Carl Marilaun: Die jungen Männer

„Der ‚junge Mann von Welt’, dessen österreichischer, Wienerischer Spielart Richard Schaukal, ein älterer Mann von Welt vor zehn Jahren ein ironisch-apologetisches Brevier gewidmet hat, ist im Aussterben begriffen. Er war ein ‚junger Herr’, und servierte seine tadellos manikürte, nach dem Journal des Londoner Schneiders equipierte und hinreißend gescheitelte Eleganz jeden Mittag in der großen Korsoauslage zwischen Graben und Kohlmarkt. Er war bei Demel zu treffen oder in der Weinstube der Berta Kunz, er plauderte mit Frau Anna Sacher unter der roten Glashalle ihres Hotels, er stand wie angewachsen an der Sirk-Ecke, man traf ihn in der Burgtheaterloge und beim Stelzer, und sein Vormittag in der Statthalterei oder am Ballhausplatz war nur die Einleitung zum Gustostück seines nicht allzu anstrengenden, aus lauter angenehmen, aber dringenden Nebensächlichkeiten bestrittenen Daseins: zum Gang über Graben und Kärntnerstraße, wo man eine Menge von Leuten Gutentag zu sagen und einer Unzahl schöner Frauen die Hand zu küssen hatte.

Heute gibt es nur noch junge Männer in der Gegend des ‚jungen Herren’. Das hübsche, etwas nichtige, nette und küssdiehandgeschäftige Gesicht des jungen Mannes von Welt ist auch auf dem wohlsituierten Korso nicht mehr zu erblicken. Wie es überhaupt auch keinen eigentlichen Korso mehr gibt, welche Tatsache ich natürlich keine melancholische und nicht einmal eine bissige Betrachtung zu knüpfen ersonnen bin. Graben und Kärntnerstraße sind belebter als je, und die jungen Männer, die man dort trifft, tragen zwar bereits Anzüge und Winterröcke des Londoner oder eines nicht billigeren Wiener Schneiders, aber sie behalten den Hut auf dem Kopf, wenn sie mit dem gewissen, unangenehm und impertinent taxierenden Blick des jungen Mannes von heute mit ihren Damen sprechen. Zu ihrer Entschuldigung könnten sie allerdings anführen, daß die Damen danach sind, wenigstens meistens. Der gesellschaftliche Verkehr vollzieht sich auf der Basis einer gegenseitigen und wahrscheinlich wohlangebrachten Geringschätzung. Man trifft sich mittag auf dem Kohlmarkt und begrüßt einander mit einem Augurenlächeln, das vermutlich anderen, weniger gesellschaftsfähigen, aber Gott sei Dank zurückliegenden Begegnungen gelten dürfte. Wenn diese neuen Herrschaften „Guten Tag“ zueinander sagen, klingt es so ungefähr wie: „Weit haben Sie’s gebracht!“ Und da sich die heutige Gesellschaft auch als beste Gesellschaft nicht gern ein Blatt vor dem Mund nimmt, kann man auf dem Kohlmarkt nicht so selten einen jungen Mann im Gürtelüberzieher seine Dame, die einen Pelz von Drecoll oder Grünbaum trägt, mit dem auf dem Graben und Kohlmarkt geflügelt gewordenen Wort begrüßen hören: „Seit wann gehen Sie hier spazieren?“

Worauf der unbeteiligte Zuhörer unter Zuhilfenahme des gesellschaftlichen Jargons eigentlich sagen müßte: „Weit gebracht!“ Aber meistens sagt es schon die Dame selbst.

Man sollte glauben, daß der junge Herr, den es nicht mehr gibt, das am lebhaftesten erstrebte Ideal der jungen Männer von heute wäre. Aber wer dies glaubt, irrt sich vielleicht doch in der Psyche dieser aufsituierten und bereits auf eine bewegte Jugend zurückblickenden Fünfundzwanzigjährigen. Diese jungen Herren haben wirklich andere Sorgen. Ihr Lebensinhalt ist keineswegs der Raglan, den sie tragen. Daß er teuer ist, versteht sich von selbst; daß er beim ersten Schneider bestellt wurde, ist selbstverständlich. Aber er wird lediglich angeschafft, bezahlt und getragen, weil man es sich leisten kann. Man trägt ja auch den wundervoll gerade gezogenen Scheitel des jungen Herrn, aber dieser Scheitel ist eigentlich Sache des Friseurs; eines teuren Friseurs, der für das Geld, das er bekommt, alle unterrichtet, und man knüpft hier jene Verbindungen an, die man in der Taborstraße vielleicht verfehlt hätte.

Wirklich Junge trifft man nicht mehr am Korso. Nur Zwanzig- bis Fünfundzwanzigjährige, denen die Züricher Devisenkurse oder ein greifbarer Posten Chiffon, es können aber auch Schuhnägel sein, den holden Wahn längst ausgetrieben hätte, wenn sie von solchen Torheiten überhaupt jemals etwas auf Lager gehabt haben sollten. Das Leben birgt für sie keine Rätsel und Hindernisse, über die andere gestolpert wären, beseitigen sie mit einem Telephonanruf. Für sie funktioniert nämlich sogar ein Wiener Telefon, denn sämtliche Verbindungen, die sie brauchen, haben sie längst.

Glattrasiert, mit einem Raubtierkinn, breitschultrig, starknackig, gehen sie ihres Wegs; unverträumt, unbelästigt von Widrigem, keinem bösen Zufall anheimgegeben, aber für jeden günstigen parat. Ihnen gehört die Welt. Und davon, daß Schwächlinge in ihr nicht leben können, profitieren sie.

In: Prager Tagblatt, 24.12.1920, S. 3.

Ernst Fischer: Theater und Technik

            Es wird im Allgemeinen zu viel von den geistigen, zu wenig von den technischen Bedingungen des Dramas gesprochen. Gewiß: das Drama fordert geistige Haltung, fordert ein Weltgefühl voll Spannung und Konzentration, fordert den Schicksalsglauben in irgendeiner Form; wer in allen Ereignissen nur den Zufall sieht, wer das Leben in ein Durcheinander winzigster Atome auflöst, wer im Einzelfall nicht die allgemein gültige Logik des Lebens entdeckt, ist nicht fähig, ein Drama zu schreiben, ein Drama zu genießen. Aber nicht davon, nicht vom geistigen Prinzip des Dramas, über das schon allzuviel Gutes und Schlechtes, Gescheites und Dummes geschrieben wurde, sondern von anderen, sehr entscheidenden Voraussetzungen soll hier die Rede sein.

            Die Form des Dramas ist nicht nur Ausdruck der Lebensform, sondern auch in hohem Maße Ausdruck der technischen Bühnenmöglichkeiten einer Epoche. Die berühmten ›aristotelischen Einheiten‹, Einheit der Zeit, des Ortes und der Handlung, können zweifellos als Ausdruck einer strengen, aristokratischen Ordnung gewertet werden, aber sie sind auch  bedingt durch den unvollkommenen Theatermechanismus , der einen raschen Wechsel der Szenen nicht gestattet. Überall, in Griechenland wie in Frankreich, sprengte die Ausgestaltung des Bühnenapparates die alte Einheit des Dramas; umgekehrt erlaubte es die Primitivität etwa des elisabethinischen Theaters in England, in dem das szenische Bild nur flüchtig angedeutet wurde, dem Dramatiker, den Schauplatz der Handlung hundertmal zu wechseln. Die tiefen, oft sehr komplizierten, durchaus nicht in eine klare Formel zu fassenden Zusammenhänge zwischen der gesellschaftlichen Struktur und dem Interesse an technischen Dingen, zwischen der gebundenen Form eines Fürstenhofes, der Metrik und der Tragödie, der freieren eines erwachenden Bürgertumes, der Sprache und des Theaters sollen hier nur erwähnt, nicht ausgeführt werden; es handelt sich nur um die Konstatierung, daß die technischen Möglichkeiten des Theaters die Form des Dramas außerordentlich beeinflussen.

            Diese technischen Möglichkeiten sind heute ungeheuer; der Regisseur ist ein Zauberer, der mehr vermag als alle lebenden Dichter. Im Theater hat die Technik, wie überall, den Geist zurückgelassen, das Lebendige überholt. Der Mensch erlebt zwar von Zeit zu Zeit, was sein Gehirn ersonnen, was seine Hände geformt haben, aber nur selten, in schöpferischen Augenblicken; durchschnittlich haften wir alle gefühlsmäßig noch in Jahrzehnten, die nicht mehr sind, haben wir seelisch noch nicht das Wesen der Zeit erobert. Menschen, deren tägliche Arbeit brennende Gegenwart, Sturm in die Zukunft ist, empfinden in ihrem Privatleben kleinbürgerlich, als säßen sie in der Garten//laube, Organisatoren internationaler Wirtschaft sind in nationalistischen Torheiten stecken geblieben, revolutionäre Arbeiter bejahen den faden Geschmack einer Welt, die sie täglich verneinen. Ähnlich geht es den Dichtern; entweder begreifen sie nicht, daß ihre Phantasie, die Fülle der Geschichte sich so üppig entfalten darf wie nie zuvor, weil die moderne Bühne das alles vergegenständlichen kann, oder sie sind besoffen von den Potenzen des technischen Apparates und lassen sich von der Maschinerie bemeistern, anstatt sie zu meistern.

            Das neue Drama, das den Inhalt der Zeit in neuen Bühnenformen ausdrückt, existiert noch nicht, wohl aber gibt es interessante Experimente, zukunftsatmende Skizzen zu diesem neuen Drama. Charakteristisch ist die Tendenz, alle Einheiten des Dramas aufzulösen, die Handlung durch eine rasche Szenenfolge zu peitschen, Stockungen zu vermeiden, dem Tempo der Ereignisse breite und gründliche Motivierung aufzuopfern; die bis in alle Details durchgeführte naturalistische Dekoration verschwindet vollkommen, der Schauplatz der Handlung wird nur angedeutet, Scheinwerferlicht und technische Konstruktionen ermöglichen einen hastigen, pausenlosen Wechsel der Szenen. Die immer wieder vorgebrachte Behauptung, der Film habe das Drama vergewaltigt, die Konkurrenz mit dem Kino habe die alte Geschlossenheit des Bühnenbildes zerstört, halte ich nicht für richtig: Büchner und Strindberg, die nichts vom Kino wußten, haben die strengen Gebundenheiten nicht weniger kühn gesprengt als die modernsten Dramatiker und die Technik hat unabhängig vom Film das Theater revolutioniert.  Zweifellos bestehen tiefe Zusammenhänge zwischen der Form des Films und der Form des modernen Dramas; aber den Film einfach als Ursache und das Drama als Wirkung zu setzen, ist ganz verfehlt. Beide spiegeln das Wesen der Zeit, beide werden von den gleichen Kräften gespeist, und es wäre sonderbar, würden sie einander nicht ähnlich sein. Wir sind dem Tempo der Technik verfallen, nicht nur symbolisch, sondern auch höchst real; und so gehorcht der Dichter, wenn er bei keiner Szene, bei keiner Situation zu lange verweilt, nicht nur der Unruhe seines Geistes, unseres Geistes, sondern auch den Forderungen des Regisseurs, der den ihm zur Verfügung stehenden Apparat nützen will.

            Aber nicht nur das rasche Nacheinander der Szenen, auch das Nebeneinander verschiedener, sich durchwirrender und durchkreuzender Ereignisse und Schicksale ist typisch für das Theaterstück der Gegenwart. Das entspricht unserem Leben – Wand an Wand, Tür an Tür, Weltanschauung an Weltanschauung, was wissen wir voneinander, wie sonderbar verknüpft uns der Zufall! – das entspricht auch der Möglichkeit, auf der Bühne eine Szene unmittelbar der anderen gegenüberzustellen, die Zeit zum Raume zu wandeln. Der Dramatiker, der mit der Schwerfälligkeit des Bühnenapparates zu rechnen hatte, mußte im Interesse eines reibungslosen Ablaufes die Vielheit des Lebens// kunstvoll der Einheit der Handlung unterordnen: er brauchte daher irgendeinen Haupthelden mit einem Hauptschicksal, und Nebengestalten mit Nebenschicksalen, eine Handlung und eine Reihe von Episoden. Heute aber ist es möglich, die Episode, dieses leidige Beiwerk, zurückzudrängen und in einem Drama mehrere gleichwertige Schicksale, die einander ergänzen und erhellen, zu gestalten. So kann der Dramatiker heut eine ganze Zeit mit all ihren Widersprüchen und all ihren Gegensätzen auf die Bühne stellen, so kann er ein Kollektivschicksal gestalten, ohne daß solch ein Drama als »unaufführbar« von jedem Theaterdirektor abgelehnt werden muß.

            Dazu kommt, daß die moderne Beleuchtungstechnik einen Bühnenraum aufbaut, der von Sekunde zu Sekunde sich wandeln, jeder Szene sich anpassen kann, der nichts mehr mit schwerfälliger und pedantischer Naturalistik zu tun hat, sondern ein magisches Kunstwerk ist. Das ›Milieu‹, in dem nun ein Drama spielt, ist nicht mehr dieser oder jener Winkel der Welt, diese Stube und jener Garten, sondern die Atmosphäre der Zeit mit ihren Maschinen und ihrer Musik, mit ihren Städten und ihren Stürmen, nicht mehr eine bemalte Kulisse, vorgetäuschte Natürlichkeit, sondern der Seelenraum, in dem unser Leben geschieht. So kann man, ganz anders als einst, geschichtliches Ereignis, Krieg und Revolution auf die Bühne beschwören, so kann man, ganz anders als einst, historische Zusammenhänge bildhaft, im Aufblitzen und Verlöschen eines Scheinwerfers darstellen, so kann man etwa Die letzten Tage der Menschheit von Karl Kraus aufführen. Und so kann man auch, ganz anders als einst, die Dramen Shakespeares in ihrer Fülle und Üppigkeit, in ihrer hemmungslosen Gewalt und Schönheit spielen.

            Nur einige Möglichkeiten moderner Bühnentechnik sollten hier angedeutet werden; es kann kaum bezweifelt werden, daß diese neuen Formen der Regie neue Formen des Dramas hervorrufen werden. Denn von der Bühne und nicht vom Schreibtisch her ist jedes große Drama gekommen.

In: Kunst und Volk H. 10 (Juni) 1929, S. 293-295

Fred Heller: Wiener Spiegelbilder. Nachttänze

            Ein Uhr nachts. Alle Gaststätten sind geschlossen, die letzten Schlaflosen wandern nach Hause. Ein junger Mann darunter, Bankbeamter – natürlich, was sollte er denn sonst sein, möchte man sagen -, vom Familienkonzert im Café nicht allein befriedigt. Aber um ein Ihr nachts ist auch das Abenteuer bereits schlafen gegangen, die wenigen Leute, die ihm begegneten, gähnten aus aufgestellten Rockkragen hervor.

            Plötzlich, in einer kleinen Gasse, die den Heimweg abkürzte, trat dem jungen Mann ein kleiner dicker Herr entgegen.

            Gelindes Erschrecken, Griff nach der Hosentasche rechts außen. Nach der Brieftasche.

            Doch der Herr zieht höflich den Hut, sagt guten Abend, und fragt, mit den Fingern schnippend:

            „Nichts los mehr, was, junger Herr? Sie gingen gewiß noch gern zu einer kleinen Unterhaltung.“

            „O, nein, ich . . . ich gehe nach Hause.“

            „Schade!“ macht der andere. „Ich wüßt’ was ganz Exquisites. Nackttänze, junger Herr.

            Du lieber Gott, welcher junge Mann würde auf das hin nicht – wenigstens theoretisch – neugierig!

            „Wo?“ erkundigte sich das Bankbeamtchen.

            „Ein paar Schritte weit. Ich führe Sie hinauf.

            Hinauf – aha, Privatwohnung. Das war interessant. Nur eines: „Das Entree?“

            „Tausend Kronen. Und für die Adresse nach Belieben,“

Der Führer hielt diskret seine Hand hin. Offen.

            Als er seine Rekommandationsgebühr hatte, schritt er voraus.

Drei, vier Häuser weit. Vor einem unauffälligen Haustor blieb er stehen, zog einen Schlüssel, öffnete und ließ den späten (er sagte „frühen“) Gast ein.

            Im Hausflur war’s stockdunkel.

            „Leise!“ befahl der Führer. Nach ein paar Schritten aber hielt er den Besucher aus Wien zurück und flüsterte: „Bleiben Sie hier einen Augenblick stehen. Ich mache drüben im Hoftrakt Licht. Dann folgen Sie mir vorsichtig. Im Hause hier darf man ja keine Ahnung haben, Sie verstehen!“

            Der junge Mann verstand. Und stand still. Wartete mit Herzklopfen, bis drüben Licht gemacht werden würde. Doch – es wurde nicht. Es wurde nicht Licht, es wurde bloß eine Tür geöffnet, dann blieb alles still. Eine Viertelstunde lang.

            Der herausgeklingelte Hausmeister schaute den unbekannten jungen Mann groß an. Schließlich führte er ihn über den Hof zum Hinterhaus, das einen eigenen Eingang hatte, in der Parallelgasse. Den ihm beschriebenen Herrn kannte der Hausmeister nicht. Aber er verstand allmählich.

„Morgen wird ein anderes Schloß ans Haustor g’macht. Da kann ja wirklich jeder Schlosserg’sell . . .!“

            Der junge Mann hatte den Hausmeister stark im Verdacht des Einverständnisses. Er wollte sofort zur Polizei. Aber – er ging nicht. Weil er sich ein bißchen schämte. Und weil man ja nicht weiß, ob man wegen Besuches von Nackttänzen, selbst wenn sie gar nicht existieren, nicht auch noch mit Arrest bestraft werden kann.

Das Freundschaftsband.

            Der Gymnasiallehrer für klassische Philologie besaß einmal so viele Freunde, daß er sie kaum zählen konnte. Man nannte ihn allgemein einen ungemein sympathischen Menschen, mit dem zu Verkehren ein Vergnügen. Dabei vermochte der Unvoreingenommene nichts Besonderes an ihm zu finden. Er ist ein Normalmensch in des Wortes weitester Bedeutung. Von seiner Normalfigur angefangen bis zu seinem Lieblingsgespräch über unregelmäßige Verba. Doch gerade die Normalfigur war’s, die ihm so viele Freunde schuf. Ja, die Normalfigur und der dazu gehörige Frack. Der klassische Philologe besaß nämlich einen prächtigen Frack, den er selbst nie trug, dessen Existenz er aber einmal verraten, damals, just vor einem Jahr, und seither wuchs seine Freundesschar zusehends. Und wenn man so recht in freundschaftliche Gespräche vertieft war, kam stets der eine oder der andere auf den Frack zu sprechen, und das Resultat war, daß der Professor ihn dem einen oder dem anderen für eine Nacht gern leihen wollte, um ihm den Besuch eines Balles, einer Redoute zu ermöglichen; er selbst ging ja ohnehin nicht zu Tanzfesten.

            Der Frack verband das Dutzend gute Freunde mit dem Gymnasiallehrer so fest wie das innigste Freundschaftsband. Ueber den ganzen Fasching. Dann, in den Wochen darauf, bleib einer nach dem anderen aus dem Stammcafé weg. Der Professor vereinsamte mehr und mehr und schließlich stand, beziehungsweise saß er wieder ganz allein an seinem Tischchen.

            Man zeigte sich ihn, wenn von der Freundschaft die Rede war. Ein Opfer. Ein Zeuge für den Eigennutz und alle sonstigen Schlechtigkeiten der Menschen.

            Seit kurzen jedoch beginnen sich die ehemaligen Genossen der unregelmäßigen Verba wieder einzufinden. Einer nach dem anderen. Am Tisch des Professors sitzen bereits wieder sechs. Und jeder findet ihn ungemein sympathisch und nennt es eine Tücke des Schicksals, daß man so lange auf das Vergnügen verzichten mußte, mit ihm zu verkehren.

            Der Gymnasialprofessor ist aber jetzt wirklich freundlich. Er läßt alle in ihm schlummernden geselligen Künste wach werden, um seine Runde zu unterhalten. Selbst auf das Gespräch über die unregelmäßigen Verba hat er verzichtet, um das Freundschaftsband von einst – über das bisher taktvoll jede Bemerkung vermieden worden ist – durch seine inneren Werte zu ersetzen. Denn den Frack – o über den Augenblick, da es herauskommen wird! – den Frack trägt sein drei Vierteljahren der Oberkellner. Derselbe, der die neue Freundschaftsrunde bedient.

Causa X.

            Zu einem der ersten Wiener Rechtsanwälte kam ein Mann, einen Rechtsfall vorzutragen. Er versicherte den Advokaten seines besonderen Vertrauens, da man ihn ihm sehr warm empfohlen hätte. Daraufhin erzählte er den Fall.

            Es war eine verworrene Erbschaftsgeschichte. Der Großvater hatte, so berichtete der Klient, zweimal geheiratet, und da hätten sich dann seine Kinder aus erster Ehe mit den Kindern, welche die zweite Frau, eine Witwe, in die Ehe brachte, verheiratet. Von einem dieser beiden Paare sei er ein Sohn. Vor einem halben Hagre nun war der Großvater gestorben und hatte ein außerordentliches Vermögen hinterlassen. Es stritten sich jetzt die verwickelten Verwandtschaftsverhältnisse um das Recht des Anteils, um das teilweise auch testamentarisch verteilte Vermögen herum.

            Der Rechtsanwalt notierte die Daten. Er fragte mancherlei, denn es war mancherlei nicht gleich klar und dem Klienten schien die Angelegenheit sehr zu Herzen zu gehen, so nervös war er. Es schien ihm die Information reichlich lang zu dauern.

            Aber endlich erklärte sich der Advokat, der ja, wie gesagt, eine Leuchte in seinem Fach war, hinlänglich informiert und er zweifelte scheinbar auch nicht daran, daß der Sohn der Tochter und des Stiefsohnes seiner Großmutter sowie des Sohnes und der Stieftochter seines Großvaters ein durchaus berechtigter Erbe sei.

            Der Klient legte die geforderten Dokumente vor und unterschrieb die Vollmacht. Dann reichte er dem Rechtsanwalt als Vorschuß auf die Expensennote dreißigtausend Kronen, ohne Widerrede, ja geradezu mit Zuvorkommenheit.

            Hierauf ging er.

            Er hatte eine noble Art, die Tür zu schließen. Beinahe unhörbar. Ein feiner Mensch!

            Der Rechtsanwalt schrieb sofort die nötigen Briefe. Das Diktat dauerte allerdings viel länger als fünf Minuten. Der Doktor mußte nämlich zu Gericht. Er hatte es eilig. Und überdies ärgerte es ihn, daß er von dem so überaus bereitwilligen Klienten nur dreißigtausend Kronen Vorschuß verlangt hatte. Noch mehr ärgerte er sich jedoch, als er im Vorzimmer seinen kostbaren Stadtpelz nicht fand.

            Fort war er. Gestohlen. Von dem überaus bereitwilligen Klienten. Der sich den Spaß mit dem Pelz, der zweieinhalb Millionen wert war, bereitwilligst dreißigtausend Kronen hatte kosten lassen.

In: Neues Wiener Journal, 08.01.1922, S. 4.

Ludwig Hirschfeld: Das Wiener Leben ein Fiebertraum. Eine Influenzaphantasie

            Ab und zu ein bißchen krank sein, das ist heute der Gesundheit sehr zuträglich. Miserabel fühlt man sich jetzt doch nur, solange man gesund ist, seinen Mitmenschen, den behördlichen Einfällen, dem Telephon, den Preisen und Tagesereignissen hilflos ausgeliefert. Im Moment, wo man sich aus diesem überreizten und stark überzahlten Wiener Leben zurückzieht ins Privatleben eines Krankenzimmers, wird das alles sofort ganz belanglos. Wenn man dann hustend und in nasse Wickel eingepackt im Bett liegt, fühlt man sich wohl und geborgen, und wenn der Hausarzt sagt: „Sie müssen mindestens acht Tage liegen,“ da hat man nach langer Zeit wieder einmal das herrliche Gefühl: Es kann dir nix g’scheh’n.

            Darum war ich auch hocherfreut, als sich zur rechten Zeit eine kleine Influenza einstellte, gerade als ich vor allerlei lang hinausgeschobenen schweren Entschlüssen stand: einen Stoff für einen neuen Frühjahrsanzug aussuchen, das Einkommen für das Steuerbekenntnis zuschneiden, die Sommeraufenthaltsrechnung ohne den Wirt machen, zum Entzweiungsrendezvous und zum Zahnarzt gehen. Diese ganzen Frühjahrssorgen sind eines schönen, fiebernden Morgens vertagt und erledigt, wo einen der Hausarzt mit Influenza ins Bett schickt. Aber es war diesmal nicht das Richtige. Es hat die apathische Stimmung gefehlt, die sonst ein Krankenzimmer behaglich erfüllt. Wie überflüssige und lästige Krankenbesuche haben sich die Wiener Tagesereignisse und Neuigkeiten hereingedrängt, mich behelligt und irritiert. Wie das jetzt schon so ist, bringt jeder ein Stück Tagessorgen von draußen herein. Der Hausarzt konstatiert besorgt, daß mein Puls lebhaft und die Börse matt ist, die Bedienerin und die zur Aushilfspflege herangezogene Hausbesorgerin laben mich mit den letzten Teuerungen. Außerdem blättere ich zwischen zwei Schwitzkuren die Zeitungen durch und weiß zum Schluß nicht mehr genau, was ich eigentlich gehört und gelesen habe. Es scheint gerade jetzt enorm viel vorzugehen, Reformen und Neuerungen von umstürzender lokaler Bedeutung. Oder kommt es nur mir in meinem konfusen Fieberzustand so vor? Träume ich, oder habe ich, ohne es zu wollen, eine expressionistische Komödie des heutigen Wiener Lebens verfaßt? Soweit ich mich noch erinnern kann, sind darin folgende Personen vorgekommen:

  • Der Patient
  • Der Hausarzt
  • Die Hausbesorgerin
  • Ein kommunaler Würdenträger
  • Ein Magier, der sich in den Steuervorschriften auskennt
  • Der Gaskassier
  • Der Elektrizitätskassier
  • Ein Einbrecher
  • Ein Schleichhändler

            Das sind die handelnden Personen der Fieberkomödie, die als zeitgemäße Figuren natürlich nicht mit sich handeln lassen, sondern auf ihren Forderungen unerbittlich bestehen. Der passive Held ist der Patient, womit natürlich nicht gerade ich gemeint bin, sondern der Wiener im allgemeinen und der Mittelständler im besonderen.

            Die erste Szene spielt sich zwischen dem Patienten und dem Hausarzt ab, der eben von einem Riesenthermometer die Temperatur abliest: „140 Grad.“ – „Um Gotteswillen, Herr Doktor, das ist doch nicht möglich. Sie meinen wohl 40 Grad.“ – „Das war einmal im Frieden. Wo alles so stark gestiegen ist, sollen gerade die Fiebertemperaturen nicht gestiegen sein?“ – „Werde ich da überhaupt davonkommen?“ – „Ausgeschlossen. Schon deshalb nicht, weil Sie ein unbescholtener, korrekter Oesterreicher sind. Ja, wenn Sie ein ausländischer Valutenschieber wären, da würden Sie bestimmt davonkommen. . . . Gurgeln Sie fleißig und kaufen Sie sich Juli-Süd. Zum Schwitzen brauche ich Ihnen nichts zu verordnen. Lesen Sie nur die letzten Nachträge zur Personaleinkommenssteuernovelle. Das genügt.“

            Er läßt mich richtig allein mit meinen Steuersorgen. Weiß Gott, wieviel Fatierungstermine ich da im Bett versäume. Der Angstschweiß bricht aus. Kann mir denn niemand raten und helfen. . . . Aus dem Dunkel der Ofenecke löst sich eine sonderbare Gestalt ab: ein uralter Mann, kahlköpfig, mit einem langen, grauen Bart und in einem wallenden Mantel gehüllt, der mit lauter Paragraphenzeichen und Verordnungszahlen gemustert ist. „Wer sind Sie denn? – „Ich bin der, der die letzten Steuervorschriften versteht.“ – „Dann sind Sie kein irdisches Wesen und zur Erteilung von Steuerauskünften nicht konzessioniert.“ Unbekümmert zieht er aus seinem Mantel endlose Bogen von hoffnungslos gelbgrauem Amtspapier hervor und murmelt dabei: „Gesetz vom soundsovielten, Novelle, Nachtragsverordnung, Durchführungsbestimmung.“ Und dabei beginnt er, mich in die Bogen einzupacken wie in einen Stammumschlag. „Um Gotteswillen, lassen Sie mich doch zuerst lesen. Ich muß ja bis 15. Mai fatieren. Er schüttelt den kahlen Kopf: „Alles längst veraltet. Bis Sie gesund sind, gilt das nicht mehr. Das hat alles nur den Zweck, Ihnen warm zu machen.“ Und er wickelt mich immer weiter ein, bis ich mich gar nicht mehr wie ein Mensch fühle, sondern wie ein papiergewordenes Steuersubjekt, und läßt mich hilflos liegen.

            Matt und gebrochen erwache ich aus meinem Angsttraum und sehe die Hausbesorgerin an meinem Bett stehen und neben ihr einen verdächtigen Burschen. „Was bringen S’denn, Frau Schebesta?“ Wie einen Dolch zieht sie aus ihrem Busen einen Haustorschlüssel hervor und reicht ihn mir. „Was soll ich denn damit?“ – „Das Sperrsechserl ist abgeschafft worden. Sie kriegen Ihren eigenen Schlüssel und können nach Haus’ kommen wann und mit wem Sie wollen. Es geht mich leider nichts mehr an.“ Ist die Welt aus den Fugen oder bin ich wirklich ernstlich krank. . . . „Und wer ist denn der Herr?“ – „Bitt’ schön, das ist unser ständiger Einbrecher. Jetzt, wo sich jeder hergelaufene Kerl einen Haustorschlüssel verschaffen und einbrechen kann, kriegt jedes Haus seinen Einbrecher zugewiesen, damit eine Ordnung ist. Und bitt’ schön, dann möchte ich auch gleich vom Reinigungsgeld reden. Es wird jetzt nach der neuen Vorschrift ganz anders berechnet: die Zahl der Fenster plus der Zahl der Stufen zur Wohnung mal Regentage und schmutzige Füss’. . . .“

            Bevor ich der sinnreichen Rechnung noch folgen kann, läutet es draußen heftig. Der Gaskassier tritt ein, sonst sehr liebenswürdiger Herr, heute sieht er streng und drohend drein: „Ich erteile Ihnen einen amtlichen Verweis. Sie haben im abgelaufenen Monat bloß 29 Kubikmeter Gas verbraucht.“ – „Mehr zu verbrauchen, war doch streng verboten?“ – „Natürlich, aber geduldet war es längst. Haben Sie das nicht bemerkt? Und Sie wollen ein echter Wiener sein? Schämen Sie sich nicht? Daß Sie mir von nun an mehr Gas verbrauchen. Baden und waschen Sie sich so viel Sie wollen. Nur keine Schmutzerei. Das Sparen hat aufgehört, wo die Kohle ohnehin so teuer ist.“ Und dann verwandelt er sich in seinen Kollegen, den Elektrizitätskassier: „Warum brennen Sie denn so eine lumpige Sechzehnerlampe? Verwenden Sie Fünfziger oder meinetwegen Bogenlampen, wie sie jetzt in allen Straßen eingeführt werden. Wir brauchen ein Elend bei festlicher Beleuchtung. Die Welt soll sehen, wie schlecht es uns geht.“ Und plötzlich verwandelt er sich wieder, diesmal in einen kommunalen Würdenträger. Ich weiß nicht, wer er ist, aber er sieht sehr wohlgenährt und gesinnungstüchtig aus. Er hält mir ein Päckchen Straßenbahnfahrscheine unter die Nase: „6 Kronen 50 Heller im Vorverkauf. Nicht der Mühe wert. 7 Kronen ist doch auch kein Geld. Wem kommt es heute auf 2 Kronen mehr an? Wenn Sie sich dazu noch eine Reiseunfallversicherung kaufen, können Sie nach zwei bis drei Straßenbahnfahrten ein reicher Mann sein. . . . Nächstens werden Sie vielleicht schon um 20 Kronen bis Mitternacht fahren können. Dann können Sie auch bis 1 Uhr im Gasthaus sitzen, bis 2 Uhr im Kaffeehaus. Das Nachtleben muß wieder amtlich eingeführt werden, das Wiener Leben bei Tag heißt ohnehin nichts. Bisher hat die Gemeinde ihren Bürgern bloß Sorgen gemacht, jetzt wird sie ihnen auch schlaflose Nächte bereiten. . . .“

            Nein, diese wüsten Gesichte halte ich nicht länger aus. Wie komm’ denn ich mit meiner Influenza dazu, die Gemeindefinanzen in Ordnung zu bringen? Wo ich ohnehin schon ganz verschmachtet bin. Jetzt wär’ eine kleine Erfrischung gut, am besten eine Orange. . . . Kaum gedacht, ist schon eine Hand da und darunter eine Orange, bereits geschält und zerteilt. Die Hand ist nicht sehr sauber, aber die guten Sachen kriegt man ha immer nur unter solchen Händen. Ich kenne sie gut, es ist die Hand meines Schleichhändlers, er selbst bleibt wie immer rätselhaft dunkel und unsichtbar und sagt verlockend: „Die Spalte 20 Kronen.“ Eine Spalte kann ich mir schon leisten. Ah, das tut wohl . . . noch eine. „Dreißig Kronen.“ Die nächste 40 und jede mehr als die vorherige. „Was ist denn das für eine Orange?“ – „Das ist überhaupt keine Orange. Das ist der Preisabbau, mit dem die Regierung jetzt das Gremium der Schleichhändler betraut hat. . . . Wenn der Herr vielleicht Würfelzucker braucht – oder ägyptische Zigaretten, garantiert von Derbysiegern. . . . Das Stück 5 ungarische Kronen, andere nehm’ ich nicht. . . .“ Und dann wird es dunkel, ich weiß nicht mehr, was Valuta ist und habe offenbar das Bewußtsein vollständig verloren. . . .

            Nach endlosem Schlaf erwache ich spät am Vormittag, matt und zerschlagen, aber fieberfrei. Gott sei Dank, alles war nur wüster Fieberspuk, nur böser Traum und sinnloses Delirium. Der Hausarzt kommt, ist sehr zufrieden mit mir und sagt: „Zwei, drei Tage bleiben Sie noch vorsichtshalber zu Hause. Dann dürfen Sie ausgehen. Ich kann Sie schon heute gesund entlassen.“ Langsam begehe ich meine Auferstehung, zögernd kehre ich wieder ins tägliche Leben zurück, zu den Bekannten, zum Telephon, zum Beruf, in die Straßen und zu den Tagesneuigkeiten. Aber ist denn das . . . ich bin doch fieberfrei . . . alles ist ja genau so, wie ich’s geträumt habe. Was ich für wüste Fieberphantasien gehalten habe, ist wüste Wiener Wirklichkeit, wie sie sich in den letzten Wochen zusammengedrängt hat. Es lohnt sich jetzt wirklich nicht, krank zu sein und Fieber zu haben in einer Zeit, wo die Wirklichkeit alle Fieberphantasien an Konfusion und Unwahrscheinlichkeit überbietet. Und ich habe mich schon lang nicht so miserabel gefühlt, wie an dem Tag, wo ich wieder gesund ins Wiener Leben entlassen wurde.

In: Neue Freie Presse, 24.04.1921, S. 10-11.

Julius Bittner: Der Geistige und sein Eigentum

Denkschrift, verfasst im Auftrag der Genossenschaft Dramatischer Schriftsteller und Komponisten in Wien von ihrem Präsidenten (= J. Bittner)

Die einzige Tochter Josef Strauß‘ ist vor wenigen Wochen in Wien an Hungerödem gestorben. Mit der Operette »Frühlingsluft«, deren Hauptreiz in der Verwendung der Melodien dieses Meisters bestand, wurde mehr verdient, als Josef Strauß in seinem kurzen Leben Geld gesehen hat.

[…]

Österreich besitzt in seinen schaffenden Künstlern ein Kapital, das bei dem geltenden Urheber-Unrechte nach Ablauf der sogenannten Schutzfrist widerspruchslos der Profitsucht der Unternehmerschaft ausgeliefert war. Das österreichische Volk hat von den Werken seiner Meister nichts gehabt // als daß es sie sich in Leipzig in Mark und Pfennig bei einigen wenigen Firmen kaufen konnte. Nach Ablauf der sogenannten Schutzfrist zahlt der Theaterdirektor keine Tantiemen mehr, der Buchhändler gibt niemanden mehr als seiner eigenen Tasche!

             Durch alle Juristengehirne geht in Sachen des Urheber-Unrechtes der Wunschtraum von dem sogenannten „Interesse der Allgemeinheit“ an den geistigen Schöpfungen. Merkwürdig ist nur, daß in unserem ganzen Rechtssystem die Allgemeinheit ausschließlich und allein nur gerade an Werken der Literatur und Tonkunst Interesse ha. Würde man den Juristen glauben, so wären der Allgemeinheit Heilquellen, Bergwerke, Äcker und Wiesen ganz gleichgültig. Wie hypnotisiert sähe sie ausschließlich auf Dramen und Partituren. Bis 30 Jahre nach dem Tode des Urhebers verfolgt das geltende Urheber-Unrecht jeden, der sich dagegen verwehrt, mit Feuer und Schwert. Am 31. Dezember des 30. Kalenderjahres nach dem Tode des Urhebers um 12 Uhr nachts schlägt das Urhebergesetz lächelnd die Augen auf, wer noch um 11 Uhr nachts als Nachdrucker straffällig war, ist um 12 Uhr ein Freund des Volkes und begeht eine gottwohlgefällige Handlung, wenn er den eben noch vor einer Stunde verpönten Nachdruck ausführt. Ihn segnet nun Themis, da ihr ja alle Priester eingeredet haben, dass just an jenem 31. Dezember um Mitternacht das „Interesse der Allgemeinheit“ an den Werken des vor 30 Jahren, wie es sich gehört, in den bescheidensten Verhältnissen gestorbenen Urhebers beginnt…

             Wie gesagt, hat die Allgemeinheit trotz Hunger und Kälte, an der sie jetzt leidet, kein Interesse an Weizenfeldern und Kohlenbergwerken; Petroleumgruben und Viehzucht sind ihr ganz gleichgültig; – nur nach Dichtungen und Partituren steht ihr Sinn.

             Wer ist nun diese Allgemeinheit? Es sind:

  1. die Theaterdirektoren,
  2. die Verleger, also nicht allzuviele Leute, die jenes berühmte Interesse vertreten.

„Am 1. Jänner nach diesem 31. Dezember kostet in keinem Theater das Billet zu dem Drama des verstorbenen Urhebers auch nur einen Heller weniger! Der Theaterdirektor erspart ganz einfach die Tantième, die er sonst den Erben oder – wie wir es anstreben dem Staate zu zahlen hätte, der Verleger gibt eine billige Ausgabe heraus, ohne davon die geringfügigen 15 bis 20 Prozent abführen zu müssen. Die Werke des verstorbenen Urhebers sind Eigentum, das durch einen Spruch nicht des Rechtes, sondern der bloßen Gewalt für herrenloses Gut erklärt wurde, sind eine Verlassenschaftsmasse, die entgegen den Bestimmungen des geltenden Erbrechtes einfach auf eine bloße Rechtsfiktion für „cadue“ erklärt wurde und von nun an nur ganz wenigen reinen Unternehmern (der „Allgemeinheit“) zur beliebigen Ausbeutung übertragen wird.

Die Künstler könnten sich demgegenüber ganz einfach auf das bis nun geltende Recht eines jeden Staatsbürgers berufen, daß sie ihr Eigentum und das sind doch die Werke, die sie in mühevoller Arbeit geschaffen haben, ebenso wie Kaufmannsgeschäfte, Tischlerwerkstätten, Wirtshäuser ihren Erben hinterlassen könnten. Nun denken sie aber sozialer als die übrige Welt und wollen nur erreichen, daß ihre Kinder und Enkel nicht darbend zusehen müssen, wie andere aus dem Schweiße der Arbeit des Vaters oder Großvaters mühelos Millionen ziehen.

Die Künstler wollen für das Volk geschaffen haben, dem sie angehören, für ihre Kinder und Enkel, solange es ein Erbrecht gibt und nicht für einige privilegierte Unternehmer.

Die Genossenschaft der dramatischen Schriftsteller und Komponisten, welche sämtliche in Österreich für die Bühne schaffenden Künstler zwangsweise angehören müssen, da sie sonst an keiner Bühne des Bühnenvereines aufgeführt werden können, erlaubt sich nun folgende Leitsätze für die Schaffung eines wirklichen Urheberrechtes vorzubringen:

  1. Unumschränkter Eigentümer aller auf österreichischem Boden von Österreichern geschaffenen Bühnenwerke ist unmittelbar vom Tode des Urhebers angefangen der Staat als Vertreter des Volkes.
  2. Solange Gattin, Kinder und Enkel des verstorbenen Urhebers vorhanden sind und auch nicht länger als 50 Jahre nach dem Tode des Urhebers verpflichtet sich der Staat, die von ihm einkassierten, vertraglich festgesetzten Tantiemen und Verlagsanteile an diese Kinder und Enkel auszuzahlen. Nach Ablauf der 50 Jahre fallen alle Erträgnisse der Werke an den Staat. Die Genossenschaft vertraut darauf, daß das Volk auch später noch lebende Angehörige des verstorbenen Urhebers nicht verhungern lassen wird.
  3. Tantiemenfreie Werke und Bücher ohne Verlagsanteil gibt es überhaupt nicht mehr. Statt des Verlegers soll der Staat beteiligt werden, der aus den Erträgnissen der Schöpfungen verstorbener Künstler leicht die Möglichkeit hätte, wirklich im Interesse der Allgemeinheit die aufstrebenden lebenden Künstler davor zu bewahren, daß sie, wie Schubert, im Elend jung sterben, wie Anzengruber Polizeiakten abschreiben, wie Hugo Wolf für miserables Geld Klavierstunden geben, wie Anton Bruckner Organistendienste leisten müssen.
  4. Wie der Staat diesen bisher gänzlich ungehüteten Schatz des Volkes verwaltet, ist seine Sache. Sei es, daß er durch einen eigenen Nationalverlag die Herausgabe billiger Volksausgaben übernimmt und dadurch nach nach unten zu preisbildend wirkt, sei es, daß er die Einziehung der geringen Verlagsanteile von 15 bis 20 Prozent des Ladenpreises, sowie der auf 5 bis 6 Prozent ermäßigten Tantiemen der zu gründenden Vertriebsstelle der Genossenschaft überläßt (natürlich für staatliche Rechnung), jedenfalls ist dem Geiste eines wahren Rechtes und eines wirklich verstandenen Interesses der wahren Allgemeinheit gedient, wenn das geistige Gut des Volkes dem Volke allein und nicht einigen privaten Unternehmern nutzbar gemacht wird.

Wir werden uns mit diesen Vorschlägen nicht nur an unsere im engsten Kartellverhältnis stehenden reichsdeutschen Kollegen, sondern auch an die Autorengesellschaften der ganzen Welt wenden und nicht eher ruhen, bis wir nicht, wie die französischen und ungarischen Künstler, die fünfzigjährige Schutzfrist erreicht haben. Da Österreich nach dem Friedensvertrage aber vor allem jener Berner Konvention beitreten muß, so möge das vorläufig immerhin geschehen. Wir benötigen aber Zeit, um ins mit den Autorengesellschaften der ganzen Welt ins Einvernehmen zu setzen und behalten uns vor, einen Kongreß derselben, wenn möglich nach Wien, einzuberufen. Am 31. Dezember 1919 werden aber Ludwig Anzengrubers Werke „frei“. Damit sie nicht dem Volke verloren gehen, bitten wir um provisorische Verlängerung der geltenden Schutzfristbestimmungen um ein Jahr.

Anmerkung des Verfassers: Die vorstehende Denkschrift wurde nicht in Verhandlung gezogen. Wir ersuchen um gefällige Äußerung über diese Vorschläge an die Schriftleitung des ‚Merkers‘.

In: Der Merker, Jg. 11, H.1, 1920, S. 3-6.

Hans Natonek: Der Deutsche Mensch

Versuch einer psychoanalytischen Geschichtsbetrachtung1

Das Charakterbild des deutschen Menschen schwankt in der Geschichte und ist umstritten wie kein zweites. Das Gesicht des Engländers, des Franzosen, des Russen steht umstritten da, mag daher auch die Massenpsychologie mitunter gar zu schematisch verfahren. An dem Deutschen hat aber bis jetzt jeder verallgemeinernde massenpsychologische Versuch versagt. Geschichtsschicksal und Tradition haben den Charakter anderer Völker geprägt, das geschichtliche Schicksal des Deutschen aber ist zerrissen, widerspruchsvoll und noch ganz im Flusse; Tradition fehlt ihm völlig. Daraus erklärt sich, daß der seelische Habitus des Deutschen so schwer zu fassen ist. Jung wie sein Nationalbewußtsein ist auch der Charakter des Deutschen; er ist dem Gesichtsausdruck eines Halbwüchsigen zu vergleichen, dessen Züge in jähem Wechsel der Widersprüche, in den flatternden Reflexen unterirdischer Regungen den Völkerpsychologen vor neue Aufgaben stellen.

Den Versuch, einen bestimmten Geschichtsabschnitt lediglich vom Menschen und von dessen seelischen Kern her zu beleuchten, unternimmt eine kleine Schrift „Ueber die Nervosität im deutschen Charakter“ von Observator (Der Neue-Geist-Verlag, Dr. Peter Reinhold, Leipzig). Dieser „Entwurf zu einer Analyse der deutschen Volksseele von der Reichsgründung bis zum Zusammenbruch“ ist nur eine Anregung, ein Anfang, aber ein vielversprechender, an dem möglicherweise eine psychoanalytische Geschichtsbetrachtung anknüpfen könnte. Observator analysiert den deutschen Menschen und findet auf dem Grunde seiner Seele eine seltsame, heimliche Krankheitserscheinung, einen Reizzustand, eine Psychose, die er „Minderwertigkeitsgefühl“ nennt. Das ist zunächst überraschend, klärt sich aber sofort, wenn man weiß, daß unter Minderwertigkeitsgefühl nicht eine tatsächliche, sondern nur eine eingebildete Minderwertigkeit zu verstehen ist. Wie aber, wird man einwenden, der Deutsche, zumindest aber der von 1871 bis 1918, tritt uns doch als ein sehr selbstbewußter, fast anmaßender Typus entgegen, im Glanz seines Sieges, geschwellt vom Gefühl eines unerhört raschen Aufstiegs, in überbetonter Kraft und Männlichkeit! Gerade diese Ueberbetonung ist es, die dem Psychoanalytiker verrät, daß im Innern etwas unstimmig ist. All der Pomp und Kult, mit dem der Deutsche seinen jungen Kaiser umwölkte, und alle diese zahlreichen Symptome, die Observator aus dem politischen und kulturellen Leben zusammenträgt, sie sind nicht anders zu deuten als der Protest gegen das heimliche, bohrende ‚Minderwertigkeitsgefühl‘. Aber durch die Ueberkompensation – man weiß es aus der Psychoanalyse – wird ein Uebel nicht beseitigt, sondern im Gegenteil nur bestärkt.

Die Wurzel der Minderwertigkeitspsychose erblickt der Verfasser im allzujähen Aufstieg des Bürgertums nach den Siegen von 1866 und 1871. Mit der materiellen Verbesserung setzte ein gesellschaftlicher Ehrgeiz ein, der nur den einen Wunsch hatte,  sich so rasch wie möglich aus der bisherigen sozialen Schicht zu lösen, um in der nächsthöheren aufgenommen zu werden. […] Von unten drängte der Ehrgeiz der Emporgekommenen, von oben wehrte die strenge Reserve des Blutadels ab. Je heftiger das innere Manko anpochte, desto lauter übertönte man es mit der prunkhaften Nachahmung der Lebensführung übergeordneter Stände. Je mehr das natürliche Selbstbewußtsein schrumpfte, umso mehr trumpfte man mit Pseudoworten auf. Der inneren Gewissenswacht entging es nicht, wie unsicher und würdelos ein solches Leben war, das nur Zielstrebigkeit kannte, aber keine wahren Ziele. Man stieg auf teppichbelegten Marmorstufen empor, aber ach, man hatte Herzklopfen dabei und ein schlechtes Gewissen; denn kein gesellschaftlichter Triumph ersetzt das wunderbare, ruhevolle Gefühl der Sicherheit und des Sichselbstgenügens. So eiterte das Minderwertigkeitsgefühl weiter fort, umso bösartiger, als es der heilenden Strahlung des Bewußtseins entzogen blieb und durch Anmaßung übertüncht wurde.

[…]

Eine Abzweigung des Minderwertigkeitsgefühls ist die Durchschnittssucht; das erkrankte oder krankhaft gereizte Selbstbewußtsein hütet sich ängstlich, durch überragende Begabung noch weiter erschüttert zu werden. (Daß die Begabungen es bei uns auf vielen Gebieten so schwer haben, sich durchzusetzen, mag zu denken geben.) Die große Rolle, die die Uniform in Deutschland spielt, gehört zum gleichen Problemkomplex. Die Uniform wirkt gleichmacherisch und hebt ihren Träger gleichzeitig doch zu der so sehnsüchtig erstrebten ›Vollwertigkeit‹ empor. Von hier ergibt sich manch neuer Einblick in das Wesen des Militarismus.

Bis in den Zusammenbruch hinein verfolgt der Verfasser mehr oder weniger überzeugend diese Erkrankung der deutschen Seele. Mit dem Gefühl der Vollwertigkeit, die sich stets der Grenzen ihrer Kraft bewußt ist, wäre man früher und mit besseren Bedingungen zu einem Abschluß des Kampfes gekommen. Man führte ihn aber unter krampfhafter Ueberspannung bis zum unseligen Ende. Dann erst, in der Katastrophe, überließ man sich hemmungslos der Niedergeschlagenheit, in die das überspannte Selbstgefühl umschlug. Doch es dauerte gar nicht lange, und in der Dolchstoßlegende bäumte sich das Minderwertigkeitsgefühl wieder auf, um sich so selbst wegzufälschen.

Das rechte Maß seines Selbstbewußtseins und die Sicherheit in sich selbst zu finden, ist die große Aufgabe des deutschen Menschen. Nicht Schwäche ist es, die Grenzen seiner Kraft zu kennen, Schwäche war es, diese Grenzen beständig zu übersehen. Jeder Mensch, er mag bedeutend sein oder nicht, stellt seinen Vollwert dar, sofern er nur, in sich selbst gefestigt, nicht mehr scheinen will als er ist. Diese Sicherheit seines Menschenwertes, um den er sich nicht zu bangen braucht, da keine Macht der Welt ihm diesen Besitz nehmen kann, muß der an Minderwertigkeitspsychose erkrankten Seele wiedergegeben werden. Sie Sichtbarmachung dieses verborgenen Uebels, die Observator vorzunehmen versucht, ist gleichzeitig der Weg zur Gesundung.

In: Neues Wiener Journal, 17.2. 1923, S. 6.

  1. Nicht zu verwechseln mit der Schrift von Richard Müller-Freienfels: Die Psychologie des deutschen Menschen. München 1922, die Wilhelm Bauer im NWTbl. am 3.2.1923 besprach.

Viktor Silberer: Semmering-Rekord

Wenn man nur die Zahl der Besucher und das von ihnen verausgabte Geld in Betracht zieht, so hat der Semmering heuer eine Wintersaison, die alles bei weitem übertrifft, was dort jemals vorher an Massenbesuch und Aufwand zu verzeichnen war. Das Stammpublikum der Vorkriegszeit aber ist vom weiteren Besuche des ihm einst so lieb gewesenen, herrlichen Ortes ganz ausgeschlossen. Was nur an Großschiebern und sonstigen neuen Reichen in Wien in den teuersten Nachtlokalen in tollster Verschwendung praßt, bevölkert derzeit den Semmering, und treibt es dort womöglich noch ärger als in der Stadt. Dabei sind zwei Merkmale dieser Gesellschaft von heute zu verzeichnen. Erstens, daß es unter ihr fast gar keine alte Leute gibt und zweitens die bis zur Verrücktheit entwickelte Tanzwut. Woher alle die Burschen das viele Geld haben, die hier, allerdings nur soweit es sich um die leichte Hand im Geldausgeben handelt, als Grandseigneurs auftreten oder die indischen Nabobs spielen, bildet ein großes Rätsel. Aber gewiß ist, daß das viele Geld da ist und in leichtsinnigster Weise vergeudet wird.

Zur Charakteristik eine kleine Episode: Ein soeben angekommenes Paar betritt die Halle des Hotels und wird vom „Chef de reception“ empfangen. Beide in kostbarste Pelze gehüllt. „Zimmer“, sagt kurz der Jüngling. – „Haben bitte eines bestellt?“ fragte der Chef. – „Nein,“ war die Antwort. – „Ja bitte, da kann ich dann nicht dienen; denn was noch nicht besetzt ist, ist alles längst fest bestellt!“ – „Machen S’keine G’schichten, sperr’n S‘ uns ein schönes Zimmer auf, da haben Sie zehntausend Kronen!“

Das Tanzen hat den Charakter einer Seuche angenommen. Es wird, nicht etwa zu einer bestimmten Stunde, im ausgeräumten Speisesaal oder in der Halle täglich abends getanzt, sondern es gibt dafür weder mehr eine Orts- noch eine Zeitbestimmung. Man tanzt vielmehr jederzeit und überall; schon gleich nach dem Frühstück, noch vor dem Essen, nach dem Essen, bei der Jause, vor und nach dem Abendmahl, bis das letzte Licht erlischt, in allen möglichen Räumen, Gänge nicht ausgenommen! Dabei wird neben aller anderen Verschwendung auch ein enormer Luxus mit frischen Blumen getrieben. Die kleinste Nelke kostet 40 K, eine Chrysanthemeblüte 50 bis 100 K, eine Orchidee aber wird mit zweihundert bis fünfhundert Kronen das Stück bezahlt und diese Blumen schmücken nicht nur die Frisuren der Damen und stecken in den Knopflöchern der Smokings der Herren, sondern es wird dann, im Höhepunkt des Vergnügens und der Freude am schönen Leben in der neuen Zeit, gegenseitig damit geworfen.

Im sterbenden Wien aber gehen zur gleichen Zeit Hunderttausende, darunter auch viele ehedem bemittelte, ja selbst sehr wohlhabende Leute, wegen Mangels einer ausreichenden Ernährung in aller Stille der völligen Entkräftung und damit einem langsamen Hungertode entgegen. Leben doch auch Tausende von Familien, die früher sehr gut situiert waren, ja zu den Reichen zählten, schon seit längerem nur mehr vom Verkaufen besseren Hausrats.

In: Prager Tagblatt, 20.1.1921, S. 2.

Emo Descovich: Die Technik als Kulturproblem

Kürzlich wurde an dieser Stelle eine Reihe von Schriften besprochen, die über die Beziehungen der Technik zu den anderen Wissenschaften, zum Staat und zu einem großen, augenblicklich in einer welthistorischen Krise befindlichen Volke handeln. („Wege der Technik“, Neue Freie Presse, Nr. 23432). Jede einzelne dieser bemerkenswerten Veröffentlichungen befaßt sich mit einem anderen Thema. Sie alle aber beleuchten wie mit dem Lichtkegel eines Scheinwerfers die Tatsache, daß die Menschheit es noch nicht  verstanden hat, die moderne Technik in den Bau ihrer Gesamtkultur organisch einzufügen, so daß mir „Die Technik als Kulturproblem“ als geeigneter Sammeltitel erschien, weil er das all diesen Broschüren Gemeinsame am besten charakterisiert. Diese Aufschrift prangt nun auf dem Umschlagblatt des tiefdurchdachten Buches von Dr. Josef Popp, das in einem anderen Verlag (Georg D. W. Callwey, München) und zeitlich vor den erwähnten Schriften erschienen ist. Hier wird das Problemhafte der Stellung der Technik in unserer Kultur, dessen der Leser dort erst allmählich inne wird, in den Brennpunkt der Abhandlung gestellt und von den verschiedensten Seiten beleuchtet. Als Lehrer geisteswissenschaftlicher Fächer an der Technischen Hochschule in München, der er seit zwanzig Jahren als ordentlicher Professor angehört, ist der Verfasser nicht selbst Techniker, doch so innig mit der Technik verbunden, daß er einen vorzüglichen Überblick über ihr Wesen besitzt. Er nimmt ihr gegenüber gewissermaßen eine Doppelstellung ein, die ihn befähigt, das Problem von einer hohen Warte aus zu betrachten. Er vermag sich in die Gedankengänge sowohl des Technikers wie des Nichttechnikers einzuleben und infolgedessen eine für beide gleichermaßen verständliche Sprache zu sprechen. Und das ist notwendig. Denn Techniker und Nichttechniker stehen einander in vieler Beziehung völlig verständnislos gegenüber. Das ist wohl auch eine der wichtigsten Ursachen, weshalb die Technik eben noch ein Kulturproblem ist. Der Nichttechniker ist leicht geneigt, technisch Unmögliches für selbstverständlich, technisch Selbstverständliches für unmöglich zu halten. Ihm fehlt das Maß für den Umfang der technischen Wissenschaft, und er ist sich erst recht in unklaren über die verschiedenen Zusammenhänge zwischen Technik und den sonstigen Erscheinungen des Lebens. In diesem letzten Punkte ähnelt er aber dem Techniker selbst. Dieser geht meist so ganz in seinem Sonderfach auf, daß ihm nicht Zeit bleibt oder er sich wenigstens nicht die Muße nimmt, über jene Zusammenhänge ernstlich nachzudenken. So ist für beide die Technik ein Etwas, dessen Platz in der Gesamtkultur nicht feststeht. Soll aber jener Zustand nicht eintreten, der in der Versklavung der Menschheit durch die Technik bestehen würde, müssen alle Menschen zur Technik eine andere Stellung einnehmen als bisher. Die einen müssen wenigstens ihr Wesen kennenzulernen trachten, die anderen sich nicht ausschließlich mit ihr befassen, sondern Fühlung nehmen mit den Gedankengängen der Nichttechniker. Hier dem studierenden Techniker und Nichttechniker, aber auch dem Lehrer und jedem Gebildeten ein Führer zu sein, ist der Zweck des Buches, den es in hohem Maße zu erfüllen scheint. Mit unerbittlicher Klarheit wird das Für und Wider verschiedener mit der Technik im Zusammenhang stehender Erscheinungen erörtert. Die Art, in der es geschieht, hält den Leser in ununterbrochener Spannung wie ein guter Roman. Geradezu dramatisch wirken einzelne Stellen und es ist ja auch ein dramatischer Stoff, der hier behandelt wird. Betrifft er doch das größte Kulturproblem der Gegenwart und nahen Zukunft, dessen baldige Lösung im höchsten Interesse der Gesamtmenschheit gelegen ist.

In: Neue Freie Presse, 1.2.1930, S. 10

F. L.[orenz]: Dichter und Revolution. Ein Gespräch über entfesseltes Theater

Kürzlich sprach ich mit einem Dichter, der nach langjähriger Abwesenheit wieder nach Wien zurückgekehrt war und nun erschüttert vor der Ruine des Justizpalastes stand. Das Gespräch drehte sich um die Stellung des Dichters zur Revolution.

            „Was verstehen Sie unter Revolution?“ fragte der Dichter. „Wir, die wir schöpferisch arbeiten, die wir in anderem Sinn Nutznießer des Zeitgeistes sind als die Politiker, verstehen darunter schon jede Verzerrung des Straßenbildes. Das erscheint Ihnen sonderbar, überspannt? Sie meinen, daß Revolution für den Dichter erst dort beginne, wo eine Weltordnung im Wochenbett liegt? Wo aus dem Elend, der Angst Tausender von Menschen eine neue Idee entsteht? Sie irren, wir Dichter sind der Straße verhaftet, der Straße in ihrem unpolitischen Sinn, der Straße als der Summe des Unvermuteten, des Zufälligen, des Anregenden. Wir brauchen keine Haupt- und Staatsaktionen, im Gegenteil, wir scheuen sie. Was wir brauchen, sind die kleinen Winke, die uns die Straße gibt, eine schöne Frau, ein typisches Männerprofil, einen ungewöhnlichen Lichtreflex, den geheimnisvollen Chor aus Menschenstimmen, Tierlauten und Maschinengeräuschen, den krassen Wechsel der Stimmungen, der das Wesen der Städte bildet: hier Kaffeehaushalbdunkel, dort grelle Bogenlampe…“

            „Aber die Revolution?“ fragte ich.

            „Man möchte nicht glauben,“erwiderte mein Begleiter, „wie oberflächlich wir Dichter sind, wenn es Anregungen gibt. Darum scheint uns die Weltrevolution einem kleinen Straßenkrawall gleichwertig. Ueberlegen Sie doch: es handelt sich nur darum, was man sieht, was man miterlebt. Wenn wir uns einer Straße verschrieben haben, mit der wir leben, dann ist diese Straße die Welt und ihre Entfesselung die Weltrevolution. Ich habe auf meiner Reise durch die Länder viele Empörungen der Straße mitgemacht. Es waren oft nur kleine Zusammenstöße, die kaum die Lokalzeitungen beschäftigten. Mich aber erregten, schmerzten sie, als drohe die ganze Welt unterzugehen. Denn ich konzentrierte meine Liebe in diese Straßen, wie ein anderer eine Stadt, ein dritter etwa sein Vaterland liebt. Das müssen Sie festhalten, daß wir oberflächlich sind, wenn wir Stimmungen suchen. Der Kontakt mit der Welt, dem Zeitgeist findet sich später, unbewußt. Ich habe die Beobachtung gemacht, daß in dem Augenblick, da die Oberfläche der Zeit, der Straße revoltiert, mit einem Schlag die Quellen der Kunst versiegen, als sögen sie ihre Kraft aus eben dieser Oberfläche. Grotesker Zustand für einen Dichter, von dem Zufall eines Lohnkonflikts abhängig zu sein! Der Grund dafür: wir brauchen friedliche Entwicklung der Dinge und verabscheuen die billige Dramatik der entfesselten Straße.“

            „Dennoch gibt es Dichter, die gerade von der Revolution befruchtet werde?! Ich meine nicht die sozialen Dichter an sich, sondern die vor allem, die Revolution als wildbewegtes Drama fesselt.“

            „So wäre also mein Bekenntnis das „ecce homo“ des Bourgeois. So wären wir mit unseren Nerven, die kein Blut spüren können, ohne zu zucken, die dafür aber stark sind, wenn es gilt, unblutige Geheimnisse zu erleben, so wären wir mit unserem Sinne für Beschaulichkeit, für innere Sensation um Jahrzehnte zu spät geboren? Ich glaube es nicht. Bedenken Sie, daß alles Wilde, Unorganische den Spiegel der Zeit beschlägt, vor dem wir sitzen. Wir haben als Menschen nicht die Kraft zu so gewaltiger Objektivität, daß wir vor einer revolutionär aufflammenden Stadt daran denken könnten, daß hunderttausend andere Städte zur gleichen Stunde im tiefsten Frieden leben. Wir sehen nur das Nächstliegende und müssen es sehen, da wir mit tausend Fühlern nur aus unserer engsten Umgebung die Stimmung holen, die wir brauchen. Der Dichter ist, wenn ich mich so ausdrücken darf, Untersuchungshäftling seiner nächsten Umgebung. Und zwar ein Häftling, dem nicht einmal Selbstbeköstigung gestattet ist.“

            „Und ich dachte, daß gerade der Dichter in Zeiten der Konzeption zu größter Objektivität fähig sei. Wie vermöchte er sonst aus dem Zufälligen, das ihn umgibt, Allgemeingültiges zu holen? Und außerdem: ist die Revolution in diesem Jahrhundert wirklich bloß ein Zufall? Ist Rußland, sind die überall aufzuckenden Flammen revolutionären Geistes nicht der Beweis dafür, daß unsere Zeit im Zeichen der Umwälzungen, der Umwertung der Begriffe steht? Gibt es noch einen anderen Zeitgeist als den, den wir spüren, oder garantiert der Dichter, der seiner Zeit bekanntlich immer um ein Stück voraus ist, daß die Revolution keine Angelegenheit eines Jahrhunderts ist, sondern bloß Phase, Uebergang zu neuer Ordnung der Dinge auf überlieferter Ebene? Garantiert der Dichter mit den schwachen Nerven dafür, daß es niemals das geben wird, von dem Utopisten heute faseln, Kunst der Masse, revolutionäre Dichtung, Aesthetik des ganzen Volkes?“

            „Sie fragen mich etwas unerhört Wichtiges. Sie fragen mich nach dem Sinne unserer Zeit, wie man sich etwa bei einer Wahrsagerin nach der Zukunft erkundigen mag. Was soll ich Ihnen erwidern? Meine schwachen Nerven, die versagen, wenn die Straße revoltiert, wollen Sie als Argument nicht gelten lassen. Ist das, was wir erleben, eine Götterdämmerung der alten Kunstform, der unmittelbaren Kunst von Mensch zu Mensch, die aus inneren und nicht aus äußeren Stürmen entstand? Wird der Mensch als Persönlichkeit, von dem die Kunst bisher lebte, entwertet werden zugunsten der Masse als Inhalt des Kunstwerkes? Und mit dem Menschen auch sein Dichter? Ich glaube es nicht. Denn ich glaube nicht daran, daß der Mensch sein Herz, das große Geheimnis, um das sich alles dreht, einmal nicht mehr in seiner eigenen Brust wird schlagen hören, sondern in der Masse. Sie müssen an eine große Wahrheit denken. Jeder Mensch geht einmal nach Hause! Zu Hause, wo er sein eigenes Schicksal wieder vorfindet, wird er nicht mehr Gefahr laufen, sein eigenes Freud und Leid mit dem seiner Mitmenschen zu verwechseln. Revolution ist immer und überall ein Rausch. Ihm folgt die Ernüchterung, wenn man nach Hause kommt und statt der Barrikaden wieder sein Bett sieht. Es ist, wie wenn ein Theaterpublikum plötzlich die Bühne stürmen will, um selbst Komödie zu spielen, dann aber einsieht, daß dazu doch etwas mehr gehört als bloße Begeisterung. Zwar, die Politik, die aus Diplomatenintrigen längst eine Monstertheatervorstellung für das Volk geworden ist, erzieht die Menschen dazu, lieber Akteure zu sein, als Zuschauer. Und da haben sie das tiefste Wesen der Krise der Theater: Der Mensch in seiner Eitelkeit ist lieber der letzte Statist auf der Bühne der Zeit Als der erste Zuschauer im Parkett eines Theaters. Aber das ist nicht weiter schlimm. Wenn die Menschen nach Hause kommen, unterscheiden sie wieder genau zwischen politischer Theatervorstellung und Kunst. Denn sie hören ihr Herz wieder schlagen und fühlen, daß das Geheimnis des wirklichen Dramas – Furcht und Mitleid, sagt Aristoteles – nicht dem gelegentlichen Schauspieler sich enthüllt, sondern dem Zuschauer. Und darum glaube ich als Dichter zwar an geistige Revolutionen, nicht aber an die metaphysische Bedeutung von Straßenkämpfen, die die Oberfläche des Spiegels trüben, durch den wir in die Tiefen des Menschen schauen.

In: Neues Wiener Journal, Nr. 12140, 11. September 1927, S. 19-20.

Ann Tizia Leitich: Ein Wort für Amerika. Noch einmal „Monotonisierung der Welt“

Siehe dazu auch Monotonisierungsdebatte.

Stand da vor Wochen ein so interessantes Feuilleton in diesem Blatt, voll der Wehmut, die sich über schwindende Schönheit neigt, und doch auch voll Kraft im Selbstbehaupten, im Pathos der Schlusssätze. Der es schrieb, ein Dichter-Schriftsteller von internationalem Ruf, dessen künstlerisches und menschliches Wesen bis in die letzte Fiber durchtränkt ist von dem Duft, der Sensibilität der Kultur, deren unaufhaltsames Schwinden er beklagt; einer Kultur, die zwar unbewußt und liebenswürdig hochmütig, aber in ihrem universellen Umfassen aller ‚Himmel des Geistes’ dem Gefühlsleben ein Blumenparterre schuf, darin die Seelen im Anschauen von Schönheit ewige Fragen in edler Muße besprechen konnten. Vorausgesetzt freilich, daß sie in dieser Muße geboren waren, denn sonst hatten sie in der Regel draußen vor den Toren zu bleiben. Denn diese schöne und versinkende Kultur, unsere europäische Kultur des neunzehnten und frühen zwanzigsten Jahrhunderts, die der Krieg mit Auszehrung schlug, sie war eine individual-aristokratische, respektive bürgerliche Kultur, wie bis jetzt noch jede, die altgriechische ausgenommen. Sie gehörte jenen, die durch Geburt, Klasse, Stand sie in die Wiege gelegt bekamen. Sie ist uns allen teuer, die wir in ihr aufgewachsen. Wir alle bluten aus Wunden, die uns ihr Abreißen geschlagen hat, und unser taumelndes Leid wird  beredt in der Sprache eines Dichters wie jenes, der den Aufsatz schrieb, auf den ich hier weise: ‚Monotonisierung der Welt.’

Aber nicht um Vergangenem nachzuahmen greife ich zur Feder; ich bin in Amerika und da gibt es nur Gegenwart und Zukunft, keine Vergangenheit. Ich schreibe heute, weil in ‚Monotonisierung der Welt’ ein Satz ist, der heißt: „Woher kommt diese Welle, die uns alles Farbige, alles Eigenförmige aus dem Leben wegzuschwemmen droht? Jeder, der drüben gewesen ist, weiß es: von Amerika.“ Ich greife diesen Satz heraus und nehme ihn unter die Lupe.

Woher nehme ich die Courage? Kaum eine Handvoll Jahre ist es her, da saß ich im Kaffeehaus an der grünen Salzach, wo die ganz ansehnliche Künstlergemeinde Salzburgs ihr Quartier-Latin-Zusammenkünfte in jenen Nachkriegsjahren zu haben pflegte, im Angesichte von Fluß, Brücke, Stadt und des alten Wolfdietrich ragendem Schloß. Ist’s Café-Akademie? Zuviel ist über den Namen gerauscht, wie plastisch zwar auch die Szene der Seele erhalten geblieben. Und da saß am selben Tisch Stefan Zweig. Nicht, daß er mich bemerkt hätte: ich war jung und unreif, aber dankbar für die Stunde, die den Dichter an meine Seite gebracht, der mir die schlanke, sensitive Hand reichte, der aus der Welt von Kunst und Büchern seines altersgrauen Schlößchens nur selten herunterkam, um zu präsidieren, mit der Grazie eines Herzogs in der Nonchalance von Kniehosen und Sporthemd. Aber nicht ganz so selten wie der unsichtbare Geist über dieser literarischen Gemeinde, der schweigsam und exklusiv wie ein grollender König, täglich, in Silberbart und karierten Bridges, in ein gewisses Gasthaus in der Vorstadt pilgerte, wo es die besten Knödel gab. Ich meine natürlich Hermann Bahr. Oder der Schmied duftiger Verslein und sinniger Geschichtlein, voll der Herb-Süße Alt-// Österreichs, Franz Karl Ginzkey, der sich gerade ein Nest zurechtzimmerte, so weit draußen, versteckt hinter Wiesen und Hecken, daß man seine liebe Not hatte, es zu finden. Reinhardts Barockschloß träumte damals noch abbröckelnd, mit glaslosen Fenstern, über einen schilfgesäumten Teich, der jedem gehörte, der ihn haben wollte.

Was für silberne Tage, was für ein silberner Platz: Salzburg. So recht geschaffen dazu, dort eine Burg aufzurichten gegen die in der Phalanx der Großstädte auftürmende Verplattung von Zeit, Mensch, Gedanke. Und daraus stracks nach Amerika – es könnte ebenso gut heißen, von einem Planeten durch unendlichen Raum zu einem anderen Planeten. In das Amerika nämlich, in das ich gelangte. Mitten hinein ins schlagende Herz der neuen Welt warf es mich, nach Chicago. Und da war keine lieblich erwärmte Hotelsuite für mich bereit, keine Freundeshand, die mich führte und wies, kein Wegzeiger auf meiner Straße, aber da war auch kein Land von Hotel zu Hotel durchrasender Salonwagen, keine schwatzenden Komitees, die im ehrlichsten Bemühen nichts anderes tun als eine Welt in einem Fingerhut präsentieren. Ich kam nicht aus Hunger nach Brot oder Gold: denn eine leidlich gute Krippe hatt’ ich im alten Land in den Wind geschlagen und vom Gold war ich klug genug zu wissen, daß es auch hier nicht auf der Straße liege. Ich kam aus dem Zusammenbruch einer Epoche: aus dem Zusammenbruch eines Lebens, um die Möglichkeit neuen Lebens zu suchen. So stand ich Amerika gegenüber mit blanker Seele, aus der die Vergangenheit weggebrannt war, fragend: Was bist du, wo bist du, wer bist du; was bringst du mir, was der Welt? Ich, die Mücke, zum Riesen Amerika. Und der Riese sagte: Go ahead and find out! Geh und schau zu, was du findest. Ich stand mit dem Bündel Fetzen, das der Krieg einem österreichischen Intellektuellen hinterlassen hatte, in den Straßen Chicagos ätzend heiß im Sommer. Go and find out… Und ich ging und trachtete zu finden. Vorerst etwas zu essen und ein Dach überm Kopf. Leicht oder nicht leicht, ich wollte doch so ungeheurer mehr. Schritt um Schritt rang ich es dem Riesen ab. Ich kämpfte mit ihm, ich arbeitete für ihn, ich schrie gegen ihn, ich schmeichelte mich an ihn heran, trachtete seine schwachen Seiten herauszufinden und fand seine starken, dort wo sie kaum geahnt. Ich besah ihn mir von unten und oben, von innen und außen. Ich aß apple-pie und steak mit Wäscherinnen und Tippfräulein und Austern und Lobster mit Klubdamen und Millionären. Lachende Töchter des Westens schlug ich auf der Universität in englischer Grammatik, und ließ mich von ihnen in basket-ball schlagen. Viele Türen ging ich ein und aus und sah den Menschen bei der Arbeit auf die Finger, belauschte die Muße: Eine bunte Menge, hochmütig-exklusiv und gemütlich-anbiedernd, arm und reich, edel und unedel, ich sah, wie die Tage, die Wochen, die Jahre, wie die Städte und die Weiler sie gleich Treibholz an das Ufer unseres Bewusstseins schwemmen, das bereit steht mit der Laterne der Frage: Wer seid ihr, was bringt ihr? Und ich bin in den Farmerhäusern des großen Mittelwestens gewesen, wo Schweine auf der einen und Mais auf der anderen Seite der Menschen Hirn und Herz begrenzen, weil ihnen die Natur nichts anderes gewährt, und ich habe mich gewundert, wie sie es zusammenbringen, dazwischen auf Gott nicht zu vergessen, was immer nun Gott auch sein mag. Der Mittelwesten hat Amerika eine Anzahl seiner besten Dichter und Schriftsteller des letzten Jahrzehnts gegeben. Die man in Europa erst noch kennen zu lernen hat als die Pfadbrecher einer neuen literarischen Epoche – Morgenrot über dunklen, schlafenden Wäldern.  Freilich glaube ich nicht, daß einer unter ihnen sich mit Marcel Proust hätte verständigen können oder Proust mit ihnen; dazu sind beide zu sehr Vertreter der Extreme, die nicht einmal auf derselben Linie liegen. Ich möchte nicht begraben sein im Mittelwesten, kein Europäer könnte dort leben, der vor dem Krieg erwachsen und gebildet war. Aus dem einfachen Grund, weil es zu verschieden ist. Ich floh nach Newyork, um Europa näher zu sein, um Europa zu riechen im Angesichte der Dampfer, die es erste vor ein paar Tagen gesehen; aber ich habe im Mittelwesten unendlich viel gelernt. Amerika ist mehr als die an monumentale Keckheit, an Frivolität des Geistes grenzende Ausgestaltetheit der Wolkenkratzer; ist mehr als Newyorks weißglühender Markt der Eitelkeiten und des Sensationshungers, Broadway, mehr als Wallstreets Dollarjagd; mehr als seine 16 Millionen Automobile und die unheimliche Kompetenz des Druckknopfes (just press the button), der uns mit allem versieht, von einer Tasse Kaffee bis zum Konzert des berühmten, ein paar hundert Meilen weit entfernten Virtuosen. Amerika, das Land der unbegrenzten Möglichkeiten des Reichwerdens, wie es in den europäischen Märchen vorkommt, ist mehr oder weniger eine Sache der Vergangenheit; aber Amerika, das Land der unbegrenzten Möglichkeiten n der Evolution des Menschengeschlechtes mag wohl eine Tatsache werden.

Europa weiß ja selbst heute seinen Weg nicht. Es taumelt in der Dunkelheit. Zurück zum Alten, über die Trümmer hinüber klimmen kann es nicht und vorwärtsweiß es nicht recht wie. Europa ist zu befangen, zu verstrickt in tausend Strömungen und Unterströmungen, in Hemmungen und Wünschen.  Der Europäer als Einzelmensch ist einem werter und unleugbar interessanter als der Amerikaner, aber das Land als solches? Langweilig, platt, oberflächlich? Nein. Je länger man hier ist, desto überzeugter wird man davon, daß man noch immer mehr zu erkennen hat. Wenn ich sage ‚Land’, so meine ich es: Land. Die amerikanischen Städte sind mit wenigen Ausnahmen von einer trostlosen Hässlichkeit, einzig und allein für den Zweck gebaut, Geld zu machen; aber der Amerikaner besiegt diese Hässlichkeit, indem er ihr so viel als möglich ausweicht, und es hilft ihm dabei ein großes Glück: Platz zu haben. Alle amerikanischen Städte wachsen weit ausladend ins Grüne. Aber die Kraft, der Sinn Amerikas liegt nicht in den Städten, der liegt im Boden. Monotonie? Langeweile? Ja, fürchterlich, in beiden, Land und Stadt. Aber der Amerikaner kann nichts dafür; er empfängt diese Monotonie nicht freiwillig wie der Europäer, der sie eintauscht für bessere Güter. Ihn hat sie überrascht, überströmt, daß er momentan wehrlos, obwohl nicht tatlos ist gegen sie. Nach der sauren, alle Zeit und Energie in Anspruch nehmenden Arbeit der Erschließung eines riesigen Kontinents verwandte er den Ueberschwang// der also durch Uebung gestählten, durch Erfolg erfrischten Kräfte auf den weiteren Ausbau seines Lebens, für das er sich in wenigen Jahrzehnten eine Form geschaffen hat, die alles je Dagewesene an Brillantheit übertrifft. In Treibhausschnelle ist sie der ehemaligen Lehrmeisterin Europa über den Kopf gewachsen. […] Europa hat Jahrhunderte gebraucht, um seine Kultur zu bilden, die, zwar befruchtet von asiatischen, dennoch seine eigene ist. Nun, Amerika ist dabei, seine eigene Kultur zu bilden. Was es bisher gehabt hat, war importiert, adaptiert, oder trug deutlich den Stempel europäischer Schulung. Nun beginnt es sich zu emanzipieren. Sein politisches Distanzhalten ist vielleicht ein Symptom davon. Nicht daß es Europa von sich fern hielte, Europa und Amerika sind näher denn je, geographisch. Es horcht, was Europa zu sagen hat. Dieses Horchen darf man aber nicht für Absorbieren nehmen, denn es geht absolut seinen eigenen Weg. Wer kann heute genau wissen, wohin der führt? Aber jeder, der hier ist und dem Land den Puls fühlt, wird es erleben: die unverwischbare Empfindung, daß hier etwas im Werden ist, daß sich eine Seele regt, die langsam große Augen aufschlägt.

Renan definiert eine Nation: „Große Dinge in Gemeinschaft gemacht zu haben und wünschen, große Dinge in Gemeinschaft zu machen.“1 Aus naheliegenden Gründen trieb und treibt der Materialismus hier – wie überall – seine giftigen Blüten. Aber legt man das Ohr auf die Erde, so hört man den Hufschlag von Besserem. Hat man in Europa je daran gedacht, in Gemeinschaft national Wertvolles zu leisten? Ja, der Einzelne, der Große, er dachte und denkt die großen, die schönen Gedanken. Der Impetus, den die Großen gaben, war immer die Hefe für Neues und Besseres. Aber einmal über die Schwelle ihres Hauses trat man in Tyrannei, Stupidität, Haß und Schmutz. Hat je ein Volk zusammengearbeitet, um sein Land groß zu machen? Nein, es wurde höchstens dazu gepeitscht, es mächtig zu machen. Nur ein Beispiel. In Europa gibt es heute genug sehr reiche Leute, wahrscheinlich mehr als vor dem Krieg. Ist es einem eingefallen, ein großzügiges Kulturwerk zu schaffen, deren Nutznießer die Allgemeinheit ist, eine Bibliothek, eine Universität usw. oder Bestehendem genügend aufzuhelfen? Ich habe nichts davon gehört. […]

Amerika ist noch mitten drin im Fundamentlegen. Nun noch einmal zu unserem Mann zurück, zu unserem Durchschnittsmann – abends konzertieren für ihn Pablo Casals, Jeritza, die Philharmonie in seinem Hause, Staatssekretär Hughes spricht für ihn. Der reichste Mann der Welt kann wahrscheinlich Pablo Casals, Jeritza für einen Abend engagieren, kaum aber Staatssekretär Hughes2. Aber hier ist er in einem Fünf-Zimmer-Haus! Also: Fabriksware, Maschine, Kino, Radio, Horreurs für den kultivierten Europäer, gewiß. Warum aber eine Gefahr? Kein Künstler braucht zu fürchten, daß sein Saal leer wird durchs Radio, denn wer Schaljanin am Radio hört, wäre wahrscheinlich kaum ins Konzert gekommen. Andrerseits aber wird durch das Hören am Radio der Wunsch erweckt, den Künstler in Person zu hören. Wenn man hundert-, zweihundertmal am Victriola (ein ausgezeichnetes Grammophon) „O du mein Abendstern“ gespielt hat, prägt sich einem schließlich etwas von der Schönheit ein, und man wünscht die ganze Oper zu hören3. Vielleicht ist das Victriola zum großen Teil  schuld daran, daß die Operngesellschaften in Amerika aus der Erde wachsen. Riesige Entfernungen sind in Amerika, die durch die Vehikel der Kultur, wie wir sie einst in den schönen Zeiten vor dem Radio gehabt haben, nie erreicht werden könnten. Viele Millionen Menschen wohnen dort. Ihnen allen wird plötzlich eine neue Welt erschlossen. Machen wir uns doch einmal klar, daß die Zeit, da Cheops (von dem wir glauben, daß er seit Tausenden Jahren tot ist, der aber noch immer atmet) Ungeheures schuf mit Hilfe von Hunderttausenden von namenlosen Sklaven, die in der Wüstensonne wie Fliegen starben, daß diese Zeit endgültig vorüber ist. Wir stehen an der Schwelle einer ganz neuen. Wir sind inmitten einer ungeheuren sozialen Evolution. Europa experimentiert sich in diese Zeit hinein und es experimentiert, wie das russische Beispiel zeigt, nicht gut. Aber das russische Bei//spiel hat auch gezeigt, wie faul, wie unterminiert unsere Zeit gewesen. Es gefiel uns, gewiß, und wenn wir von Elend und Jammer und Hässlichkeit hörten, hielten wir die Hände abwehrend vor und sagten: Ja, ja, das existiert, aber wir wollen nichts davon wissen. Aber es nützte uns nichts; wir bekamen Jahre voll Elend, Jammer und Hässlichkeit voll zubemessen und wir sind dem russischen Gemetzel nur um ein Haar entronnen. Der Gestank aus übertünchten Gräbern wird früher oder später ruchbar.

Ich sehe für einen der bedeutendsten, ja vielleicht für den bedeutendsten Amerikaner der Epoche jenen an, der in allen seinen Betrieben dem geringsten Laufjungen einen solchen Wochenlohn zahlt, daß er durch ihn mehr haben kann als bloß trockenes Brot. Dies nicht aus Idealismus, auch nicht nur als Propagandakunststück, aber aus einer mehr schlauen als weisen, ungemein sicheren Vorausfühlung, mit der er Gestalt findet für Dinge, die da kommen sollen. Dieser Mann ist Ford. Ich habe gezögert, den Namen hinzuschreiben, denn Ford hat in Europa schlechtesten Ruf als der Protagonist des Taylorsystems, der äußersten, verblödenden Spezialisierung der Arbeit, Man kann eben nie ein Glied aus einem komplizierten Mechanismus, wie es ein Industriesystem ist, herausgreifen und einzeln betrachten; da muß man falsche Schlüsse machen. Gut und schlecht – das Kapitel Ford ist ein Kapitel amerikanischer Kulturgeschichte. Was aber nun den Laufjungen betrifft – es muß auch Laufjungen geben, warum sollen sie Ausgeworfene sein, weil sie Laufjungen sind? Es wäre entsetzlich, wenn die Welt nur aus Universitätsprofessoren bestände. Ich bin weder eine Bolschewistin noch eine Sozialistin, lediglich Amerikanerin – in diesem Sinn – und als solche sage ich: Jeder, wo immer er geboren ist, soll die Möglichkeit haben, sein Leben auszugestalten; die Möglichkeit, die Zeit, zu lachen. Das wollen wir vor allem wieder können: lachen. Dann werden wir weiter sehen. […]

Ja, wird man mir sagen, in Amerika ist das leicht, den Leuten geht es eben einfach allen materiell besser. Aber das ist es keineswegs, was den Unterschied so fundamental macht. Er liegt tiefer, dort, wohin die gleißende Politur des Geldes nicht mehr reicht. Diese Lemuren: Jazz, Fabriksware, Maschinen, Talmikunst – sie sind Quartiermacher, sie sind nicht Amerika. Es ja uns, die wir Heldenverehrer sind und die Persönlichkeit über alles schätzen, gleichgültig sein, ob Millionen Menschen wissender und lachender werden. Menschen, für die wir uns von vornherein, weil sie in Bildung unter uns stehen, nicht interessieren. Aber es ist für das Wesen der Dinge, für die Formung der Zeiten nichts weniger als gleichgültig. Ich ging einst in der Sonntagsmenge von Coney Island, dem größten Volksvergnügungsplatz der Welt, mit einem sehr gereisten sehr verwöhnten und Amerika – wie alle – sehr skeptisch gegenüberstehenden Wiener, der sagte zu mir: „Diese Mädchen sind alle nett gekleidet, sie sehen alle gut und hübsch aus. Wie machen sie es? Nun, darauf könnte man mancherlei Antwort geben, aber unter anderem auch das: Ein nettes, einfaches Kleid kann man billiger in Newyork kaufen als irgendwo anders, obwohl Newyork zu den teuersten Städten der Welt gehört, vorausgesetzt, daß man die Durchschnittsstatur hat. Dank der Fabrik. Wenn mein Geschmack darüber erhaben ist, so kaufe ich es einfach nicht. Daß die Fabriksware Geschmack verdirbt, ist durchaus unrichtig. Das Gegenteil ist der Fall, denn bei Leuten, die sich mit Fabriksware Genüge sein lassen, ist kein Geschmack zu verderben, höchstens einer zu entwickeln. Und dabei muß man immer von unten anfangen, nicht von oben. Es hat wenig Sinn, wehmütig derTage zu denken, da man in der Beschaulichkeit eines geruhsamen Lebenstaktes kunstvolles Hausgerät und Gewänder ersann und sie bedächtig und fürsorglich für langes Dienen in die Welt setzte. Jedes Jahrhundert hat seinen Inhalt und seine Aufgaben, und wo hinaus und hinauf die phänomenale Basis, auf die unsre gestellt ist, sich auswachsen wird, das können wir heute wohl gar nicht ahnen. Aber man fühlt es hier am Herzen Amerikas mit größter Gewissheit als hinter Europas Zaunburgen, daß auf den Kämmen dieses mit barbarischen Kräften geschwellten Stromes der ‚Monotonisierung der Welt’ neue und große Werte herangetragen werden mögen, daß sie herangetragen werden. 

In: Neue Freie Presse, 25.3.1925, S. 1-4.


  1. Ernest Renan (1823-1892), französischer Schriftsteller, Historiker, Orientalist und Religionswissenschaftler. Leitich bezieht sich auf seine berühmte, 1882 an der Sorbonne gehaltene Rede Was ist eine Nation (Qu’est-ce qu’un nation?) Siehe: http://fr.wikisource.org/wiki/Qu%E2%80%99est-ce_qu%E2%80%99une_nation_%3F (Zugriff vom 6.7.2014)
  2. Pablo Casals (1876 in El Vedrelli, Spanien – 1973 Puerto Rico), bedeutender Cellist, Komponist und Dirigent, der sich auch politisch, kulturell und sozial exponiert und engagiert hat, insbesondere gegen den Nationalsozialismus durch Einladungsablehnungen sowie im Verlauf des Spanischen Bürgerkriegs ab 1936 für die Republik und gegen Franco, was seinen Gang ins Exil zur Folge hatte. Weiters setzte er sich konsequent für die katalanische Sprache und Kultur ein.

    Maria Jeritza (1887, Brünn – 1982 New Yersey), weltbekannte Sopranistin und Theaterdiva, in vielen Opern von Richard Strauss und Max Reinhardt engagiert, 1921-1932 Ensemblemitglied der New Yorker Metropolitan Opera.

  3. Bezieht sich auf die Arie O du mein holder Abendstern in Richard Wagners Oper Tannhäuser (UA 1845, erste Aufführung in New York 1859)