{glossary-ignore]Robert Neumann[/glossary-ignore]: Tollwut an der Börse. (Auszug aus: Sintflut)

Die Riesenkrache an der New-Yorker und der Londoner Börse erinnern an eine Börsenszene aus Robert Neumanns erstem Werk, dem Inflationsroman „Sintflut“. Diese Szene, die ein packendes Bild des verrückten Börsenfiebers gibt, bringen wir nachstehend mit Erlaubnis des Verlages J. Engelhorns Nachf. zum Abdruck.

             Ein Diener ging durch den Saal und schnarrte: „Bauch! Karl Bauch! Karl Bauch, Telephon! Herr Bauch! Bauch! Herr Bauch!“ Die Sensale sperrten ihre Bogen und Bücher ein und kamen in die Kulisse herüber, Schlußkurse ermitteln, kaufen, geben für eigene Rechnung. Niemand dachte daran, den Saal zu verlassen. Die Nachbörse tendierte weiter nach oben. Was Klein anlangt, so stand er neben mir mit schiefer Schulter und hängenden Armen, blaß, matt. Wir zogen uns nach der Exotenkulisse. Pollak stand dort noch immer mit fünf, sechs anderen und handelte Abel. Sie waren auf 480 zu 520. Klein gab tausend Stück zu 510. Namen weniger bekannter Papiere schwirrten da durcheinander; kein Tag verging, daß nicht ein paar neuen aufgetaucht wären. Ein magerer, ärmlicher Mensch mit Bartstoppeln sagte: „Schweizer Glas. Ich gebe Schweizer Glas mit 210. Mit 210. Ich geb‘ mit 210.“ Niemand beachtete ihn. Er sagte: „Ich geb‘ Schweizer Glas mit 200.“ Klein horchte auf. „Ein Schweizer Papier?“ fragte er nah meinem Ohre. Ich hatte den Namen nie gehört. Er sagte: „Kaufen Sie.“ Ich bekam sie zu 195, hundert Stück. Klein sagte laut: „Ich nehme Schweizer Glas mit 230!“ Aus einem Winkel kam Ware. „240!“ Der Unrasierte brachte noch 200 Stück. Klein schrie: „Schweizer Glas! Ich nehm‘ mit 250! Mit 250! Mit 280!“ Ein Fetter, Haarloser sagte: „Mit 320 ist bei mir Ware.“ „Wieviel?“ „Tausend Stück.“ Klein warf die Hand hoch, schrie: „Tausend Schweizer Glas an mich mit 320!“ Das Geschäft in Hochdorfern war eingeschlafen. Um uns standen zehn, fünfzehn Menschen. Einer schrillte: „Geld auf Schweizer Glas 330! 340!“ Bei 360 kam Ware, fünfhundert Stück von einem kleinen Bankier. Weitere zweitausend nahmen die Käufer auf, die uns nachspielten. Klein ward die Hand hoch, gellte: „400! 400! 400!“ Er bekam zweitausend Stück. Um uns standen dreißig Menschen und schrien. Man kaufte zu 450 und zu 480. Die gaben, waren Agenten, kleine Bankiers. Dann schob Fischer seinen breiten Bau in eine Bresche, der Kontermineur stand da, tat den Mund nicht auf. Klein schmiß die Hand hoch, gellte: „480!“ Neben mir sprachen zwei. Einer fragte: „Was ist Schweizer Glas?“ Der andere sagte: „Klein weiß, was er tut. Man kann mitgehen.“ Einer kaufte mit Gebrüll bis 530. Klein hob sein Gesicht zu mir, sagte blaß: „Man jagt den Kurs hoch. Drüben steht Fischer und wartet. Wir müssen stabilisieren. Lassen Sie kaufen.“ „Wieviel?“ Er warf mir einen schrägen Blick zu und sagte knapp: „Soviel Sie bekommen werden.“ Ich fing mir Fenichel bei den Alpinen, gab Auftrag. Er stieß ins Gelände vor, mit kraftlosen Ellenbogen, warf Finger hoch, kreischte greisenhaft: „540! 540! Geld 540!“ Klein brüllte sehr vernehmlich: „Ich geb!“ Fenichel stand verblüfft und übernahm hundert Stück. „540!“ rief er noch einmal. Klein brüllte: „Ich geb!“ Fenichel notierte unruhig, offenen Mundes, und warf mir einen hilflosen Blick zu. „Ich geb!“ rief Klein. Viele lachten, Einer sagte sehr vernehmlich: „Ein Schwindler!“ Klein stand fleckigen Gesichtes. Die Hausse war gebremst. Die zwanzig, die uns noch umstanden, fanden sich nicht zurecht und warteten. Einer legte kleinlaut noch einmal Geld. Klein brüllte: „Ich geb‘ mit 540! Mit 530! Mit 520!“ Man lachte. Einer sagte: „Mahlzeit, ich geh‘.“ Da tat Fischer drüben den Froschmund auf und quarrte: „Ich geb‘ mit 500, – Ich geb‘ mit 480. – Ich geb‘ mit 460!“ Klein hob sein Gesicht zu mir: „Er konterminiert. Wo stehen wir?“ Ich addierte. „Wir haben siebzehntausendzweihundert Stück gekauft.“ Klein, mit zuckendem Mund: „Dann muß ich den Kurs halten.“ Fischer trompete drüben: „Ich geb mit 400.“ Klein kreischte: „An mich!“ Man merkte auf.

             Nun wurde es ernst. Fischer gab zu tausend und tausend Stück. Klein nahm alles. Fischer gab zehntausend zu 380. Klein übernahm und legte Geld bei 410. Fischer gab zehntausend und bot zwanzigtausend zu 370. Klein übernahm. Dreißig, vierzig Leute umstanden uns, gaben leer ab, spielten Fischer nach bis 340, 330, 300. 295 kam neue Ware. Klein, heißer, weißen Gesichtes, die Krawatte aus der Weste gerissen, Schweiß auf der Stirn – Klein übernahm. Es half nichts. Der Kurs glitt auf 220, 200. Fischer trompete: „180!“ Klein keuchte mir ins Ohr: „Die Rechnung!“ Um Gottes willen – die Rechnung!“ Ich addierte dann leise: „Wir haben zweihundertvierundzwanzigtausendachthundert Stück Schweizer Glas gekauft. Durchschnittlich zu 385.“ Fischer trompete: „175! 170 ist bei mir Ware!“ Klein wankte leicht. Er lehnte sich an mich und flüsterte: „Zu Ende. Wir werden nicht zahlen können.“ Und laut// kreischend, losgelassen: „Ich kaufe! Ich kaufe zu 175! Zu 180!“

             Da kamen hinten zwei von den Telephonen, drei, vier. Einer rannte vorüber, schrie: „Der Londoner Schlußkurs! Die Krone 36.400!“ Einer rief, ein Fetter: „Von gestern auf heute die Hälfte!“ Vogel von Vogel junior zog die Brieftasche, nahm Geld in die Finger, schrie: „Dreck ist das! Dreck! Leeres Schreibpapier ist mehr wert!“ Einer lachte. „Leeres Klosettpapier!“ Groß von Bock in Budapest schrie: „Geld auf Rima!“ Er rannte. Einer mit einem Geierkopf schnarrte: „Man muß kaufen, was man bekommt.“ Da warf Samuel Klein beide Hände hoch und kreischte: „Ich nehm Schweizer Glas zu 200! Zu 250!“ Fischer blieb stumm. Einer schrie: „Ich kauf zu 280! 280! 280!“ Leute kamen herüber, drängten sich, Klein kreischte: „300 Geld!“ Man bekam keine Ware. Ein paar Schlüsse standen 320. Drüben tat Fischer das Froschmaul auf und sagte: „Ich seid alle verrückt.“ Einer kreischte ihm Unverständliches ins Gesicht. Ein Ziegenbart meckerte: „Er hat ihm nachgespielt.“ Man kaufte zu 350, 380. Einer drohte Fischer mit beiden Fäusten und schrillte: „Nicht ein Stück hat er! Er hat leer abgegeben!“ Fischer legte mit blassen Lippen 400 Geld. Man schrie, schmiß Hände hoch. Bei 520 wurde Fischer von seinem Schwiegersohn forgeführt. Der Ziegenbart kaufte noch bei 580. Hände flackerten. Eine Dogge bellte 600. Bei 610 gab Klein die ersten zehntausend Stück. Die Dogge brüllte 630. Klein gab. Der Geier hackte herüber und kaufte zwölftausend zu 610. Andere kreischten, Ibisse, Iltisse, Marder. Klein gab. Schweiß troff, ein Hemdkragen lag auf dem Boden, einer kletterte an einem anderen hoch und schrie. Der Geier krächzte 710, die Dogge geiferte 770. Klein gab. Eine Glocke bimmelte. Ein Diener schnarrte: „Bauch! Herr Bauch, Telephon!“ Einer stolperte mit Gebrüll. Einer faßte einen an der Schulter und spie ihm Ziffern, Ziffern, Ziffern aus dem aufgerissenen Mail um die Stirn. Eine Wasserleiche spreizte Finger und griff. Ich addierte. Wir hatten glattgestellt, mit wahnsinnigem Nutzen. Ich ergriff Klein am Arm und riß und schleppte ihn durch die Balgenden nach der Tür.

             Im Rauchsalon sank er um. Ich bettete ihn auf das Plüschsofa und gab ihm Schnaps. Der Reporter einer Börsenzeitung schoß herein und griff nach uns. „Was wissen Sie über Schweizer Glas?“ keuchte er. „Welche Informationen haben Sie über Schweizer Glas?“ keuchte er. „Es ist doch richtig,“ keuchte er, „daß das die Braxer Strickwarenfabrik Schweizer & Glas ist? Aber das Unternehmen steht doch, hör ich, vor dem Konkurs?“ Klein lachte schrill und lachte noch, als ich ihn ins Automobil hob.

In: Arbeiterwille, 1.12.1929, S. 7-8.

Fritz Feder [= Jura Soyfer]: Avantgardistisches Theater im Hagenbund.

GENERALPROBE. Der kleine Theatersaal ist kaum geheizt. Die Schauspieler sind übernächtigt und nervös. „das Technische“ klappt nicht. Ja, wenn ein regelrechter Inspizient vorhanden wäre und eine Schar von Bühnenarbeitern – wenn man Maschinerie und Personal eines großen Theaters zur Verfügung hätte – dann würde sich jetzt gerade in diesem „Technischen“ das ganze Genie des Regisseurs offenbaren. Hier aber muß er in mühseliger Selbstbeherrschung feststellen: es klappt nicht; muß sich von Minute zu Minute immer mehr überzeugen lassen, wie notdürftig sich in Wirklichkeit all die Gongschläge, Grammophon-Melodien, Beleuchtungseffekte ausnehmen, die er blitzenden Auges im Regiebuch vermerkt hat; muß jeden seiner Einfälle krampfhaft verteidigen gegen die ringsum aufsteigende Hysterie, die da fordert: Rette, was noch zu retten ist! Laß alles aus, bis auf den nackten Text! Seien wird froh, wenn wir das Stück überhaupt nur irgendwie abrollen lassen können, auf diesem armseligen Nudelbrett von einer Bühne!

Aber die Schauspieler, der Beleuchter, der Bühnenbildner gebärden sich mutloser, als sie in Wirklichkeit sind. Sie werden bis spät in die Nacht durchhalten. Sie werden am nächsten Tag zu einer weiteren noch generaleren Generalprobe antreten. Sie werden trotz Grippe und Müdigkeit, elektrisiert vom Lampenfieber, sich mit Einsatz aller Kräfte in die Premiere stürzen. So wird die Aufführung auf dem „Nudelbrett“ zustande kommen, wird die Durchschnittsleistung der großen Theater geistig bei weitem übertreffen und dies ohne andere Mittel als die Energie eines Dutzend theaterbesessener junger Menschen.

Das ist ein altes Lied: das Lied vom avantgardistischen Studio.

In dieser Woche war die Theatergruppe des Dr. Ernst Rohner an der Reihe, all die Geburtswehen einer solchen Premiere durchzumachen. Aufgeführt wurde „Die Unbekannte von Arnas“, das Werk eines jungen Franzosen namens Salacrou. Vornehmlich aus zwei Gründen ist diese Aufführung beachtenswert. Erstens ist das Stück selbst künstlerisch sehr interessant und stellenweise von genialen Einfällen getragen. Zweitens ist es dieser seiner hohen Qualität wegen äußerst instruktiv über die ganze künstlerische Richtung, der es angehört, und – was besonders wichtig ist – charakteristisch für die Situation aller avantgardistischen Theatergruppen in Wien.

Ein Mann in gutbürgerlichen Verhältnissen namens Ulysse erschießt sich, weil seine Frau ihn betrogen hat. Ehe er sich aber dem Jenseits zuwendet, hat der Tote noch hienieden ein Stück Weg zurückzulegen. Alle Erinnerungen seines Daseins erscheinen nämlich in der Wohnung und in ihrem Kreise muß er alles noch einmal durchmachen, was ihm seit der Kindheit an menschlichen Erschütterungen begegnet ist, kurz gesagt, er muß sein Leben repetieren. Dieses Nochmals-Erleben erfolgt nicht chronologisch, sondern als sehr bewegtes Durcheinander. (Als ein „Jahrmarkt“, wie der Kammerdiener Nicola es ausdrückt, der eigentlich gar kein Kammerdiener ist, sondern die Fäden des ganzen mystischen Geschehens in der Hand hält.) Das Längst-Vergangene vermischt sich mit dem Eben-Geschehenen und sogar mit der Gegenwart, das heißt, mit dem, was nach dem Tode Ulysse geschieht. In dieser sehr kompliziert verschlungenen Vielheit der Zeiten und in der vollständigen Einheit des Ortes – alle drei Akten spielen im selben Wohnraum – tritt also Ulysse seine Odysse[e] zum zweiten Male an.

Er begegnet den Frauen, die er geliebt hat, angefangen von seiner Mutter. Er stürzt in die Arme seines Jugendfreundes, des sechzehnjährigen Jugendfreundes, der keine Ahnung hat, daß er als Vierzigjähriger dem Ulysse die Frau stehlen wird. Er läßt sich gerührt von einem zwanzigjährigen Offizier in Kavallerie-Uniform segnen: dieser aus einem Bildrahmen Herabgestiegene ist Ulyssens Großvater, blutjung gefallen in der Schlacht von Gravelotte, der Held der Familie. Aber knapp vor seiner Abreise ins Feld hatte dieser prächtige Offizier des Geldes wegen eine alte Frau genommen, und wie alles andere, muß Ulysse jetzt auch den schmerzlichen Moment wiedererleben, da er von dieser Ehe erfährt und damit das Ideal seiner ersten Jugend zusammenbrechen sieht.

Daß er dieses ganze Leben schon einmal gelebt hat, nützt ihm nichts. Jede Illusion und jede Enttäuschung, jeder Schmerz und jede Beseligung ziehen ihn, der doch den Ausgang im voraus weiß, unvermeidlich wieder in ihren Bann. Es ist so, als lebte er all dies zum ersten Male. Nur am Schluß, als er vom Betrug seiner Frau erfährt, scheint es einen Augenblick lang, als dürfte er die Lehre aus dem repetierten Leben ziehen. Er komm nämlich zur Erkenntnis, daß die Frau des Selbstmordes nicht wert ist, daß er dieses Los ertragen muß wie die übrige Durchschnittlichkeit seines Lebens, daß er außerdem hienieden noch viel zu lernen und zu genießen hat. Kurz: er will sich nicht umbringen.

Aber da reicht ihm der Kammerdiener (grotesk und mysteriös wie eine Gestalt von E.T.A. Hoffmann) den Revolver und erklärt: Nichts zu machen! Der Schuß ist schon gefallen. Worauf Ulysse die Waffe nimmt und der Schuß fällt.

Hat er sich zufällig umgebracht? „Nein,“ meint der Autor Salacrou, „es gibt keinen Zufall!“ Und um dieses wichtigste Fazit seines Stückes zu unterstreichen, hat er es eben nach jenem unbekannten Mädchen von Arnas benannt, das dem Ulysse einst im Weltkrieg begegnete. Er hat sie zufällig in einer evakuierten Stadt an der West-Front kennengelernt und sogleich wieder verloren. Es ist ihm nicht gelungen, irgend etwas über sie zu erfahren – nicht einmal ihren Namen. Vielleicht, wenn der Zufall sich anders gewendet hätte, hätte er sie geliebt und geheiratet.

Vielleicht wäre sein Schicksal anders abgerollt, wenn er diese Unbekannte erkannt hätte. Aber sein vorgezeichnetes Erdenschicksal war es eben, sie nicht kennenzulernen. Erst im Jenseits wird sie ihm sagen, wer sie ist.

Das ist die möglichst einfache Wiedergabe des sehr schwierigen Stückes. Lange und ausführlich ließe sich noch an ihm herumdeuten. Lange und ausführlich ließe sich noch vom dramaturgischen und philosophischen Standpunkt pro und contra sprechen.

Aber es gibt anderes dazu zu sagen, das für uns alles wichtiger ist.

Armand Salacrou gehört, seinem Stück nach zu schließen, zu den französischen Surrealisten. In den ersten Jahren nach dem Weltkrieg haben breite Schichten des französischen Publikums und an ihrer Spitze eine Reihe prachtvoll begabter junger Schriftsteller gegen die bestehenden Kunstformen revoltiert. Eine Welt neuer Probleme war stürmisch zutage getreten. Die hergebrachten Formen schienen keine geeignete Ausdrucksmöglichkeit mehr zu bieten. In dieser Zeit haben die Surrealisten, kühn experimentierend, Neues zu schaffen versucht. Was ihnen gelang, war viel zu wenig. Nämlich – was Theater betrifft – nur die Befreiung von starren, formalen Gesetzen der Dramaturgie. In dieser Beziehung haben sie den Expressionismus fortgesetzt und vollendet. Aber weiter kamen sie nicht. Nach einer Etappe wirklichen Fortschrittes trat Stillstand ein: es wurde nur mehr um des Experimentes willen experimentiert, es wurde mit Formen gespielt, was man sagte, wurde sekundär gegenüber der Manier, wie man es sagte.

Um diese Zeit wendete sich einer der führenden Surrealisten, Aragon, von seiner eigenen Schule ab. Und er blieb nicht der einzige. Heute gibt es in Frankreich eine breite Bewegung von Schriftstellern, die sich in Lyrik, Epik und Drama der ewigen Quelle aller Kunst zugewandt haben: dem Volk, mit seinen tausendfältigen lebendigen Lebensproblemen.

Und eines, worüber Lyriker sowie Epiker untereinander noch diskutieren mögen, kann für Theatermenschen doch kaum mehr fraglich sein: nämlich daß in allen Zeiten der Geschichte das Theater nur dort, nur dann groß und fruchtbar war, wo seine Leidenschaften die von Hunderttausenden waren.

Und von dieser Feststellung wollen wir nun zu den Wiener Theatern zurückgehen. (Zurückgehen – in jeder Beziehung.)

Die herrschende Wiener Theaterproduktion, welche sich derzeit merkwürdigerweise einer relativen wirtschaftlichen Konjunktur erfreut, steht geistig auf einem äußerst tiefen Niveau. Was die großen Unternehmungen anstreben, bewegt sich zwischen dem Amüsement und dessen etwas würdiger klingenden deutschen Übersetzung: Unterhaltung. Nur ein erschreckend geringer Prozentsatz der aufgeführten Stücke läßt sich in diese primitive Wertordnung nicht einreihen. Ein künftiger österreichischer Theaterhistoriker wird diese Epoche mit ein paar bedauernden Worten abfertigen müssen. Das weiß so ziemlich jeder, der mit dem Theater zutun hat. Die einen kümmern sich nicht darum – die anderen leiden darunter und wollen es seit Jahren besser machen. Sie waren vor Jahren eine einflußlose Minderzahl. Und das sind sie bis heute geblieben.

Warum? Hat es in diesem Lager an Talenten gefehlt? Gewiß nicht. Die großen Theater haben aus den kleinen Gruppen der Jungen die lohnendste Akquisition gemacht. Hat es am ehrlichen Willen gemangelt? Ohne die Lockungen zu unterschätzen, die von einer großen Gage ausgehen, läßt sich nüchtern sagen: nicht bei allen hat es am ehrlichen Willen gemangelt.

Liegt es also am Publikum? Will das Publikum um keinen Preis etwas anderes sehen als geschickt geschriebene, nichtssagende Stücke? Wenn es wahr ist – warum suchen sich die Studios kein anderes Publikum als das eine, an das sie sich seit soundsoviel Jahren vergeblich wenden? Und wenn es nicht wahr ist, warum ist und bleibt all die bewundenswerte Arbeit eine Sisyphusarbeit?

Über all diese Fragen müßten wir alle, denen es ums Theater zu tun ist, einmal nachdenken.

Gibt es zwischen dem Happyend eines Singspieltenors und dem doppelten Selbstmord eines avantgardistischen Ulysses wirklich keine Möglichkeit, die ein Experiment lohnen könnte?

In: Der Tag, 21.2.1937, S. 22.

El Lissitzky: Die elektro-mechanische Schau

             Vorliegendes ist das Fragment einer Arbeit, die aus der Notwendigkeit, den geschlossenen Kasten des Schaubühnentheaters, den geschlossenen Kasten des Schaubühnentheaters zu überwinden, entstanden ist (Moskau 1920-21.)

             Die großartigen Schauspiele unserer Städte beachte niemand, denn jeder „jemand“ ist selbst im Spiel. Jede Energie ist für einen eigenen Zweck angewendet. Das Ganze ist amorph. Alle Energien müssen zur Einheit organisiert, kristallisiert und zur Schau gebracht werden. So entsteht ein WERK – mag man das KUNSTwerk nennen.

             Wir bauen auf einem Platz, der von allen Seiten zugänglich und offen ist, ein Gerüst auf, das ist die SCHAUMASCHINERIE. Dieses Gerüst bietet den Spielkörpern alle Möglichkeiten der Bewegung. Darum müssen seine einzelnen Teile verschiebbar, drehbar, dehnbar usw. sein. Die verschiedenen Höhen müssen schnell ineinander übergehen. Alles ist Rippenkonstruktion, um die im Spiele laufenden Körper nicht zu verdecken. Die Spielkörper selbst sind je nach Bedarf und Wollen gestaltet. Sie gleiten, rollen, schweben auf, in und über dem Gerüst. Alle Teile des Gerüstes und alle Spielkörper werden vermittels elektro-mechanischer Kräfte und Vorrichtungen in Bewegung gebracht, und diese Zentrale befindet sich in Händen eines Einzigen. Sein Platz ist im Mittepunkt des Gerüstes, an den Schalttafeln aller Energien. Er dirigiert die Bewegungen, den Schall und das Licht. Er schaltet das Radiomegaphon ein, und über den Platz tönt das Getöse der Bahnhöfe, das Rauschen des Niagarafalles, das Gehämmer eines Walzenwerkes. An Stelle der einzelnen Spielkörper spricht der SCHAUGESTALTER  in ein Telephon, das mit einer Bogenlampe verbunden ist, oder in andere Apparate, die seine Stimme je nach dem Charakter der einzelnen Figuren verwandeln. Elektrische Sätze leuchten auf und erlöschen. Lichtstrahlen folgen den Bewegungen der Spielkörper, durch Prismen und Spiegelungen gebrochen. So bringt der SCHAUGESTALTER den elementarsten Vorgang zur höchsten Steigerung.

             Für die erste Aufführung dieser elektro-mechanischen SCHAU habe ich ein modernes Stück, das aber noch für die Bühne gedichtet ist, benutzt. Es ist die futuristische Oper „Sieg über die Sonne“ von A. Krutschonich, dem Erfinder des Lautgedichtes und Führer der neuesten russischen Dichtung. Die Oper wurde 1913 in Petersburg zum ersten Male aufgeführt. Die Musik stammt von Matjuschin (Vierteltöne). Malewitsch malte die Dekorationen (der Vorhang – schwarzes Quadrat). Die Sonne, als Ausdruck der alten Weltenergie, wird vom Himmel gerissen durch den modernen Menschen, der kraft seines technischen Herrentums, sich eine eigene Energiequelle schafft. Diese Idee der Oper ist in eine Simultaneität der Geschehnisse eingewoben. Die Sprache ist alogisch. Einzelne Gesangspartien sind Lautgedichte.

             Der Text der Oper hat mich gezwungen, an meinen Figurinen einiges von der Anatomie des menschlichen Körpers zu bewahren. Die Farben der einzelnen Teile meiner Blätter sind, wie in meinen Proun-Arbeiten, als Materialäquivalent zu betrachten. Das heißt: bei der Ausführung werden die roten, gelben oder schwarzen Teile der Figurinen nicht entsprechend angestrichen, vielmehr in entsprechendem Material ausgeführt, wie zum Beispiel blankes Kupfer, stumpfes Eisen usw.

             Die Entwicklung des Radio in den letzten Jahren, der Lautsprecher, der Film- und Beleuchtungstechnik und einige Erfindungen, die ich selbst inzwischen gemacht habe, das alles macht die Realisierung dieser Ideen noch viel leichter, als mir das 1920 vorgeschwebt hat.

In: MA (9), H. 8/1924, S. 5.

Ludwig W. Abels/Hans Tietze: Unsere Kunstgüter in Gefahr!

Das „Neue Wiener Journal“ hat vor einigen Tagen die Nachricht gebracht, daß mit 31. Dezember der als Kunstforscher sowie als schneidiger Kritiker bekannte und vielgenannte Universitätsprofessor Hans Tietze aus seinem Amt als Referent des Staatsamtes für Unterricht ausscheidet. Schon die Seltenheit des Falles – in einer Zeit, da jeder so lange als möglich an der Krippe zu verbleiben trachtet – hat weit über die engeren Kunstkreise hinaus Aufsehen erregt. Man weiß, daß Tietze nach dem Umsturz durch energische und logisch gewappnete Verteidigung unseres Kunstbesitzes gegen die Gelüste des Auslandes sich hervorgetan hat, daß er bald darauf das großzügige Programm für den Ausbau der staatlichen Sammlungen aufstellte, das vor allem den glücklichen Neuschöpfungen des Barockmuseums sowie der Galerie des 19. Jahrhunderts ec. zugrunde liegt, das aber noch lange nicht in allen Punkten durchgeführt werden konnte. Und so könnte man glauben, daß einer der Vorkämpfer um die gute Kunstsache die Flinte ins Korn geworden hätte. Die Gegner aller Art – an denen es bei einer so entschiedenen Erneuerungstätigkeit nicht fehlen kann – werden vielleicht im ersten Moment triumphieren. Nun, sie kennen die Motive dieses Schrittes nicht und ahnen kaum die Gefahren, die mit den schuldtragenden Verhältnissen verbunden sind!

             Die Abschiedsfeier, die vorgestern im Oberen Belvedere veranstaltet wurde, zeigt das einmütige Zusammenstehen aller am Gedeihen unserer Kunstinstitute interessierten Persönlichkeiten. Sie zeigte, wie tief die Trauer über diesen wohlerwogenen Schritt geht. Dem Scheidenden wurde eine von sämtlichen Beamten der Museen und vielen anderen Fachleuten von Rang unterzeichnete Denkschrift überreicht, in der Dr. Tietze der Dank für sein selbstloses Wirken ausgesprochen und das Festhalten an seinem Programm betont wird.

             Unter den vielen betrübenden Ereignissen, die in den letzten zehn Jahren über Österreich herniederstürmten, war der Stolz auf unseren vielbewunderten Kunstbesitz eines der wenigen tröstlichen Momente. Trotz Geldnot und Abbaumaßnahmen schienen unsere berühmten Institute, die einstigen Hofmuseen, die Hof- (jetzt National-)Bibliothek, die Kupferstich- und Handzeichnungensammlungen, die Galerien neuerer Kunst und andere in ein Stadium des Fortschrittes und der Vergrößerung getreten zu sein, ähnlich wie wir es bei den ehrgeizigen reichsdeutschen Instituten in Berlin, München, Hamburg usw. sehen können. Eingeweihten konnte jedoch nicht verborgen bleiben, daß viele Maßnahmen in den Anfängen stecken blieben; der Arbeitseifer schien zu erlahmen – kein Wunder, wenn die Arbeitslast, an der früher fünf Personen zu tragen hatten, nur oft auf einem einzigen Direktor oder Kustos ruht. Aber es gibt auch tiefer liegende Fermente der Zerstörung. Nicht etwa die Angriffe mancher Zeitungsreferenten sind hier gemeint, denn offener Kampf fördert.

Vielmehr: dem aufmerksamen Beobachter der österreichischen Nachkriegsvorgänge (und zwar auf allen Gebieten der Politik!) kann es nicht entgehen, daß seit einigen Jahren ein ganz eigener Typus von Beamten in den verschiedenen Staatsämternn auftritt, dem es weniger um das allgemeine Wohl, als um die eigene Karriere zu tun ist; es sind Männer, die ihre Ziele mit um so größerer Energie verfolgen, als ihr Gemüt und Gedächtnis „von keinerlei Sachkenntnis beschwert ist“. Sie finden bei jenen Verwaltungsbeamten, die sich möglichst lange am Ruder halten wollen und denen alles andere „Wurst“ ist, keine ernstlichen Hindernisse. Die Folge dieser Erscheinung ist eine vollkommene Stagnation in den betreffenden Gebieten.

[…]

             Hofrat Tietze formuliert die Symptome der Zersetzung in der staatlichen Kunstpolitik in zwei Punkten. In erster Reihe steht das Verhalten der Behörden in den bekanntlich so wichtigen Geldangelegenheiten. Die Krise kennzeichnet sich durch die seit Jahr und Tag bemerkbare Unlust, die genügenden Geldmittel selbst für die spärlichste Befriedigung der sachlichen und Personalbedürfnisse zu bewilligen. Es liegt diese scheinbare Sparsamkeit durchaus nicht im Sinne der Versailler Beschlüsse, ebenso wenig wie der ganz übertrieben gehandhabte Abbau im Personal künstlerischer und wissenschaftlicher Institute. Es war niemals die Absicht der Mächte oder des Generalkommissars Dr. Zimmermann in gedankenloser Schematisierung auch auf die lebendigen und unersetzlich wichtigen Kulturgüter anzuwenden. Welcher Widersinn einerseits in begeisterten Tiraden die zum Weiterbestand Österreichs und zu seiner Reputation so wichtigen Kunstgüter zu preisen, anderseits sie durch Entfernung der bewährten Hüter und Verweigerung der erforderlichen Gelder langsam aber sicher zugrunde zu richten! Jüngere Beamte werden nicht angestellt und herangezogen; die wenigen, die als Volontäre arbeiten, in Erhoffung späterer Anstellung, müssen im Existenzkampf zur Lehrtätigkeit oder Schriftstellerei übergehen. Auswärtige Kräfte lehnen jede Berufung ab, da die gebotenen Gehälter kaum die Hälfte der gewohnten Bezüge betragen!

             Als zweiten Grund des Rückgangs bezeichnet Hofrat Tietze die oben angedeutete Zersetzung, die sich in der Verwaltung selbst vollzieht. Die gesamte Verwaltung Österreichs, speziell auf dem Gebiet der geistigen und Kunstpflege, ist zu ihrem Schaden politischen Einflüssen, den Wünschen der verschiedenen politischen Parteien zugänglich. – Während in Deutschland trotz der Zerklüftung und der Gegensätze in den Meinungen doch die Durchführung wichtiger Ankäufe und wichtiger Reformen nicht behindert wird, erscheint Tietze eine ersprießliche Tätigkeit im Unterrichtsamte bei den gegenwärtigen Verhältnissen vollkommen unmöglich. „Und da ich es unter diesen Umständen für eine Gewissenlosigkeit halten würde, mich aus den Steuergeldern des verarmten Volkes bezahlen zu lassen, ohne etwas zu leisten oder leisten zu können, habe ich von dem Abbaugesetz Gebrauch gemacht, indem ich mich selber abbaute!“

In: Neues Wiener Journal, 6.1.1926, S. 6.

Max Lesser: Von der neuen Kunst

             Es wachsen jetzt seltsame Blumen im Garten deutscher Dichtung und Kunst. Einige treten ganz unblumenmäßig als Quadrate oder Dreiecke oder in der Form von Rhomboiden und Dodekaedern oder als Mischung aller dieser mathematischen Konstruktionen in die Welt der Erscheinung: andre wieder verschwimmen im Nebel der absoluten Unbegreiflichkeit, Gebilde einer Phantasie, in der sich musikalische Elemente, Sturzwellen von Farbenorgien, lallende Gefühlsräusche ineinanderwirren. Nie bisher hat man dergleichen erlebt. Die neuen Bilder sind thematische Variationen von Tönen, die ebensogut durch die Instrumente eines Orchesters wiedergegeben werden könnten; die neuen Gedichte sind von der Palette eines Malers genommen, man sollte sie als Farben und nicht als eine Folge von Worten zu verstehen suchen; die neuen Dramen sind Zusammenklänge von szenischen Kompositionen, in deren Verlauf auch einiges gesprochen wird. Aber dies ist nicht gerade nötig; wir haben neuerdings auch Dramen, in denen die menschliche Rede ziemlich gleichgültig geworden ist, in denen sich der Wille des Dichters auch durch andere Medien der Vermittlung zu manifestieren vermag, wie es denn überhaupt nicht so sehr darauf ankommt, daß etwas geschieht, dem wir folgen können, sondern daß irgendwo im Kern aller Geheimnisse ein mystischer Drang nach Expression Entladungen jenseits des Möglichkeitsbereiches unserer Gedanken und Empfindungen sucht. Von diesen neuen Werken gilt Mephistos Wort über die Mütter: „Göttinnen thronen hehr in Einsamkeit, um sie kein Ort, noch weniger eine Zeit; von ihnen sprechen ist Verlegenheit.“ Wir sind wieder einmal in der Welt der abstrakten Ideen, dort, wo in Urtiefen die Mütter hausen; zu ihnen führt der Weg ins Unbetretene, nicht zu Betretende, ins Unerbetene, nicht zu Erbittende, in grenzenlose Öde und Einsamkeit. Dort sitzen sie, „Gestaltungen, Umgestaltungen, des ewigen Sinnes ewige Unterhaltung, umschwebt von Bildern aller Kreatur.“

             Ach, aber der Schauder, der Faust ergreift, wenn er sich dem glühenden Dreifuß, dem Reich der abgründigen Geheimnisse nahen soll, er will uns nicht befallen, die wir in futuristisch-kubistische Konstruktionen die reine Idee der auf sich selbst bezogenen, von allem Gedanklichen befreiten, von allem Gefühlsgehalt entblößten Kunst begrüßen sollen und denen zugemutet wird, in Gedichten und Dramen die dialektische Überwindung des Sinnes durch ein unbestimmbares Etwas zu verehren, worin sich der Sternennebel werdender geistiger Welten noch nicht Sonnen und Planeten geformt hat. Diese sonderbare neue Kunst, die in unverständlichen Bildern und noch unverständlicheren Dichtungen nach Ausdruck ringt, bewegt sich auf der Grenze, wo die Mechanik einer klug ersonnenen Maschine und die irrationale Welt der losgelassenen Willkür einander bedrängen. Diese Kunst gehört zu unsrer Zeit, in der sich alle Elemente der rechnenden Sachlichkeit und der anarchischen Verstiegenheit mischen. Und darum sind auch die Triebkräfte dieser neuen Kunst nicht Laune oder Mode, sondern das Fordernde, Fragende und so oft Quälende an ihren Erzeugnissen ist es, daß uns ein starkes Gefühl sagt: „Hier ist am letzten Ende doch eine Notwendigkeit, hier sind doch Entwicklungsreihen, durch die wir hindurch müssen, hier beginnt eine neue Wüstenwanderung, von der wir gewiß gern glauben möchten, daß ihr Ziel das gelobte Land sein wird. Aber einstweilen führt der Weg nur selten an Oasen vorüber.

             Berlin ist der rechte Standort zur Beobachtung aller dieser wirbelnden, gärenden, kochenden Dingen, die in einem zwangsläufigen, dialektischen Entwicklungsprozeß immerfort sich selbst eliminieren, um dann in neuen Formen stets mit derselben revolutionären Auflehnung die ruhigen Bürger zu kränken, die Gleichgültigen aufzurütteln, die Jugend zu entflammen und zuletzt mit dem abermaligen Beweis für das Mißverhältnis zwischen dem Gewollten und dem Gekonnten das Bedauern darüber zu verstärken, daß immer nur Vorläufer und Verheißer kommen und gehen und daß kein erlösender Vollender bisher gefolgt ist. Es gibt hier eine breite, empfängliche, in jedem Augenblick für die gewagtesten Sachen zu gewinnende Schicht, die sich um die Novembergruppe und um Herwarth Walden und seinen „Sturm“ gruppiert, die es gläubig verschluckt, wenn auf einem Bilde Zündholzreste und Korkstücke die Aufgabe der plastischen Erläuterung zu erfüllen haben; wenn ein hingeschmiertes Farbenfurioso, das aussieht, als ob ein Esel mit seiner Schwanzquaste von hinten her auf der Leinwand phantasierte, eine „Frau in der Erinnerung glücklich besonnter Tage“ oder sonst was darstellen soll oder wenn dadaistisches Lallen zweifeln läßt, ob man es mit Narren oder mit spitzbübischen Spöttern zu tun hat. – Aber von der Verwegenheit dieser Gattung soll hier nicht gesprochen werden, wir wollen nur von der Bühne sprechen.

             Dieser Winter hat eine lange Reihe von Stücken gebracht, mit denen der Expressionismus in seinen kühnsten Formen zum Worte kam. Allen diesen Darbietungen, die im einzelnen aufzuzählen, kein Bedürfnis vorliegt, ist eine Besonderheit gemeinsam: die Beherrschung durch einen regieführenden Diktator. Wer hat früher viel nach dem Regisseur gefragt? Er war gewiß notwendig, aber man sah ihn als den Techniker an, der für den leichten Gang der Maschine zu sorgen hatte; heute ist der Regisseur die mitdichtende, mitspielende Seele der Bühne, der Kapellmeister, dessen Feldherrnstab Nerven zum Schwingen, Stimmungen zum Tönen, unnennbare Vibrationen zum vergeistigten Klingen zu bringen vermag. Die Schauspieler sind seine Instrumente, der dekorative Rahmen ist eines seiner stärksten Ausdrucksmittel. Der Regisseur ist plötzlich aus der Anonymität herausgetreten, man nennt und kennt ihn, und auch das große Publikum weiß, daß Karlheinz Martin vom Deutschen Theater, Jeßner und Berger vom Staatstheater und Meinhard vom Theater in der Königgrätzstraße gegenwärtig die Spielleiter sind, die mit der sublimsten Einfühlung ihn ihre Aufgabe die intensivste Musikalität der Wiedergabe verbinden. Der auffrischende Geist der neuen Kunst durchdringt die Dramen auch der Vergangenheit, sie blühen in seinem belebenden Anhauch zu Gebilden auf, in denen wir Seele von unsrer Seele wiederfinden. Darum wirkt die Aufführung von „Richard dem Dritten“ im Staatstheater mit Kortner als Richard so aufwühlend, weil wir in dieser Kühnheit, die so gut wie ganz ohne Dekoration und jedenfalls völlig ohne historische Kostüme arbeitet, etwas vom Wesen der Zeit entdecken, nämlich die rücksichtslose Befreiung von der Tradition, das Vordringen auf den letzten Kern und Gehalt, die Lust, überall von vorn zu beginnen. Selbst wo dieser Wagemut über das Ziel hinausschießt, wie in der merkwürdigen Aufführung der „Jungfrau von Orleans“ im Deutschen Theater, bleibt er noch gewinnreich. Denn es kam hier zum starken Ausdruck, daß sich diese Tragödie auf dem Grunde einer visionären Verstiegenheit abspielt, und wenn die hysterische Verzückung der Johanna in Helene Thimigs Darstellung seltsam erregte, so war die Bühne vollends in eine beunruhigende Mystik eingehüllt, so oft es dem Regisseur Karlheinz Martin gefiel, den Gang der Handlung, ja den Verlauf einer Szene durch wechselnde, sachlich ganz unmotivierte, aber stimmungsmäßig beglaubigte Beleuchtung gleichsam symphonisch aus dem Bereich der Worte in ein malerisches Gebiet zu transponieren. Wir haben ähnliche Wirkungen bei Bergers „Tasso“ – Aufführung im Staatstheater – erlebt, wo gleichfalls die Begier, den dunkelströmenden Untergrund des Geschehens bloßzulegen, uns unmittelbar an das Werk heranführt, nachdem der Reiz des Kostümlichen und alles sonstigen historischen Beiwerks mit Bedacht ausgeschieden worden ist. Wie in diesem Zeitalter neuer Bühnenkunst die schauspielerischen Talente üppiger als seit langem gedeihen, so bildet sich jetzt eine Generation von // Regisseuren heran, deren Aufstieg man mit wachsender Teilnahme verfolgt. Zu ihnen gesellt sich nunmehr auch einer der Spielleiter an der Volksbühne, Jürgen Fehling, dessen jüngste Leistungen (Rabindranath Tagores „Postamt“, Shakespeares „Komödie der Irrungen“) eine schöne und reife Begabung zeigen. Sie geht, was besonders wohltuend ist, ihre eigenen Wege, sie verschmäht die Nachahmung.

             Von den Dramen, die auf den Wegen des Expressionismus gehen, sind es drei, über die hier einiges gesagt werden mag: „Chauffeur Martin“ von Hans Rehfisch (im Deutschen Theater), „Der Kreuzweg“ von Karl Zuckmayer (im Staatstheater) und „Jenseits“ von Hasenclever (in den Kammerspielen). Die Verfasser der beiden ersten Stücke sind Studenten. Es ereignete sich bei der Aufführung der Tragödie von Rehfisch das Seltene, daß ein rein expressionistisches, um die Wirklichkeit des Lebens ganz unbekümmertes Drama die Gunst des Publikums durch ungemein geschickte Technik und durch grelle Deutlichmachung der symbolischen Zutaten zu gewinnen verstand. Der Expressionismus wird in diesem Drama popularisiert, aus einem mühsamen Ringen um neue, vertiefte Ausdrucksformen wird er plötzlich zu einer gemeinverständlichen Mode.

             Der Chauffeur Martin hat an irgendeinem Jahrestage der Republik mit seinem Auto einen Menschen überfahren und getötet, der blindlings in den Kraftwagen hineingerannt war. Der Chauffeur wird freigesprochen, aber in dem einsamen Grübler bohrt der Wurm des Zweifels. Er hat unwissentlich Böses tun müssen, also will Gott das Böse und nicht das Gute, also muß sich der Mensch gegen Gott auflehnen, also muß er sich selbst durch gründliche Vernichtung alles Lebens aus der Welt schaffen, um den vereinsamten Gott zur Verzweiflung zu treiben. So geht der Chauffeur Martin unter die Einbrecher, Räuber und Anarchisten; viel Volk fällt ihm zu, selbst Richter und Ärzte bekehren sich zu ihm; in einer regelrechten Gerichtssitzung wird Gott vielstimmig angeklagt, aber in dem Elendsten von allen, in einem Krüppel, ersteht ihm ein glühend-lobpreisender Anwalt, und als Chauffeur Martin von der Ekstase des Krüppels hingerissen wird, streckt ihn der Pistolenschuß eines fanatischen Anhängers nieder. – Macht dies sonderbare Stück einen errechneten und erklügelten Eindruck, so tritt hier doch auch ein starkes Talent vor den angenehm interessierten Zuschauer hin. Es ist freilich heute kein besonderes Wagnis mehr, diese zuerst von Strindberg vorgezeichneten, von den deutschen Expressionisten weiter ausgebauten Bahnen der supranaturalistischen Andeutungen und der mystischen Klänge und Stimmungen zu gehen, indessen geschieht es hier mit Geschmack und Klugheit, wofür allerdings Erschütterungen und seelische Bereicherungen völlig ausbleiben. – Die Darstellung traf unter der einfühlenden Regie von Karlheinz Martin den gewollten Ton eines phantastischen Schwebezustandes zwischen Realität und zeitloser Ferne sehr gut.

             Aber seltsam, es bekommt den neuen Dramen nicht sonderlich, daß sie verstanden werden oder, wie beim „Chauffeur Martin“, allenfalls noch verstanden werden können; es muß um sie ein Hauch der Unbegreiflichkeit wittern, jede Realität muß eingestampft oder aufgelöst werden – es muß in ihm rätselhaft urtümlich raunen und klingen; das fordern wir von dieser Kunst, darauf warten wir mit Sehnsucht. Es ist ein wunderlicher Zustand. Wir lächeln über das expressionistische Drama der Irrealität und der musikalischen Stimmungsschwingungen, aber das fühlen wir immer wieder mit sonderbarer Ergriffenheit: Hier verlangt etwas Neues nach dem Licht, hier ist Sturm und Drang, und wir fragen, ob die Zeit wie damals reif sei für einen neuen Heilsbringer. Inzwischen wandert vor dem Kommenden mancher her, der vielleicht ein Johannes werden könnte. Vielleicht auch könnte der Heidelberger Student Karl Zuckmayer ein solcher werden. Sein „Kreuzweg“ im Staatstheater gehört zu den stärksten Eindrücken dieser Spielzeit. Das ist nun ein Stück, von dem sich eigentlich gar nichts sagen läßt. Was kann man vom Gesang einer Drossel sagen? Was von der Schönheit eines Rosenblattes? […] Es geschieht nichts, aber es geschieht alles, was als menschliches Erleben möglich ist man versteht nichts, aber man versteht, warum Rätsel sein müssen, die nicht aufgelöst werden können. Und für ein solches Stück, das alles andre als ein Drama ist, die völlig widerspruchslos Achtung des Publikums zu erzwingen, das ist denn wohl eine Leistung, auf die das Staatstheater Jeßners und Bergers stolz sein darf. Aber auch das Publikum darf mit sich zufrieden sein.

             Das Publikum hat freilich auch Hasenclevers „Jenseits“ ertragen, und das spricht mindestens für seine Wohlerzogenheit. Denn in diesem fünfaktigen Unfug, in dem zwei Menschen, Raoul und Jeanne, und niemand sonst endlos reden und reden und nur darum zu reden aufhören, weil Raoul Jeanne totsticht, schneidet der Expressionismus sich selber eine Fratze, und man weiß nicht, ob es sich oder uns verspotten will. Dem Liebespaar wird sein Glück ein bißchen arg verleidet durch den Geist des im Bergwerksstollen verunglückten Mannes. Man sieht ihn als Lichtfleck an den Wänden, er huscht durch die Räume, er poltert und klopft gern. Aber das ist nicht weiter schauerlich, mit seiner erklügelten Scheinwirklichkeit läßt es uns völlig gleichgültig. Dafür wirkt um so aufreizender die Unverständlichkeit der Wechselreden, die, wenn man sie doch irgendwo zu fassen vermag, eine einzige schleimige Trivialität sind. […] Indessen lohnt es sich, zu hören, was Hasenclever über seine Kunst zu sagen hat. Es gibt ein neues Stück von ihm, „Die Menschen“, und dort schreibt er im Vorwort:

             „Es liegt dem Verfasser nichts an der Meinung, der Zuschauer müsse am Ende der Aufführung die Vorgänge auf der Bühne verstanden haben. Die Gesetze jahrhundertelanger Überlieferung sind gesprengt. Die Versuche der Chemie, alle Elemente auf ein Element zurückzuführen, kommen der Alchemie näher, als die öffentliche Meinung zugeben möchte; der Umsturz der Begriffe von Raum und Zeit, Energie und Materie in der Physik, die Errichtung der vierten Koordinate in der Mathematik bestätigen die Lehre der Geheimwissenschaften… Was geht in diesem Schauspiel vor? Ein Ermordeter steigt aus dem Grabe, ein Mensch in des Wortes tiefster Bedeutung, ein Unerlöster, Unvollkommener, ein Debet im großen Schuldbuch der Welt. Wäre sein Leben vollendet gewesen, er hätte am Messer nicht sterben können; seine Schuld war, daß er sterben konnte; er geht beladen mit seinem Haupte, das ihm der Mörder überreicht, zur Sühne an des Mörders Stelle durch die Welt, ein Doppelgänger, bis er die ewige Ruhe findet. „Ich habe getötet,“ beginnt das Schauspiel, „ich liebe“, so endet es. Der Zuschauer, der im Theater sitzt, versuche, sich in das Stück zu verwandeln. Er empfinde am eigenen Leibe die magische Kette von Blut und Wahnsinn, Liebe, Haß, Gewalt und Hunger, Herrschaft, Geld und Verlogenheit. Er ahne im Anblick dieser Leiden den Fluch der Geburt, die Verzweiflung des Todes; er verliere die Logik seines Jahrhunderts; er sehe ins Herz der Menschen!“

             Wenn Hasenclever nur das könnte, was er möchte! Es ist gewiß, daß er es nicht kann, er so wenig wie Georg Kaiser. Aber Dichter wie Karl Zuckmayer sollen uns eine Hoffnung sein.

In: Neues Wiener Tagblatt, 15.3.1921, S. 2-3.

Jakob Moreno Levy: An die Leser zum Aufstand gegen die Autoren

             Bruder Leser, was wird dir einfallen, wenn du irgend ein Buch zu Ende gelesen hast?  Oder sonst jedes Buch aller Autoren? Du wirst wissen: es ist nicht zu Ende.

             Es gibt Leser, die nach aufgehobener Tafel geistig satt sind, das sind eigentlich selbst Autoren, und es gibt andere, die darnach erst hungrig werden: wie die Kinder. Diese, die das Vollkommene wollen, werden bedenken: Du bist da, wenn du redest und alles, was auf Himmel und Erden ist, ist unserer Liebe gegenwärtig; nur der Autor ist abwesend, wenn seine Seele zu uns spricht.

             Du mußt ihn mehr lieben, weil er dich zu wenig geliebt hat. Du wirst ausgehen müssen, seinen letzten Teil zu suchen wie die blaue Blume. O, du mußt es wohl! Du wirst auf dem Wege in Streit mit dir geraten: warum gerade ich? Warum soll ich Unruhe stiften in den Schläfrigen?

             Bruder Leser, wenn einer in die Welt schreibt, muß er sich zu Ende offenbaren; aber nicht, indem er weiterschreibt, sondern die Narben von den Namen in seinem Antlitze zeigt, die er verkündet hat. //

             Bruder Leser, ich spreche für alle, die bei ihnen waren und die wie ich gelitten. Wenn du sehen würdest, wie sie leben und das Heiligtum der Worte entweihen, derer sie sich einfach bemächtigt haben, würdest du verstehen, daß sie durch das Buch das vollkommene Leben in Vergessenheit bringen, daß die Mächtigen  des Wortes gefährliches sind für Gott als sonst alle Gewaltigen der Erde, weil selbst der Mammon nur mit der Schöpfung schachert, während sie, wo sie stottern sollen, den Geist der Dinge dem Schein verschreiben, daß auch die Edlen unter ihnen, da sie im selben Rahmen wie die ganze Gilde schaffen, verwirkt sind und den höchsten Grad des Bösen möglich machen.

             Die Autoren sind die neuen Heiden, heidnischer geworden noch durch Religion; darum können ihre Werke töten, aber nicht lebendig machen.

             Wenn sie nur das Gefühl ihrer Sünde hätten; aber das sind nur Dichter und keine Kinder, das sind nur Weise und keine Kinder, das sind nur Päpste und keine Kinder. Eher kommt ein Reicher durch ein Nadelöhr als ein Autor in das Reich Gottes.

             Ich habe die Aufgabe, einseitig und ohne Aufenthalt zu lallen: der vollkommene Weg des Buches ist die Einladung zu einer Begegnung, der vollkommene Weg des Wortes ist der Bericht.

             Bruder Leser, ich gebe dir das Amt, stehe auf und schreite, bis du des Wortes angesichtig wirst, das du gelesen hast. Wenn der Autor nicht zu dir kommt, so gehe zu ihm. Opfere dich, gehe, ich meine wirklich und nicht im Gleichnis, gehe und bekehre sie zu sich, gehe und begegne ihnen schnell, wie ich ihnen begegnet bin und wir Gott, der Ewige, ihnen begegnen müßte, wäre er unsereiner.

             Der Aufstand der Leser ist die Verfolgung der Autoren. Man wird euch aber aus dem Wege gehen, euch mißhandeln, euer spotten. So wird es geschehen, daß ihr, die ihr ausgegangen seid, die Autoren zu segnen, von ihnen verflucht werdet. Ihr aber sollt im Leiden frohlocken, daß ihr dem Unvollkommenen vollkommen, Auge vor Auge, begegnet seit, damit es einmal heiße: //

             „Das ist der Kreuzzug der Leser gegen die Heerführer des Geistes, der Kinder gegen die Wort- und Erlebnishamsterer gewesen.“

             Am Ende der Fahrt bist du sicher, im Unvollkommenen, – aber diesem vollkommen nahe, bist du sicher nicht im Himmel, aber doch an seiner Pforte. Nun kann der Geist Gottes erkannt werden und unter uns leben, denn das ist des Gottmenschen tiefster Widerspruch, daß er der Allerfernste werden muß durch das Allernächste.

In: Der Neue Daimon, H. 1-2/1919, S. 29-31.

Hermann Bahr: Tagebuch: Dada-Almanach

             7. Oktober. „Dada-Almanach“, im Auftrag des Zentralamtes der deutschen Dada-Bewegung, herausgegeben von Richard Huelsenbeck (Erich Reiß Verlag Berlin). Darob so großes Entsetzen aller Seriösen, daß sogar dem Verleger selber bange wird und er eilends gelobt, es nicht wieder zu tun und bei diesem einen Anfall von Dadaismus bewenden zu lassen. Warum der Lärm? Ich sehe nicht, weshalb der Dadaismus schlechter sein und weniger Rechte haben soll als irgendein anderer unserer zahllosen Ismen. Er ist nur konsequenter und hat den Mut, bis ans Ende zu gehen, ans Ende der autonomen Vernunft! Wenn Huelsenbeck in seiner Einleitung zu diesem Almanach Dada „die große Parallelerscheinung zu den relativistischen Philosophen dieser Zeit“ nennt und erklärt, Dada sei „kein Axiom, sondern ein Geisteszustand“, Dada sei „der direkteste und lebendigste Ausdruck seiner Zeit“, so spricht er damit ohne jede Renommage ganz einfach die Wahrheit aus. Mir ist ja verwehrt, Dadaist zu werden, weil ich, mich von dieser Zeit abwendend, ein Finsterling geworden bin, weil ich glaube. Wer aber nicht an ein ewiges, übermenschliches, übernatürliches Reich des Wahren, Guten, Schönen glaubt, wer nicht an den lebendigen Gott glaubt, sondern höchstens allenfalls an einen aus menschlicher Vernunft geschnitzten, wer nicht an Vater, Schöpfer Himmels und der Erde glaubt, sondern Himmel und Erde vom Menschengeist erschaffen sein läßt, der ist absurd, wenn er die Notwendigkeit, Dadaist zu werden, verkennt; denn der Dadaist erst hat das Jenseits von Gut und Böse völlig erreicht. „Dada“, fährt Huelsenbeck in seinen Proklamationen fort, „läßt sich nicht durch ein System rechtfertigen, das mit einem „Du sollst“ an die Menschen heranträte. Dada ruht in sich und handelt aus sich, so wie die Sonne handelt, wenn sie am Himmel aufsteigt, oder wie wenn ein Baum wächst. Der Baum wächst, ohne wachsen zu wollen. Dada schiebt seinen Handlungen keine Motive unter, die ein Ziel verfolgen… Dada hat das Reich der Erfindungen entdeckt, von dem Friedrich Nietzsche spricht, er hat sich zum Parodisten der Weltgeschichte und zum Hanswurst gemacht.

Das ist ja wirklich das einzige, was dem Menschen übrig bleibt, sobald er sich von allem Sollen frei, sobald er seine Vernunft souverän erkärt. „Der Dadaist“, sagt Huelsenbeck, „ist der freieste Mensch der Erde. Ideologe ist der Mensch, der auf den Schwindel hereinfällt, den ihm sein eigener Intellekt vormacht, eine Idee, also das Symbol einer augenblicksapperzipierten Wirklichkeit habe absolute Realität.“ Durch den Dadaisten ist also zum erstenmal das finstere Mittelalter wirklich überwunden, die Gegensätze stehen einander nun rein gegenüber, Aug in Aug und jedermann kann wählen, ob er Finsterling oder Dadaist sein will; die feigen Kompromisse sind unmöglich geworden. Wer A sagt, muß auch B sagen: wer autonome Vernunft sagt, muß auch Dada sagen. Die Finsternis des Mittelalters bestand ja nämlich darin, daß es die Vernunft nicht herrschen ließ, sondern dienen, der Wahrheit dienen. Indem sich die Vernunft allmählich diesem Dienst entzog, um einem Knecht der Wahrheit ihr Herr zu werden, anerkennend, sondern fortan nach eigener Willkür dekretierend, was wahr, was schön, was gut sein soll, war es schon eigentlich nur noch ein Atavismus, überhaupt noch eine für alle gültige, für alle verbindliche Wahrheit anzunehmen und bald schaffte sich auch jedermann seine private zum eigenen Hausgebrauch selber an. Aber auch darin blieb noch ein atavistischer Rest: es gibt nämlich durchaus keinen Grund, warum diese von mir nur für mich allen zum eigenen Gebrauch angelegte Wahrheit deshalb nun irgendwie mich selber binden soll: ich kann sie doch jeden Augenblick mit einer neuen nach Belieben vertauschen, was auch viel amüsanter ist. Wenn Weltanschauung nicht Anschauung einer von mir unabhängigen Welt, nicht der Reflex eines Objekts in meinem Subjekt, nicht meine Relation zum Absoluten ist, wenn ungewiß ist, ob es eine solche Welt an sich ohne mich überhaupt gibt, wenn die Welt nur ein Geschöpf meines Intellekts ist, warum soll mein schöpferischer Intellekt sich dann mit einem einzigen Schöpfungsakt begnügen? Warum so faul? Warum nur einmal schaffen? Wenn sie bloß von meinem Intellekt ausgeschwitzt wird, warum dann nur ein einziges Exsudat? Und Dada tut aber auch noch den letzten großen Schritt, indem es den Intellekt zur Selbstbesinnung bringt: der Intellekt fällt jetzt auf den Schwindel, den er sich vormacht, selber nicht mehr herein! Damit ist die höchste Leistung der souveränen Vernunft erreicht, das Ende. Die Denkmöglichkeiten sind erschöpft, aller Dunst ist weggeblasen, ganz rein liegen die beiden Pole bloß: Plato und Dada stehen einander gegenüber und jedermann mag wählen. Der Selbstbetrug, gottlos und zugleich aber auch, als ob vielleicht doch Gott oder etwas Gottähnliches wäre, zu leben, ist unmöglich geworden. Und den braven Leuten, die sich vor dem Dadaismus entsetzt bekreuzigen, bliebe nichts anderes übrig, als damit wirklich Ernst, wirklich das Kreuz zu machen. Vernunft, vom Kreuz befreit, landet bei Dada…

In: Neues Wiener Journal, 31. 10. 1920, S. 6.

Richard Kralik: Unsere Kunststelle

             Es ist eine für das katholische Leben eminent wichtige Angelegenheit, die wir in ihrer vollen Bedeutsamkeit zu würdigen haben. Unter der Leitung von Hans Brecka, den unsere Leser als Kritiker, Dramaturgen und Dichter („Stiftegger“) sehr wohl kennen, wirkt seit März dieses Jahres die „Kunststelle für christliche Volksbildung“, hervorgegangen aus der bewährten Organisation des „Katholischen Volksbundes“, unterstützt von der Gemeinde Wien, im Zusammenhang mit unseren politischen und Berufsorganisationen, gefördert von so großen Vereinen wie dem herrlichen Sängerbund „Dreizehnlinden“ und von manchen begeisterungsvollen Mitarbeitern. In der kurzen Zeit der ihrer Wirksamkeit hat die „Kunststelle“ bereits Unglaubliches geleistet an Zahl und Gehalt der Aufführungen in größerem wie in kleinerem Rahmen. Klassische Dramen und Opern wurden in unseren ersten Theatern geboten, neuere Dichter kamen zur Geltung. Das katholische Kunstleben wurde so in einer bisher nicht gewöhnlichen Weise berücksichtigt, so bei den „Meisteraufführungen Wiener Musik“.

             Das christliche Publikum hat damit die ihm gemäße Kunst dargeboten erhalten. Es zeigt sich auch dafür dankbar, es strömt zu den billigen Aufführungen hinzu. Es ist aber auch die Pflicht der christlichen Intelligenz, besonders der Politik, die große Bedeutung der Sache zu würdigen, sich dieser glücklichen Entwicklung dankbar bewußt zu werden und sie auf jede Weise zu fördern.

             Es ist staunenswert, was da bereits geleistet wurde. Aus den Programmen von März bis Oktober, die 23 Veranstaltungen aufweisen, hebe ich hervor: Balladen und andere Rezitationen, Mozarts Requiem, Nestroys klassische Komödien, Kammermusik, Volkslieder zur Laute, Haydns „Schöpfung“, Orgelkonzert Springer, Kunstwanderung nach Klosterneuburg mit Orgelkonzert Goller, Veronika, „Die Kinderbergstadt“ von Rienößl, „Aus der Biedermeierzeit“, Beethovens „Fidelio“, „Aus Alt-Wien“, „Der Wafffenschmied“, „Das alte Spiel von Dr. Faust“, „Wilhelm Tell“, „Der Ackermann und der Tod“. Andere bedeutende Veranstaltungen sind für die Wintermonate vorbereitet.

             Die Arbeitslast dieser großen Serie ist ungeheuer. Es ist schier unglaublich, daß ein einzelner Mann wie der bewährte Leiter der Kunststelle sie bewältigen kann. Denn nur der Eingeweihte in dies Kunstleben weiß, welche neuen Mühen bei jeder neuen Veranstaltung immer wieder erwachsen, vom Drucklegen der Programme und Karten an bis zur künstlerischen Vollendung. Aber nach meiner eigenen früheren Erfahrung in diesen Dingen ist derlei wirklich nur ausführbar, wenn sich ein Mann wie Brecka findet, der alles unter eigener Verantwortlichkeit beherrscht, der auf sich selber in allen Einzelfragen zählen kann, der die Kenntnisse, die allseitige Befähigung, die vielseitigen Beziehungen zu Künstlern, Vereinen, Instituten hat, der als erprobter Mann deren volles Vertrauen besitzt.

             Man sagt so oft irrigerweise, daß wir keine Männer haben. Ich bin diesem Irrtum wiederholt auf jedem Gebiet entgegengetreten. Wir haben die Politiker, die wir brauchen, wir haben die Dichter, Künstler, Aesthetiker, Männer der Wissenschaft, wir haben die Organisatoren jeder Art. Wir müssen sie nur an ihrer richtigen Stelle einschätzen, uns dessen bewußt werden, was wir alles besitzen, um so unsere christliche Kultur zu jener Bedeutung in Gesellschaft und Staat zu bringen, die ihr von Rechts wegen gebührt.

In: Reichspost, 4.11.1920, S. 1.

Hermann Bahr: Katholische Kunst

Da der Katholizismus in unseren Tagen vor allem an innerer, aber allmählich auch schon an äußerer Kraft überall wächst, entsinnt er sich nun, wenn auch vorderhand nur erst insgeheim, langsam wieder der Bedeutung, die gerade in seinen größten Zeiten die Künste für ihn hatten, und er wieder für sie. Es wird ihm bewußt, daß in allen Epochen die Kunst der Gradmesser des Geistes ist. Wer dereinst nach Gehalt, Ausmaß und Gestalt des Katholizismus unserer Zeit fragen wird, wird nicht unterlassen können, sich vor allem bei der katholischen Kunst zu erkundigen. Wir müssen fürchten, daß er ihn, nach seinen künstlerischen Leistungen urteilend, arg unterschätzen wird. Wir haben zurzeit kein Werk eines katholischen Künstlers, das ersten Ranges wäre; die katholischen Werke, die sich diesem Range nähern, sind sich gar nicht bewußt, katholisch zu sein, und ihr Künstler erstaunt, wenn sie katholisch wirken. 

[…]

Jedes Kunstwerk offenbart in der Tat seinen Künstler. Es offenbart sogar mehr von ihm, als er selber von sich weiß. Aus diesem Wunsche des Dichters, des Künstlers, sich wirklich kennenzulernen und mehr über sich selbst zu erfahren […] wird er recht eigentlich zum Dichter, zum Künstler. Sein tägliches Leben aber, seine Begegnungen zur Umgebung, seine Liebschaften, seine Feindschaften, seine Wünsche können davon nichts verraten, weder von ihm selbst noch anderen: Die Wurzeln des Wesens seiner Persönlichkeit liegen weit tiefer, sich lassen sich höchstens zuweilen in Träumen ahnen. Jeder Mensch, gar das unselige Geschöpf, das sich rühmt, ein Kulturmensch zu sein, trägt ein künstliches Gesicht zur Schau, das auch ihn selber täuscht; sein wahres erscheint ihm zuweilen nur im Traum, vor Schreck erwacht er. Die Künstler haben vor den anderen den Segen oder den Fluch voraus, wach zu träumen, so wach, daß sie den Traum von sich ergreifen, festhalten und gestalten können. […] Wer dieses kann, den lehrt ein Kunstwerk seinen Künstler in allen Tiefen und Untiefen seiner Persönlichkeit erkennen, dem wird offenbar, welcher Nation ein Dichter angehört, nach den ersten vierzig Seiten einer halbwegs richtigen, den persönlichen Stil des Originals nicht völlig verleugnenden Übersetzung sogar. Er wird ebenso manche Werke katholisch nennen, ohne erst zu fragen, welcher Konfession ihr Schöpfer angehört, ja er wird sich in diesem Urteil auch durch die Gewissheit, daß sie von einem Protestanten oder Juden stammen, durchaus nicht beirren lassen, sondern einfach erwidern, dieser Dichter oder Maler oder Komponist wisse dann eben nur nicht, daß er katholischen Geistes und auch in seiner inneren Form Katholik ist. Aber auch Gegenbeispiele gibt es, und leider gar nicht selten: es gibt Künstler, die Katholiken sind, zuweilen auch sehr gute Katholiken, in der Ausübung ihrer katholischen Pflichten sehr eifrig, deren Werke dennoch aber durchaus unkatholisch sind. Wir stehen da vor einem Geheimnis, an dessen Deutung sich ein besserer Psychologe wagen mag, als ich bin. […] Ist schon der Künstler selbst dem Wesen seiner eigenen Kunst, ja seiner künstlerischen Persönlichkeit zuweilen so völlig fremd, daß er gar nicht merkt, wie durchaus unkatholisch, ein so guter Katholik er selbst auch sein mag, sein Talent ist, so dürfen wir uns nicht wundern, wenn dann auch in der Kritik, gar aber unter Laien, eine heillose Konfusion herrscht. Wesentlich unkatholische Werke guter Katholiken gelten für katholisch und bringen dadurch den Geschmack des Katholizismus, ja überhaupt alle katholische Kunst in Verruf, während hinwieder wesentlich katholische Werke, deren Schöpfer aber entweder überhaupt keine Katholiken sind oder Katholiken, die davon nur in ihren Werken, nicht aber in ihrem übrigen Leben Gebrauch machen, von den Katholiken nicht anerkannt werden, von den Feinden des Katholizismus aber, die den katholischen Gehalt solcher Werke wittern, sich auf stillschweigende Verabredung zurückgedrängt sehen. Die Kritik ist durchaus gegen sie: die katholische, weil sie nicht verstehen kann, daß die künstlerische Persönlichkeit zuweilen durchaus nicht mit der alltäglichen übereinstimmt, doch die widerkatholische ganz ebenso, weil sie fürchten muß, daß eines Tages doch durch einen Zufall das katholische Wesen dieser Werke sich auch Laien offenbaren könnte, ein Triumph, den dem Katholizismus zu bereiten sie sich nicht berufen fühlt.

(Nachwort der Schriftleitung: Hermann Bahr denkt sich seinen Aufsatz in besonderer Weise als Anregung zu einer Diskussion. Wir werden deshalb auf das Thema zurückkommen.

[Kursiv herausgehoben durch den Hg.])

In: Schönere Zukunft, 1925, S. 301-302.

Ernst Lothar: Der Künstler und der Staat

Wenn man einen mit geistigen oder gar mit schöngeistigen Dingen befaßten Menschen bei uns fragte, ob ihm der Staat etwas bedeute, was er von ihm erwarte, wie er sich ein künftiges Österreich denke; wenn man mit ihm über „Politik“ spräche, dann lächelt der befragte Dichter, Komponist, Maler, Regisseur, Aesthet wohl malitiös, zögerte und erwiderte dann: „Wissen Sie…, davon verstehe ich nichts. Der Staat? Nein. Darum kümmere ich mich gar nicht…“ Das Zögern zwischen dem Lächeln und der Antwort aber hieße: „Gott sei Dank verstehe ich von diesem Quark nichts. Das wäre nach schöner, wenn unsereiner sich mit so etwas abgäbe!“ Mit einem Wort: was ihn lächeln, was ihn zögern machte, wäre: Mißachtung. Entrüstung, daß man ihm dergleichen zuzumuten wage. Abweisung so schnöder, kompromittierend ungeistiger Interessen, wie die Dinge des Staates es für einen Schöngeist sind.

Das ist nicht neu in Österreich. Es war lange vor dem Kriege so, wo Dichter wie Anastasius Grün sich damit abfinden mußten, von Schreibern wie Hofenthal als „k. k. Rhythmiker“ bewitzelt und „ungeistig“ gemacht zu werden; es war knapp vor dem Kriege so, wo ein beharrlicher Aesthet einem Drama Arthur Schnitzlers bedauernd nachrief: „Immer wieder Österreich!“ – das gehört bei uns zur geistigen Uniform und ist leider heute nich immer ein Distinktionsabzeichen geblieben. Aber vor dem Kriege hatten die Funktionäre des Geistes immerhin die Ausrede der Zensur, das heißt, sie brauchten, woran sie unbeteiligt waren, nicht zu äußern, weil die Zensur die Aeußerung jener Meinungen unterband, die sie nicht hatten. Mit einer so probaten Draperie ließ selbst die absolute Interesseleere sich verhüllen, und man konnte jedes Schweigen statthaft finden, wo die Voraussetzung des Redens, wahr zu sein, nirgendwo bestand. Grillparzer, der ein lebenslanges Denken, Dichten  und Reden über Österreich mit seinem Rang vereinbar hielt, Bauernfeld, der vom Staate schrieb, da er in ihm lebte, Saar und Stifter, die für die Landschaft zeugten, der sie sich verschrieben hatten, äußerten Zorn über die Handfesseln, worin die Zensur die freie Gebärde zwang, ohne daß sie sich den Mund dadurch verbieten ließen. Doch diese Fessel ist ja jetzt zerschnitten und es stünde nichts im Weg, daß die Menschen des Geistes zu den Dingen des Staates ihre Meinung äußerten oder, bescheidener gesprochen, diese Meinung hätten.

             Nichts davon zeigt sich, Geist und Staat gelten bei uns als Begriffe, die einander ausschließen. Dieser Erscheinung auf den Grund zu gehen, dürfte nützlich sein, weil sie täglich krasser einen staatlichen Zustand schädigt, der, der Teilnahme der Welt wie nie bedürftig, zuerst der Teilnahme seiner eigenen Bürger bedürfte; unter ihnen besonders jener, die als Menschen des Geistes berufen wären, die Dinge des Geistes zu beeinflussen. Allein hier erhebt sich ja das doppelte Hindernis, welches diese Menschen vom Staate und seinen Bedingungen fernhält: Sie wünschen, Weltbürger zu sein; sie leugnen, daß die Dinge der Politik Dinge des Geistes sind. Sie haben völlig recht und völlig unrecht. Wenn sie, deren Beruf es ist, dem Geiste zu erstatten, was sie von ihm empfangen, in der politischen Fabrik das Schwungrad des Genies vermissen, dann haben sie recht. Wenn sie allzu viele Figuranten auf der politischen Tribüne unbedeutend, das von ihnen veranstaltete Schauspiel peinlich finden, dann haben sie recht. Wenn sie, die das Große und das Unvergängliche, das Zarte und Erhabene vor Augen tragen aber es zu tun behaupten, die Menschenstimme im Gebrüll, die Sache in ihrer Verdrehung, das Politische im Parteipolitischen nicht wiedererkennen und angewidert sagen: „Alles das widerstrebt uns!“, dann haben sie abermals recht. Doch indem sie diese richtigen Prämissen aufstellen, ziehen sie daraus die falschesten Schlüsse. Statt nämlich zu sagen: „Diese Art, mit den Dingen des Staates umzugehen, stößt uns ab, folglich sollten wir eine anziehendere herbeiführen helfen“, urteilen sie: „Weil die Staatsmaschine widrig knarrt, darf der geistige Mensch sie überhören.“ Der Irrtum, der hier stattfindet, springt in die Augen, ohne daß man ihn sehen wollte: man verurteilt die Sachwalter und entzieht sich der Sache.

             Wie ausnahmslos dies geschieht, wie verantwortungs- und teilnahmslos die geistigen Menschen in Österreich dem Staate gegenüberstehen, konnte jeder erfahren, der in den letzten Jahren einer österreichischen Parlamentssitzung angewohnt hat. Kein Zweifel, daß in diesem Rundsaal unheimlicher Akustik, wo jede Rede überlaut Zeugnis dafür ablegt, was nicht gesagt wurde, auch Vertreter der Gehirne sitzen und daß, hüben und drüben, sich ehrliche Überzeugung, Talent, Kenntnis, Routine, brave Tüchtigkeit versammeln. Wer aber könnte daran vorbeigehen, daß in diesem pompösen, mit allen Emblemen stolz geschmückten Kuppelraum das Emblem des Genies fehlt und daß, so hoch die gläserne Kuppel über den Redenden sich ständig wölbt, so tief das Niveau ihrer gelegentlichen Zänkereien sinkt, von keinem Einfall befeuert, vom Ingenium kaum jemals faszinierend aber versöhnend angestrahlt. Gewiß: ein Parlament ist weder eine Akademie der Künste noch ein Theatersaal, und Volksvertreter müssen, da sie namens des Volkes sprechen, auch zum Volke sprechen. Dies hat jedoch mit einer bezeichnenden Feststellung nichts zu tun: In diesem Parlament sitzt kein Dichter, kein Künstler, kein einziger, den man außer aus dem Wahlkreis, aus dem Weltkreis seiner Werke kennt.  

Ein beschämenderes Zeugnis für die Gleichgültigkeit, die unsere geistig Beteiligten dem Staate entgegenbringen, gibt es nicht.

             Aber sie wollen ja Weltbürger sein und vernachlässigen darum das Lokale. Was ist ein Weltbürger? Jemand, der anteilhaft das Zimmer flieht, um den Horizont zu gewinnen. Jemand also der, da er in einem unbeschränkten Sinn zu urteilen strebt, zu einem solchen auch beitragen müßte. Wer war ein Weltbürger, dessen Beispiel unangreifbar bleibt und den gerade die heutigen Erbpächter des Geistes, die sich am liebsten „Europäer“ nennen, als Schutzpatron reklamieren? Es war der Staatsminister Goethe. Sonderbares Zusammentreffen. Jener verehrungswürdige deutsche Weltbürger – großherzoglicher Aktuar, Block Zehn pünktlich im Konseil, wo es darum ging, Wegmauten nach Straßfurth zu tarieren, die Ilmenauer Chaussee mit Ahornschößlingen zu dotieren, den Reisediäten des Kameraladjunkten Iffetzheimer etwas abzuknapfen… zwei Taler einundzwanzig Groschen. Wie versäumt der Weltbürger die kleinstädtischen Amtstunden, widmet halbe Tage, zur Zeit des Theaterbrandes sogar die Nächte, den Regierungsgeschäften, will sagen, den Duodezagenden eines Ländchens. Ein Wesenswiderspruch? Eitle Schwäche des auf Manifestation bedachten Mannes, der gewünscht hat, mit einem Brillantstern am Bratenrock zu glänzen? Der billige Einwand zeigt seine Dürftigkeit, wenn ihn an des Menschen Erscheinung mißt, gegen den man ihn erhebt. Worin lag Goethes Singularität? In seiner Universalität. In dieser ungeheuren, seit Aristoteles nicht dagewesenen und später nie wieder erreichten Umspannung des geistigen Gehalts der Erde; in dieser unvergleichlichen, fast gierigen Bereitschaft, das Vorhandene sich zuzueignen, zu durchforschen, zu erkennen; in dieser unfaßbaren Fähigkeit, die dauernde Begierde dauernd zu machen stillen und das Wissen der Welt hinter eine Stirn zu speichern! Der Spezialist, der zu Goethe eintrat, fand einen Mann, mit dem über die speziellen Dinge zu reden leicht war. Denn er redete die Sprache des Botanikers wie die des Malers, die des Musikers nicht ungeläufiger als die des Geologen, die des Physikers so vollkommen wie die des Juristen… wer zu ihm in das fremde Haus kam, fand die eigene Arbeitsstätte wunderbar dahin versetzt und ein brennendes, unersättliches Interesse an allem Interessanten. Und interessant war – alles! Denn Goethe verfiel nie in die unerträgliche Manier so vieler jetzigen Schaffenden, die (was nur ein Zeichen menschlicher Unterlegenheit ist) in jedem Gespräch nichts als den Umweg zu sich selber, in jedem Augenblick nur das Postament suchen, sich und ihre Ueberlegenheit darauf zu stellen, sondern sammelte wie ein tiefer gewölbter Spiegel die Lichter, Reflexe und Schatten der Erscheinungen. Alle waren ihm wichtig. So hätte er kein Wort entschiedener verleugnet und für einen geistigen Menschen armseliger gefunden, als die von Ueberhebung triefende Bescheidenheit: „Davon verstehe ich nichts.“ Gerade der sublime Wille, alles zu verstehen, macht ja aus irgendeinem Bürgerssohn den Botentaten Goethe, aus einem Provinzhaus am Weimarer Frauenplan das Gebäude einer geistigen Welt. Stand es anders um Voltaire? Und (unserer Zeit näher) um Tolstoi, Anatole France, Zola, Romain Rolland, Shaw? Haben diese großen Europäer je den Staat bagatellisiert?

             Von ihrem geistigen Mut findet sich bei den Künstlermenschen von heute blutwenig. Dafür um so mehr von einem Hochmut, der die dahintreibt, allem außer ihrem Wirkungsbezirk Gelegenen den Stempel „unwichtig“ und „unkünstlerisch“ aufzubrennen. Da jüngst in einem Kreise von Künstlern ein Richtkünstler die Rede auf die geplante österreichische Künstlerkammer brachte und ein politisches Gespräch begann, schnitt ein Musiker die Diskussion mit der Bemerkung ab: „Ich bitte Sie… ein Takt der Neunten ist mir wichtiger als das alles!“ Ich gebe diese Äußerung wörtlich wieder, weil sie als typisch gelten darf und den Zwangsvorstellungskreis illustriert, worin die geistige Feudalwelt sich gern ergeht. Den Menschen, neben denen die Erde sich spalten könnte, ohne es ihnen minder wichtig zu machen, daß um halb Elf eine Generalprobe und daher ein Erdbeben (das sie verschonte) von geringer Importanz ist, gibt es nicht wenige. Man pflegt sie hochachtungsvoll mit jener Besessenheit von ihren eigenen, den Dingen der Kunst, zu rechtfertigen, die so verwandt mit Bedeutung und so benachbart der Genialität erscheint. Ist ein Ausspruch wie der des Musikers, der von einem Takte der Neunten demütig den Hut zieht, um ihn vor der Not der Zeit auf dem Kopfe zu behalten, nicht des Beifalls sicher, weil er so ins Magische zielt und zwischen Zeitlichkeit und Ewigkeit die Bolte schlägt? Es liegt mir, weiß Gott, fern, die Ueberzeugung eines Menschen zu verdächtigen, der es mit der Neunten hält. Was dagegen mißlich ist und worin (mehr als in der Besessenheit) der Grund für solch lapidare, als Weltanschauungen kostümierte Dikta liegt, das ist, mit Verlaub, die Unbildung derer, die sie aussprechen. Ihre vehemente Unbildung. Denn während ein geistig-ästhetisches Spezialistentum überhandnimmt; während es gang und gäbe geworden ist, daß etwa jemand, der ein Orchester meisterhaft dirigiert, nie etwas Gedrucktes liest als Partituren oder Rezensionen  über Partituren; während es so weit kam, daß ein Schriftsteller von Rang am Tage der Nürnberger Eisenbahnkatastrophe die Frage, was es Neues in der Zeitung gebe, mit der Erklärung beantwortete: „Hofer scheint in Berlin gefallen zu haben!“ ; während allenthalben eine ungeheure begriffliche Wertverschiebung sich ereignet: kann es geschehen, daß jemand die Neunte Symphonie mit einer Fürsorgemaßregel vergleicht, jene wichtig, diese außer seiner Sphäre findet und dafür als Europäer geachtet, statt als Schwätzer überhört wird. Der Neunten zu bestätigen, daß sie eiwg ist, dürfte entbehrlich sein. Sicher ist, daß sie mit dem Staate so viel zu schaffen hat wie der Bestätiger mit universellen Interessen.

             Man interessiert sich zu wenig für das Allgemeine in den Elfenbeintürmen der Kunst; man weiß dort zu wenig. Die Kenntnisse, die man dort von den primitivsten staatlichen Bedingungen hat, werden von Bürgerschülern übertroffen, und blättert man etwa einen heutigen Roman auf, dann man sich darüber wundern, was alles der Verfasser nicht wußte, Der Künstler ignoriert den Staat. Gar die Zumutung, jenes „politische Geschöpf“ zu sein, als das ein großer geistiger Ahnherr die Menschen betrachtet hat, hielte er für komisch. Traurig, daß er das tut, wirksame Kräfte einem bedeutenden Gebiet und diesem Gebiete damit die Bedeutung raubt. Als ob Geist und Staat, jener diesen bestimmend, nicht Gemeinschaft, ja ein Aufeinandergewiesensein verbände! Erst kürzlich hat ein berühmter deutscher Gelehrter den Beweis zu führen versucht, daß Kunst und geistige Kultur zur Voraussetzung – den Staat hätten, daß „Kultur nur im Staate, hochentwickelte Kultur nur im höchstentwickelten Staate gedeihe“, was eine Hypothese, dich eine solche ist, die ihre historischen Schwächen mit eminenter Gegenwartskraft stützt: durch die Dokumentierung des organischen Zusammenhanges, der den Rechtsstaat an den Geist als seinen Schöpfer und Gestalter bindet, jene unendliche Beziehung, die Leffing als die „Affinität der Politik, Ideal und Idee“, Carlhle mit dem Worte von den „Gehirnstunden in der politischen Uhr“, Montaigne als eine „freie Ehe zwischen dem Trieb und seiner Veredlung“ bezeichnet: jeder in einer anderen Sprache, alle in derselben Ueberzeugung. Eine Beschäftigung mit Dingen, die (nach einem Worte Shaws) „fabelhafte, von den landläufigen Dummköpfen unter den Literaten gar nicht begriffene Möglichkeiten habe“, kann, meine ich, niemandes Geistigkeit herabsetzen. Sich für ihre Heimat zu interessieren, das heißt sie mitzuverantworten, ist also auch schöngeistigen Professionisten ohne Bestaubung ihres europäischen Mantels erlaubt.  Nein. Es ist ganz einfach ihre Pflicht. Die Zeit der „splendid isolation“ ist vorbei. Heraus aus den Elfenbeintürmen! Das würde, durch die nähere Berührung mit dem Leben, der Kunst zustatten kommen, deren Weltbürgerlichkeit an Weltfremdheit leidet. Und es würde, durch die nähere Berührung mit dem Geist, dem Staate zustatten kommen, der des Weltbügrertums bedarf. Denn dem Gemeinwesen, worin man lebt, den Anteil zu verweigern, heißt keineswegs ein Europäer, sondern bis zur Unverträglichkeit egoistisch sein, oder aber …: ein Snob.

In: Neue Freie Presse, 12.8.1928, S. 1-3.