersten Schneider bestellt wurde, ist selbstverständlich. Aber er wird lediglich angeschafft, bezahlt und getragen, weil man es sich leisten kann. Man trägt ja auch den wundervoll gerade gezogenen Scheitel des jungen Herrn, aber dieser Scheitel ist eigentlich Sache des Friseurs; eines teuren Friseurs, der für das Geld, das er bekommt, alle unterrichtet, und man knüpft hier jene Verbindungen an, die man in der Taborstraße vielleicht verfehlt hätte.

Wirklich Junge trifft man nicht mehr am Korso. Nur Zwanzig- bis Fünfundzwanzigjährige, denen die Züricher Devisenkurse oder ein greifbarer Posten Chiffon, es können aber auch Schuhnägel sein, den holden Wahn längst ausgetrieben hätte, wenn sie von solchen Torheiten überhaupt jemals etwas auf Lager gehabt haben sollten. Das Leben birgt für sie keine Rätsel und Hindernisse, über die andere gestolpert wären, beseitigen sie mit einem Telephonanruf. Für sie funktioniert nämlich sogar ein Wiener Telefon, denn sämtliche Verbindungen, die sie brauchen, haben sie längst.

Glattrasiert, mit einem Raubtierkinn, breitschultrig, starknackig, gehen sie ihres Wegs; unverträumt, unbelästigt von Widrigem, keinem bösen Zufall anheimgegeben, aber für jeden günstigen parat. Ihnen gehört die Welt. Und davon, daß Schwächlinge in ihr nicht leben können, profitieren sie.

In: Prager Tagblatt, 24.12.1920, S. 3.

Ernst Fischer: Theater und Technik

            Es wird im Allgemeinen zu viel von den geistigen, zu wenig von den technischen Bedingungen des Dramas gesprochen. Gewiß: das Drama fordert geistige Haltung, fordert ein Weltgefühl voll Spannung und Konzentration, fordert den Schicksalsglauben in irgendeiner Form; wer in allen Ereignissen nur den Zufall sieht, wer das Leben in ein Durcheinander winzigster Atome auflöst, wer im Einzelfall nicht die allgemein gültige Logik des Lebens entdeckt, ist nicht fähig, ein Drama zu schreiben, ein Drama zu genießen. Aber nicht davon, nicht vom geistigen Prinzip des Dramas, über das schon allzuviel Gutes und Schlechtes, Gescheites und Dummes geschrieben wurde, sondern von anderen, sehr entscheidenden Voraussetzungen soll hier die Rede sein.

            Die Form des Dramas ist nicht nur Ausdruck der Lebensform, sondern auch in hohem Maße Ausdruck der technischen Bühnenmöglichkeiten einer Epoche. Die berühmten ›aristotelischen Einheiten‹, Einheit der Zeit, des Ortes und der Handlung, können zweifellos als Ausdruck einer strengen, aristokratischen Ordnung gewertet werden, aber sie sind auch  bedingt durch den unvollkommenen Theatermechanismus , der einen raschen Wechsel der Szenen nicht gestattet. Überall, in Griechenland wie in Frankreich, sprengte die Ausgestaltung des Bühnenapparates die alte Einheit des Dramas; umgekehrt erlaubte es die Primitivität etwa des elisabethinischen Theaters in England, in dem das szenische Bild nur flüchtig angedeutet wurde, dem Dramatiker, den Schauplatz der Handlung hundertmal zu wechseln. Die tiefen, oft sehr komplizierten, durchaus nicht in eine klare Formel zu fassenden Zusammenhänge zwischen der gesellschaftlichen Struktur und dem Interesse an technischen Dingen, zwischen der gebundenen Form eines Fürstenhofes, der Metrik und der Tragödie, der freieren eines erwachenden Bürgertumes, der Sprache und des Theaters sollen hier nur erwähnt, nicht ausgeführt werden; es handelt sich nur um die Konstatierung, daß die technischen Möglichkeiten des Theaters die Form des Dramas außerordentlich beeinflussen.

            Diese technischen Möglichkeiten sind heute ungeheuer; der Regisseur ist ein Zauberer, der mehr vermag als alle lebenden Dichter. Im Theater hat die Technik, wie überall, den Geist zurückgelassen, das Lebendige überholt. Der Mensch erlebt zwar von Zeit zu Zeit, was sein Gehirn ersonnen, was seine Hände geformt haben, aber nur selten, in schöpferischen Augenblicken; durchschnittlich haften wir alle gefühlsmäßig noch in Jahrzehnten, die nicht mehr sind, haben wir seelisch noch nicht das Wesen der Zeit erobert. Menschen, deren tägliche Arbeit brennende Gegenwart, Sturm in die Zukunft ist, empfinden in ihrem Privatleben kleinbürgerlich, als säßen sie in der Garten//laube, Organisatoren internationaler Wirtschaft sind in nationalistischen Torheiten stecken geblieben, revolutionäre Arbeiter bejahen den faden Geschmack einer Welt, die sie täglich verneinen. Ähnlich geht es den Dichtern; entweder begreifen sie nicht, daß ihre Phantasie, die Fülle der Geschichte sich so üppig entfalten darf wie nie zuvor, weil die moderne Bühne das alles vergegenständlichen kann, oder sie sind besoffen von den Potenzen des technischen Apparates und lassen sich von der Maschinerie bemeistern, anstatt sie zu meistern.

            Das neue Drama, das den Inhalt der Zeit in neuen Bühnenformen ausdrückt, existiert noch nicht, wohl aber gibt es interessante Experimente, zukunftsatmende Skizzen zu diesem neuen Drama. Charakteristisch ist die Tendenz, alle Einheiten des Dramas aufzulösen, die Handlung durch eine rasche Szenenfolge zu peitschen, Stockungen zu vermeiden, dem Tempo der Ereignisse breite und gründliche Motivierung aufzuopfern; die bis in alle Details durchgeführte naturalistische Dekoration verschwindet vollkommen, der Schauplatz der Handlung wird nur angedeutet, Scheinwerferlicht und technische Konstruktionen ermöglichen einen hastigen, pausenlosen Wechsel der Szenen. Die immer wieder vorgebrachte Behauptung, der Film habe das Drama vergewaltigt, die Konkurrenz mit dem Kino habe die alte Geschlossenheit des Bühnenbildes zerstört, halte ich nicht für richtig: Büchner und Strindberg, die nichts vom Kino wußten, haben die strengen Gebundenheiten nicht weniger kühn gesprengt als die modernsten Dramatiker und die Technik hat unabhängig vom Film das Theater revolutioniert.  Zweifellos bestehen tiefe Zusammenhänge zwischen der Form des Films und der Form des modernen Dramas; aber den Film einfach als Ursache und das Drama als Wirkung zu setzen, ist ganz verfehlt. Beide spiegeln das Wesen der Zeit, beide werden von den gleichen Kräften gespeist, und es wäre sonderbar, würden sie einander nicht ähnlich sein. Wir sind dem Tempo der Technik verfallen, nicht nur symbolisch, sondern auch höchst real; und so gehorcht der Dichter, wenn er bei keiner Szene, bei keiner Situation zu lange verweilt, nicht nur der Unruhe seines Geistes, unseres Geistes, sondern auch den Forderungen des Regisseurs, der den ihm zur Verfügung stehenden Apparat nützen will.

            Aber nicht nur das rasche Nacheinander der Szenen, auch das Nebeneinander verschiedener, sich durchwirrender und durchkreuzender Ereignisse und Schicksale ist typisch für das Theaterstück der Gegenwart. Das entspricht unserem Leben – Wand an Wand, Tür an Tür, Weltanschauung an Weltanschauung, was wissen wir voneinander, wie sonderbar verknüpft uns der Zufall! – das entspricht auch der Möglichkeit, auf der Bühne eine Szene unmittelbar der anderen gegenüberzustellen, die Zeit zum Raume zu wandeln. Der Dramatiker, der mit der Schwerfälligkeit des Bühnenapparates zu rechnen hatte, mußte im Interesse eines reibungslosen Ablaufes die Vielheit des Lebens// kunstvoll der Einheit der Handlung unterordnen: er brauchte daher irgendeinen Haupthelden mit einem Hauptschicksal, und Nebengestalten mit Nebenschicksalen, eine Handlung und eine Reihe von Episoden. Heute aber ist es möglich, die Episode, dieses leidige Beiwerk, zurückzudrängen und in einem Drama mehrere gleichwertige Schicksale, die einander ergänzen und erhellen, zu gestalten. So kann der Dramatiker heut eine ganze Zeit mit all ihren Widersprüchen und all ihren Gegensätzen auf die Bühne stellen, so kann er ein Kollektivschicksal gestalten, ohne daß solch ein Drama als »unaufführbar« von jedem Theaterdirektor abgelehnt werden muß.

            Dazu kommt, daß die moderne Beleuchtungstechnik einen Bühnenraum aufbaut, der von Sekunde zu Sekunde sich wandeln, jeder Szene sich anpassen kann, der nichts mehr mit schwerfälliger und pedantischer Naturalistik zu tun hat, sondern ein magisches Kunstwerk ist. Das ›Milieu‹, in dem nun ein Drama spielt, ist nicht mehr dieser oder jener Winkel der Welt, diese Stube und jener Garten, sondern die Atmosphäre der Zeit mit ihren Maschinen und ihrer Musik, mit ihren Städten und ihren Stürmen, nicht mehr eine bemalte Kulisse, vorgetäuschte Natürlichkeit, sondern der Seelenraum, in dem unser Leben geschieht. So kann man, ganz anders als einst, geschichtliches Ereignis, Krieg und Revolution auf die Bühne beschwören, so kann man, ganz anders als einst, historische Zusammenhänge bildhaft, im Aufblitzen und Verlöschen eines Scheinwerfers darstellen, so kann man etwa Die letzten Tage der Menschheit von Karl Kraus aufführen. Und so kann man auch, ganz anders als einst, die Dramen Shakespeares in ihrer Fülle und Üppigkeit, in ihrer hemmungslosen Gewalt und Schönheit spielen.

            Nur einige Möglichkeiten moderner Bühnentechnik sollten hier angedeutet werden; es kann kaum bezweifelt werden, daß diese neuen Formen der Regie neue Formen des Dramas hervorrufen werden. Denn von der Bühne und nicht vom Schreibtisch her ist jedes große Drama gekommen.

In: Kunst und Volk H. 10 (Juni) 1929, S. 293-295

Fred Heller: Wiener Spiegelbilder. Nachttänze

            Ein Uhr nachts. Alle Gaststätten sind geschlossen, die letzten Schlaflosen wandern nach Hause. Ein junger Mann darunter, Bankbeamter – natürlich, was sollte er denn sonst sein, möchte man sagen -, vom Familienkonzert im Café nicht allein befriedigt. Aber um ein Ihr nachts ist auch das Abenteuer bereits schlafen gegangen, die wenigen Leute, die ihm begegneten, gähnten aus aufgestellten Rockkragen hervor.

            Plötzlich, in einer kleinen Gasse, die den Heimweg abkürzte, trat dem jungen Mann ein kleiner dicker Herr entgegen.

            Gelindes Erschrecken, Griff nach der Hosentasche rechts außen. Nach der Brieftasche.

            Doch der Herr zieht höflich den Hut, sagt guten Abend, und fragt, mit den Fingern schnippend:

            „Nichts los mehr, was, junger Herr? Sie gingen gewiß noch gern zu einer kleinen Unterhaltung.“

            „O, nein, ich . . . ich gehe nach Hause.“

            „Schade!“ macht der andere. „Ich wüßt’ was ganz Exquisites. Nackttänze, junger Herr.

            Du lieber Gott, welcher junge Mann würde auf das hin nicht – wenigstens theoretisch – neugierig!

            „Wo?“ erkundigte sich das Bankbeamtchen.

            „Ein paar Schritte weit. Ich führe Sie hinauf.

            Hinauf – aha, Privatwohnung. Das war interessant. Nur eines: „Das Entree?“

            „Tausend Kronen. Und für die Adresse nach Belieben,“

Der Führer hielt diskret seine Hand hin. Offen.

            Als er seine Rekommandationsgebühr hatte, schritt er voraus.

Drei, vier Häuser weit. Vor einem unauffälligen Haustor blieb er stehen, zog einen Schlüssel, öffnete und ließ den späten (er sagte „frühen“) Gast ein.

            Im Hausflur war’s stockdunkel.

            „Leise!“ befahl der Führer. Nach ein paar Schritten aber hielt er den Besucher aus Wien zurück und flüsterte: „Bleiben Sie hier einen Augenblick stehen. Ich mache drüben im Hoftrakt Licht. Dann folgen Sie mir vorsichtig. Im Hause hier darf man ja keine Ahnung haben, Sie verstehen!“

            Der junge Mann verstand. Und stand still. Wartete mit Herzklopfen, bis drüben Licht gemacht werden würde. Doch – es wurde nicht. Es wurde nicht Licht, es wurde bloß eine Tür geöffnet, dann blieb alles still. Eine Viertelstunde lang.

            Der herausgeklingelte Hausmeister schaute den unbekannten jungen Mann groß an. Schließlich führte er ihn über den Hof zum Hinterhaus, das einen eigenen Eingang hatte, in der Parallelgasse. Den ihm beschriebenen Herrn kannte der Hausmeister nicht. Aber er verstand allmählich.

„Morgen wird ein anderes Schloß ans Haustor g’macht. Da kann ja wirklich jeder Schlosserg’sell . . .!“

            Der junge Mann hatte den Hausmeister stark im Verdacht des Einverständnisses. Er wollte sofort zur Polizei. Aber – er ging nicht. Weil er sich ein bißchen schämte. Und weil man ja nicht weiß, ob man wegen Besuches von Nackttänzen, selbst wenn sie gar nicht existieren, nicht auch noch mit Arrest bestraft werden kann.

Das Freundschaftsband.

            Der Gymnasiallehrer für klassische Philologie besaß einmal so viele Freunde, daß er sie kaum zählen konnte. Man nannte ihn allgemein einen ungemein sympathischen Menschen, mit dem zu Verkehren ein Vergnügen. Dabei vermochte der Unvoreingenommene nichts Besonderes an ihm zu finden. Er ist ein Normalmensch in des Wortes weitester Bedeutung. Von seiner Normalfigur angefangen bis zu seinem Lieblingsgespräch über unregelmäßige Verba. Doch gerade die Normalfigur war’s, die ihm so viele Freunde schuf. Ja, die Normalfigur und der dazu gehörige Frack. Der klassische Philologe besaß nämlich einen prächtigen Frack, den er selbst nie trug, dessen Existenz er aber einmal verraten, damals, just vor einem Jahr, und seither wuchs seine Freundesschar zusehends. Und wenn man so recht in freundschaftliche Gespräche vertieft war, kam stets der eine oder der andere auf den Frack zu sprechen, und das Resultat war, daß der Professor ihn dem einen oder dem anderen für eine Nacht gern leihen wollte, um ihm den Besuch eines Balles, einer Redoute zu ermöglichen; er selbst ging ja ohnehin nicht zu Tanzfesten.

            Der Frack verband das Dutzend gute Freunde mit dem Gymnasiallehrer so fest wie das innigste Freundschaftsband. Ueber den ganzen Fasching. Dann, in den Wochen darauf, bleib einer nach dem anderen aus dem Stammcafé weg. Der Professor vereinsamte mehr und mehr und schließlich stand, beziehungsweise saß er wieder ganz allein an seinem Tischchen.

            Man zeigte sich ihn, wenn von der Freundschaft die Rede war. Ein Opfer. Ein Zeuge für den Eigennutz und alle sonstigen Schlechtigkeiten der Menschen.

            Seit kurzen jedoch beginnen sich die ehemaligen Genossen der unregelmäßigen Verba wieder einzufinden. Einer nach dem anderen. Am Tisch des Professors sitzen bereits wieder sechs. Und jeder findet ihn ungemein sympathisch und nennt es eine Tücke des Schicksals, daß man so lange auf das Vergnügen verzichten mußte, mit ihm zu verkehren.

            Der Gymnasialprofessor ist aber jetzt wirklich freundlich. Er läßt alle in ihm schlummernden geselligen Künste wach werden, um seine Runde zu unterhalten. Selbst auf das Gespräch über die unregelmäßigen Verba hat er verzichtet, um das Freundschaftsband von einst – über das bisher taktvoll jede Bemerkung vermieden worden ist – durch seine inneren Werte zu ersetzen. Denn den Frack – o über den Augenblick, da es herauskommen wird! – den Frack trägt sein drei Vierteljahren der Oberkellner. Derselbe, der die neue Freundschaftsrunde bedient.

Causa X.

            Zu einem der ersten Wiener Rechtsanwälte kam ein Mann, einen Rechtsfall vorzutragen. Er versicherte den Advokaten seines besonderen Vertrauens, da man ihn ihm sehr warm empfohlen hätte. Daraufhin erzählte er den Fall.

            Es war eine verworrene Erbschaftsgeschichte. Der Großvater hatte, so berichtete der Klient, zweimal geheiratet, und da hätten sich dann seine Kinder aus erster Ehe mit den Kindern, welche die zweite Frau, eine Witwe, in die Ehe brachte, verheiratet. Von einem dieser beiden Paare sei er ein Sohn. Vor einem halben Hagre nun war der Großvater gestorben und hatte ein außerordentliches Vermögen hinterlassen. Es stritten sich jetzt die verwickelten Verwandtschaftsverhältnisse um das Recht des Anteils, um das teilweise auch testamentarisch verteilte Vermögen herum.

            Der Rechtsanwalt notierte die Daten. Er fragte mancherlei, denn es war mancherlei nicht gleich klar und dem Klienten schien die Angelegenheit sehr zu Herzen zu gehen, so nervös war er. Es schien ihm die Information reichlich lang zu dauern.

            Aber endlich erklärte sich der Advokat, der ja, wie gesagt, eine Leuchte in seinem Fach war, hinlänglich informiert und er zweifelte scheinbar auch nicht daran, daß der Sohn der Tochter und des Stiefsohnes seiner Großmutter sowie des Sohnes und der Stieftochter seines Großvaters ein durchaus berechtigter Erbe sei.

            Der Klient legte die geforderten Dokumente vor und unterschrieb die Vollmacht. Dann reichte er dem Rechtsanwalt als Vorschuß auf die Expensennote dreißigtausend Kronen, ohne Widerrede, ja geradezu mit Zuvorkommenheit.

            Hierauf ging er.

            Er hatte eine noble Art, die Tür zu schließen. Beinahe unhörbar. Ein feiner Mensch!

            Der Rechtsanwalt schrieb sofort die nötigen Briefe. Das Diktat dauerte allerdings viel länger als fünf Minuten. Der Doktor mußte nämlich zu Gericht. Er hatte es eilig. Und überdies ärgerte es ihn, daß er von dem so überaus bereitwilligen Klienten nur dreißigtausend Kronen Vorschuß verlangt hatte. Noch mehr ärgerte er sich jedoch, als er im Vorzimmer seinen kostbaren Stadtpelz nicht fand.

            Fort war er. Gestohlen. Von dem überaus bereitwilligen Klienten. Der sich den Spaß mit dem Pelz, der zweieinhalb Millionen wert war, bereitwilligst dreißigtausend Kronen hatte kosten lassen.

In: Neues Wiener Journal, 08.01.1922, S. 4.

Ludwig Hirschfeld: Das Wiener Leben ein Fiebertraum. Eine Influenzaphantasie

            Ab und zu ein bißchen krank sein, das ist heute der Gesundheit sehr zuträglich. Miserabel fühlt man sich jetzt doch nur, solange man gesund ist, seinen Mitmenschen, den behördlichen Einfällen, dem Telephon, den Preisen und Tagesereignissen hilflos ausgeliefert. Im Moment, wo man sich aus diesem überreizten und stark überzahlten Wiener Leben zurückzieht ins Privatleben eines Krankenzimmers, wird das alles sofort ganz belanglos. Wenn man dann hustend und in nasse Wickel eingepackt im Bett liegt, fühlt man sich wohl und geborgen, und wenn der Hausarzt sagt: „Sie müssen mindestens acht Tage liegen,“ da hat man nach langer Zeit wieder einmal das herrliche Gefühl: Es kann dir nix g’scheh’n.

            Darum war ich auch hocherfreut, als sich zur rechten Zeit eine kleine Influenza einstellte, gerade als ich vor allerlei lang hinausgeschobenen schweren Entschlüssen stand: einen Stoff für einen neuen Frühjahrsanzug aussuchen, das Einkommen für das Steuerbekenntnis zuschneiden, die Sommeraufenthaltsrechnung ohne den Wirt machen, zum Entzweiungsrendezvous und zum Zahnarzt gehen. Diese ganzen Frühjahrssorgen sind eines schönen, fiebernden Morgens vertagt und erledigt, wo einen der Hausarzt mit Influenza ins Bett schickt. Aber es war diesmal nicht das Richtige. Es hat die apathische Stimmung gefehlt, die sonst ein Krankenzimmer behaglich erfüllt. Wie überflüssige und lästige Krankenbesuche haben sich die Wiener Tagesereignisse und Neuigkeiten hereingedrängt, mich behelligt und irritiert. Wie das jetzt schon so ist, bringt jeder ein Stück Tagessorgen von draußen herein. Der Hausarzt konstatiert besorgt, daß mein Puls lebhaft und die Börse matt ist, die Bedienerin und die zur Aushilfspflege herangezogene Hausbesorgerin laben mich mit den letzten Teuerungen. Außerdem blättere ich zwischen zwei Schwitzkuren die Zeitungen durch und weiß zum Schluß nicht mehr genau, was ich eigentlich gehört und gelesen habe. Es scheint gerade jetzt enorm viel vorzugehen, Reformen und Neuerungen von umstürzender lokaler Bedeutung. Oder kommt es nur mir in meinem konfusen Fieberzustand so vor? Träume ich, oder habe ich, ohne es zu wollen, eine expressionistische Komödie des heutigen Wiener Lebens verfaßt? Soweit ich mich noch erinnern kann, sind darin folgende Personen vorgekommen:

  • Der Patient
  • Der Hausarzt
  • Die Hausbesorgerin
  • Ein kommunaler Würdenträger
  • Ein Magier, der sich in den Steuervorschriften auskennt
  • Der Gaskassier
  • Der Elektrizitätskassier
  • Ein Einbrecher
  • Ein Schleichhändler

            Das sind die handelnden Personen der Fieberkomödie, die als zeitgemäße Figuren natürlich nicht mit sich handeln lassen, sondern auf ihren Forderungen unerbittlich bestehen. Der passive Held ist der Patient, womit natürlich nicht gerade ich gemeint bin, sondern der Wiener im allgemeinen und der Mittelständler im besonderen.

            Die erste Szene spielt sich zwischen dem Patienten und dem Hausarzt ab, der eben von einem Riesenthermometer die Temperatur abliest: „140 Grad.“ – „Um Gotteswillen, Herr Doktor, das ist doch nicht möglich. Sie meinen wohl 40 Grad.“ – „Das war einmal im Frieden. Wo alles so stark gestiegen ist, sollen gerade die Fiebertemperaturen nicht gestiegen sein?“ – „Werde ich da überhaupt davonkommen?“ – „Ausgeschlossen. Schon deshalb nicht, weil Sie ein unbescholtener, korrekter Oesterreicher sind. Ja, wenn Sie ein ausländischer Valutenschieber wären, da würden Sie bestimmt davonkommen. . . . Gurgeln Sie fleißig und kaufen Sie sich Juli-Süd. Zum Schwitzen brauche ich Ihnen nichts zu verordnen. Lesen Sie nur die letzten Nachträge zur Personaleinkommenssteuernovelle. Das genügt.“

            Er läßt mich richtig allein mit meinen Steuersorgen. Weiß Gott, wieviel Fatierungstermine ich da im Bett versäume. Der Angstschweiß bricht aus. Kann mir denn niemand raten und helfen. . . . Aus dem Dunkel der Ofenecke löst sich eine sonderbare Gestalt ab: ein uralter Mann, kahlköpfig, mit einem langen, grauen Bart und in einem wallenden Mantel gehüllt, der mit lauter Paragraphenzeichen und Verordnungszahlen gemustert ist. „Wer sind Sie denn? – „Ich bin der, der die letzten Steuervorschriften versteht.“ – „Dann sind Sie kein irdisches Wesen und zur Erteilung von Steuerauskünften nicht konzessioniert.“ Unbekümmert zieht er aus seinem Mantel endlose Bogen von hoffnungslos gelbgrauem Amtspapier hervor und murmelt dabei: „Gesetz vom soundsovielten, Novelle, Nachtragsverordnung, Durchführungsbestimmung.“ Und dabei beginnt er, mich in die Bogen einzupacken wie in einen Stammumschlag. „Um Gotteswillen, lassen Sie mich doch zuerst lesen. Ich muß ja bis 15. Mai fatieren. Er schüttelt den kahlen Kopf: „Alles längst veraltet. Bis Sie gesund sind, gilt das nicht mehr. Das hat alles nur den Zweck, Ihnen warm zu machen.“ Und er wickelt mich immer weiter ein, bis ich mich gar nicht mehr wie ein Mensch fühle, sondern wie ein papiergewordenes Steuersubjekt, und läßt mich hilflos liegen.

            Matt und gebrochen erwache ich aus meinem Angsttraum und sehe die Hausbesorgerin an meinem Bett stehen und neben ihr einen verdächtigen Burschen. „Was bringen S’denn, Frau Schebesta?“ Wie einen Dolch zieht sie aus ihrem Busen einen Haustorschlüssel hervor und reicht ihn mir. „Was soll ich denn damit?“ – „Das Sperrsechserl ist abgeschafft worden. Sie kriegen Ihren eigenen Schlüssel und können nach Haus’ kommen wann und mit wem Sie wollen. Es geht mich leider nichts mehr an.“ Ist die Welt aus den Fugen oder bin ich wirklich ernstlich krank. . . . „Und wer ist denn der Herr?“ – „Bitt’ schön, das ist unser ständiger Einbrecher. Jetzt, wo sich jeder hergelaufene Kerl einen Haustorschlüssel verschaffen und einbrechen kann, kriegt jedes Haus seinen Einbrecher zugewiesen, damit eine Ordnung ist. Und bitt’ schön, dann möchte ich auch gleich vom Reinigungsgeld reden. Es wird jetzt nach der neuen Vorschrift ganz anders berechnet: die Zahl der Fenster plus der Zahl der Stufen zur Wohnung mal Regentage und schmutzige Füss’. . . .“

            Bevor ich der sinnreichen Rechnung noch folgen kann, läutet es draußen heftig. Der Gaskassier tritt ein, sonst sehr liebenswürdiger Herr, heute sieht er streng und drohend drein: „Ich erteile Ihnen einen amtlichen Verweis. Sie haben im abgelaufenen Monat bloß 29 Kubikmeter Gas verbraucht.“ – „Mehr zu verbrauchen, war doch streng verboten?“ – „Natürlich, aber geduldet war es längst. Haben Sie das nicht bemerkt? Und Sie wollen ein echter Wiener sein? Schämen Sie sich nicht? Daß Sie mir von nun an mehr Gas verbrauchen. Baden und waschen Sie sich so viel Sie wollen. Nur keine Schmutzerei. Das Sparen hat aufgehört, wo die Kohle ohnehin so teuer ist.“ Und dann verwandelt er sich in seinen Kollegen, den Elektrizitätskassier: „Warum brennen Sie denn so eine lumpige Sechzehnerlampe? Verwenden Sie Fünfziger oder meinetwegen Bogenlampen, wie sie jetzt in allen Straßen eingeführt werden. Wir brauchen ein Elend bei festlicher Beleuchtung. Die Welt soll sehen, wie schlecht es uns geht.“ Und plötzlich verwandelt er sich wieder, diesmal in einen kommunalen Würdenträger. Ich weiß nicht, wer er ist, aber er sieht sehr wohlgenährt und gesinnungstüchtig aus. Er hält mir ein Päckchen Straßenbahnfahrscheine unter die Nase: „6 Kronen 50 Heller im Vorverkauf. Nicht der Mühe wert. 7 Kronen ist doch auch kein Geld. Wem kommt es heute auf 2 Kronen mehr an? Wenn Sie sich dazu noch eine Reiseunfallversicherung kaufen, können Sie nach zwei bis drei Straßenbahnfahrten ein reicher Mann sein. . . . Nächstens werden Sie vielleicht schon um 20 Kronen bis Mitternacht fahren können. Dann können Sie auch bis 1 Uhr im Gasthaus sitzen, bis 2 Uhr im Kaffeehaus. Das Nachtleben muß wieder amtlich eingeführt werden, das Wiener Leben bei Tag heißt ohnehin nichts. Bisher hat die Gemeinde ihren Bürgern bloß Sorgen gemacht, jetzt wird sie ihnen auch schlaflose Nächte bereiten. . . .“

            Nein, diese wüsten Gesichte halte ich nicht länger aus. Wie komm’ denn ich mit meiner Influenza dazu, die Gemeindefinanzen in Ordnung zu bringen? Wo ich ohnehin schon ganz verschmachtet bin. Jetzt wär’ eine kleine Erfrischung gut, am besten eine Orange. . . . Kaum gedacht, ist schon eine Hand da und darunter eine Orange, bereits geschält und zerteilt. Die Hand ist nicht sehr sauber, aber die guten Sachen kriegt man ha immer nur unter solchen Händen. Ich kenne sie gut, es ist die Hand meines Schleichhändlers, er selbst bleibt wie immer rätselhaft dunkel und unsichtbar und sagt verlockend: „Die Spalte 20 Kronen.“ Eine Spalte kann ich mir schon leisten. Ah, das tut wohl . . . noch eine. „Dreißig Kronen.“ Die nächste 40 und jede mehr als die vorherige. „Was ist denn das für eine Orange?“ – „Das ist überhaupt keine Orange. Das ist der Preisabbau, mit dem die Regierung jetzt das Gremium der Schleichhändler betraut hat. . . . Wenn der Herr vielleicht Würfelzucker braucht – oder ägyptische Zigaretten, garantiert von Derbysiegern. . . . Das Stück 5 ungarische Kronen, andere nehm’ ich nicht. . . .“ Und dann wird es dunkel, ich weiß nicht mehr, was Valuta ist und habe offenbar das Bewußtsein vollständig verloren. . . .

            Nach endlosem Schlaf erwache ich spät am Vormittag, matt und zerschlagen, aber fieberfrei. Gott sei Dank, alles war nur wüster Fieberspuk, nur böser Traum und sinnloses Delirium. Der Hausarzt kommt, ist sehr zufrieden mit mir und sagt: „Zwei, drei Tage bleiben Sie noch vorsichtshalber zu Hause. Dann dürfen Sie ausgehen. Ich kann Sie schon heute gesund entlassen.“ Langsam begehe ich meine Auferstehung, zögernd kehre ich wieder ins tägliche Leben zurück, zu den Bekannten, zum Telephon, zum Beruf, in die Straßen und zu den Tagesneuigkeiten. Aber ist denn das . . . ich bin doch fieberfrei . . . alles ist ja genau so, wie ich’s geträumt habe. Was ich für wüste Fieberphantasien gehalten habe, ist wüste Wiener Wirklichkeit, wie sie sich in den letzten Wochen zusammengedrängt hat. Es lohnt sich jetzt wirklich nicht, krank zu sein und Fieber zu haben in einer Zeit, wo die Wirklichkeit alle Fieberphantasien an Konfusion und Unwahrscheinlichkeit überbietet. Und ich habe mich schon lang nicht so miserabel gefühlt, wie an dem Tag, wo ich wieder gesund ins Wiener Leben entlassen wurde.

In: Neue Freie Presse, 24.04.1921, S. 10-11.

Julius Bittner: Der Geistige und sein Eigentum

Denkschrift, verfasst im Auftrag der Genossenschaft Dramatischer Schriftsteller und Komponisten in Wien von ihrem Präsidenten (= J. Bittner)

Die einzige Tochter Josef Strauß‘ ist vor wenigen Wochen in Wien an Hungerödem gestorben. Mit der Operette »Frühlingsluft«, deren Hauptreiz in der Verwendung der Melodien dieses Meisters bestand, wurde mehr verdient, als Josef Strauß in seinem kurzen Leben Geld gesehen hat.

[…]

Österreich besitzt in seinen schaffenden Künstlern ein Kapital, das bei dem geltenden Urheber-Unrechte nach Ablauf der sogenannten Schutzfrist widerspruchslos der Profitsucht der Unternehmerschaft ausgeliefert war. Das österreichische Volk hat von den Werken seiner Meister nichts gehabt // als daß es sie sich in Leipzig in Mark und Pfennig bei einigen wenigen Firmen kaufen konnte. Nach Ablauf der sogenannten Schutzfrist zahlt der Theaterdirektor keine Tantiemen mehr, der Buchhändler gibt niemanden mehr als seiner eigenen Tasche!

             Durch alle Juristengehirne geht in Sachen des Urheber-Unrechtes der Wunschtraum von dem sogenannten „Interesse der Allgemeinheit“ an den geistigen Schöpfungen. Merkwürdig ist nur, daß in unserem ganzen Rechtssystem die Allgemeinheit ausschließlich und allein nur gerade an Werken der Literatur und Tonkunst Interesse ha. Würde man den Juristen glauben, so wären der Allgemeinheit Heilquellen, Bergwerke, Äcker und Wiesen ganz gleichgültig. Wie hypnotisiert sähe sie ausschließlich auf Dramen und Partituren. Bis 30 Jahre nach dem Tode des Urhebers verfolgt das geltende Urheber-Unrecht jeden, der sich dagegen verwehrt, mit Feuer und Schwert. Am 31. Dezember des 30. Kalenderjahres nach dem Tode des Urhebers um 12 Uhr nachts schlägt das Urhebergesetz lächelnd die Augen auf, wer noch um 11 Uhr nachts als Nachdrucker straffällig war, ist um 12 Uhr ein Freund des Volkes und begeht eine gottwohlgefällige Handlung, wenn er den eben noch vor einer Stunde verpönten Nachdruck ausführt. Ihn segnet nun Themis, da ihr ja alle Priester eingeredet haben, dass just an jenem 31. Dezember um Mitternacht das „Interesse der Allgemeinheit“ an den Werken des vor 30 Jahren, wie es sich gehört, in den bescheidensten Verhältnissen gestorbenen Urhebers beginnt…

             Wie gesagt, hat die Allgemeinheit trotz Hunger und Kälte, an der sie jetzt leidet, kein Interesse an Weizenfeldern und Kohlenbergwerken; Petroleumgruben und Viehzucht sind ihr ganz gleichgültig; – nur nach Dichtungen und Partituren steht ihr Sinn.

             Wer ist nun diese Allgemeinheit? Es sind:

  1. die Theaterdirektoren,
  2. die Verleger, also nicht allzuviele Leute, die jenes berühmte Interesse vertreten.

„Am 1. Jänner nach diesem 31. Dezember kostet in keinem Theater das Billet zu dem Drama des verstorbenen Urhebers auch nur einen Heller weniger! Der Theaterdirektor erspart ganz einfach die Tantième, die er sonst den Erben oder – wie wir es anstreben dem Staate zu zahlen hätte, der Verleger gibt eine billige Ausgabe heraus, ohne davon die geringfügigen 15 bis 20 Prozent abführen zu müssen. Die Werke des verstorbenen Urhebers sind Eigentum, das durch einen Spruch nicht des Rechtes, sondern der bloßen Gewalt für herrenloses Gut erklärt wurde, sind eine Verlassenschaftsmasse, die entgegen den Bestimmungen des geltenden Erbrechtes einfach auf eine bloße Rechtsfiktion für „cadue“ erklärt wurde und von nun an nur ganz wenigen reinen Unternehmern (der „Allgemeinheit“) zur beliebigen Ausbeutung übertragen wird.

Die Künstler könnten sich demgegenüber ganz einfach auf das bis nun geltende Recht eines jeden Staatsbürgers berufen, daß sie ihr Eigentum und das sind doch die Werke, die sie in mühevoller Arbeit geschaffen haben, ebenso wie Kaufmannsgeschäfte, Tischlerwerkstätten, Wirtshäuser ihren Erben hinterlassen könnten. Nun denken sie aber sozialer als die übrige Welt und wollen nur erreichen, daß ihre Kinder und Enkel nicht darbend zusehen müssen, wie andere aus dem Schweiße der Arbeit des Vaters oder Großvaters mühelos Millionen ziehen.

Die Künstler wollen für das Volk geschaffen haben, dem sie angehören, für ihre Kinder und Enkel, solange es ein Erbrecht gibt und nicht für einige privilegierte Unternehmer.

Die Genossenschaft der dramatischen Schriftsteller und Komponisten, welche sämtliche in Österreich für die Bühne schaffenden Künstler zwangsweise angehören müssen, da sie sonst an keiner Bühne des Bühnenvereines aufgeführt werden können, erlaubt sich nun folgende Leitsätze für die Schaffung eines wirklichen Urheberrechtes vorzubringen:

  1. Unumschränkter Eigentümer aller auf österreichischem Boden von Österreichern geschaffenen Bühnenwerke ist unmittelbar vom Tode des Urhebers angefangen der Staat als Vertreter des Volkes.
  2. Solange Gattin, Kinder und Enkel des verstorbenen Urhebers vorhanden sind und auch nicht länger als 50 Jahre nach dem Tode des Urhebers verpflichtet sich der Staat, die von ihm einkassierten, vertraglich festgesetzten Tantiemen und Verlagsanteile an diese Kinder und Enkel auszuzahlen. Nach Ablauf der 50 Jahre fallen alle Erträgnisse der Werke an den Staat. Die Genossenschaft vertraut darauf, daß das Volk auch später noch lebende Angehörige des verstorbenen Urhebers nicht verhungern lassen wird.
  3. Tantiemenfreie Werke und Bücher ohne Verlagsanteil gibt es überhaupt nicht mehr. Statt des Verlegers soll der Staat beteiligt werden, der aus den Erträgnissen der Schöpfungen verstorbener Künstler leicht die Möglichkeit hätte, wirklich im Interesse der Allgemeinheit die aufstrebenden lebenden Künstler davor zu bewahren, daß sie, wie Schubert, im Elend jung sterben, wie Anzengruber Polizeiakten abschreiben, wie Hugo Wolf für miserables Geld Klavierstunden geben, wie Anton Bruckner Organistendienste leisten müssen.
  4. Wie der Staat diesen bisher gänzlich ungehüteten Schatz des Volkes verwaltet, ist seine Sache. Sei es, daß er durch einen eigenen Nationalverlag die Herausgabe billiger Volksausgaben übernimmt und dadurch nach nach unten zu preisbildend wirkt, sei es, daß er die Einziehung der geringen Verlagsanteile von 15 bis 20 Prozent des Ladenpreises, sowie der auf 5 bis 6 Prozent ermäßigten Tantiemen der zu gründenden Vertriebsstelle der Genossenschaft überläßt (natürlich für staatliche Rechnung), jedenfalls ist dem Geiste eines wahren Rechtes und eines wirklich verstandenen Interesses der wahren Allgemeinheit gedient, wenn das geistige Gut des Volkes dem Volke allein und nicht einigen privaten Unternehmern nutzbar gemacht wird.

Wir werden uns mit diesen Vorschlägen nicht nur an unsere im engsten Kartellverhältnis stehenden reichsdeutschen Kollegen, sondern auch an die Autorengesellschaften der ganzen Welt wenden und nicht eher ruhen, bis wir nicht, wie die französischen und ungarischen Künstler, die fünfzigjährige Schutzfrist erreicht haben. Da Österreich nach dem Friedensvertrage aber vor allem jener Berner Konvention beitreten muß, so möge das vorläufig immerhin geschehen. Wir benötigen aber Zeit, um ins mit den Autorengesellschaften der ganzen Welt ins Einvernehmen zu setzen und behalten uns vor, einen Kongreß derselben, wenn möglich nach Wien, einzuberufen. Am 31. Dezember 1919 werden aber Ludwig Anzengrubers Werke „frei“. Damit sie nicht dem Volke verloren gehen, bitten wir um provisorische Verlängerung der geltenden Schutzfristbestimmungen um ein Jahr.

Anmerkung des Verfassers: Die vorstehende Denkschrift wurde nicht in Verhandlung gezogen. Wir ersuchen um gefällige Äußerung über diese Vorschläge an die Schriftleitung des ‚Merkers‘.

In: Der Merker, Jg. 11, H.1, 1920, S. 3-6.