F. Th. Csokor: Ferdinand Bruckners neues Drama. (1933)

Aus Zürich wird uns geschrieben: Wie nahe, wie auf­wühlend nahe uns der Hintergrund von Ferdinand Bruckners neuem Drama Rassen steht, das bewies der ungestüme Beifall, der sich im Schauspielhaus nach dem Stück vehement entlud. Und das, obgleich in den drei Akten manches mehr meditierende Auseinandersetzung als mitreißende Handlung ist, obgleich Bruckner selbst — mit seinen Worten — den Begriff „Rasse“ als zugleich „unannehmbar und unabsetzbar“ dis­kutieren will.

Dazu wählt er die jüngste Vergangenheit in einer kleinen westdeutschen Universitätsstadt, den März 1933. Noch lodert die weiße Flamme Friedrich Hölderlins aus den jungen Studenten, unter denen bereits Meinungen gären, die sie später von einander absondern und bis in die engsten Beziehungen zwischen Mensch und Mensch den kalten Scheidungsschnitt führen. Diese Konfrontation eines welt­umspannenden Kosmopolitentums mit den akuten Symptomen einer neuen Idee macht Bruckners Stück die Objektivität, die es anstrebt, so schwer, denn unwillkürlich setzt es die Fieber­kurve eines Volkes, das eben seine Form wechselt (dahingestellt ob zum Besseren oder Schlechteren), damit zum Dauerzustand ein. Auch fehlt auf der Gegenfront jener jüdische Typus — es gibt ihn —, der mit dem stumpfsten seiner Gegner im gleichen Querschnitt liegt, und gerade ein solcher wäre in seiner Wandlung unter der Stichflamme des allgemeinen Um­schwunges, die ihn zu einer neuen Haltung oder zum Bekenntnis nötigte, sehr wichtig gewesen.

Also wird das Thema bei Bruckner vom Titel weg mehr zu dem ewig unausrottbaren Klassenkampf der Nervensysteme hin verschoben, der den Roheren biologisch wider den Zar­teren stachelt, jenseits von Gesinnung und Rasse. Die dramatische Gleichgewichtsstörung, die sich daraus ergibt, geht in der erregenden Zwangsläufigkeit verloren, in der Schicksale junger Leute gegeneinander geworfen werden. Ins Er­schütternde wächst darin die Gestalt des Juden Siegelmann, der der öffentlichen Ächtung verfällt, und seines Gegen­spielers, des jungen Carlanner dem „das neue Wesen“ das Herz spaltet. Die Vision Christi überschattet sie schließlich beide barmherzig.

Die Uraufführung war ein ganz großer Abend des tapferen Züricher Schauspielhauses und seines Leiters Ferdinand Rieser samt seiner ausgezeichneten Schauspielerschaft. Gustav Hartung besorgt die Regie; dank ihrer liebreichen Eindringlichkeit wird das Mündungsfeuer der dramatischen Antithesen dieser Schlacht im Dunkeln besonders deutlich. Die Studentin, von der sich Carlanner zu Beginn der Handlung aus Rassegründen trennt, um ihr dann als Todgeweihter wieder zu begegnen, verkörpert Sibylle Binder voll der trancehaften Verlorenheit eines Menschen, dem keine Fahnen den schmerzhaft klaren Blick benehmen können. Nachtwandlerisch ist auch Ernst Ginsberg neben ihr; wie er während der Verhaftung mit seinem Gott redet — das wird nicht nur dichterisch zum Siedepunkt des Stückes.

Emil Stöhr und Josef Zechell sind die jungen Studenten, die zu gegensätzlichen Ergebnissen geführt, dennoch Brüder im Herzen bleiben, ewige Gegner jenes Rosloh, dem Wolf v. Beneckendorff alle triebhafte Schärfe eines Fanatikers ein­schmiedet der seine Idee mehr fühlt als begreift. Einen Fa­brikanten, der sich mit Herz und Firma zu Deutschland rechnet, zeichnet Erwin Kaiser tragikomisch in dem vergeblichen Wunsch nach Anonymität seiner Rasse.

Daß hier kein auf Aktualität zielender Spekulant, sondern ein sich schwerblütig auseinandersetzender Mensch durch das Stück spürbar wurde, das half vor allem, den Erfolg zu einem einhelligen zu machen.

In: Neues Wiener Tagblatt, 6.12.1933, S. 9.

Arnolt Bronnen: Triumph des Motors. Kurzgeschichte einer Form (1929)

Wir haben uns an das Auto akklimatisiert, der Inhalt: ,Auto‘ ist eine Selbstverständlichkeit für uns gewor­den. Wie aber empfinden wir die Form? Wir sahen Versuche, die verschwanden, Möglichkeiten, die erst angedeutet wurden; sind wir überzeugt, daß das Auto so aussieht, wie es aussehen muß? Oder muß es so aussehen, wie es aussieht? Im Anfang war die Sänfte. Der Mann, der gehen wollte, ohne zu gehen — und der also in jenen finsteren Zeiten zum minde­sten ein König sein mußte —, nahm sich zwei oder auch vier Männer, gab ihnen Balken in die Hände und setzte sich darauf. Dann gingen die Männer, und er ging mit. Da er aber ein König war, so ergaben sich einige Formfehler; denn selbst, wenn er auf Balken saß, war er kleiner als ein gehender Mann. Man baute also ihm und seiner Würde ein Dach und rettete so das Bild des erhabenen Königs: ein großes Gehäuse in der Mitte, flankiert von den kleineren Trabanten, die es be­wegten.

Wenn dann späterhin auch das Pferd die Männer ersetzte, so blieb das Prinzip: wichtig zunächst war das ruhende Ele­ment, mochte es nun König oder Edelmann sein; es blieb formal betont; der bewegende Teil, Mann oder Roß, war nur zu Zwecken des bewegten da; man schmückte ihn — wenn es hoch ging —, ohne ihn zu erhöhen.

In den Jahrtausenden menschlicher Bewegungstechnik, welche dem Auto vorausgingen, hat sich an diesen Grund­sätzen nur wenig geändert. Es waren Gründe rein prak­tischer Natur, wenn zum Beispiel die Fahrer der Post­kutschen höher gesetzt wurden als die Insassen; obwohl hier bereits die Demokratisierung dieses Fahrzeugs mitsprechen mußte. Oder, wenn bei den königlichen Kaleschen die hintenauf stehenden Lakaien über das Wagengehäuse hinwegsahen, so lag das wohl an der langsam wachsenden Notwendigkeit, // das Leben der Insassen vor etwaigen aufsässigen Anschlä­gen besser schützen zu können. Im großen und ganzen kamen die Menschen an das Auto heran mit dem Gedanken, das Wichtigste am Gefährt sei der Mensch, Schönheit und Zweck des Gefährts sei der Mensch, Form des Gefährts sei der Mensch.

Allerdings war, und das be­schleunigte die Entwicklung des Kraftgefährts so erheb­lich, im Eisenbahnbau be­reits eine erhebliche Bresche in dieses anthropozentrische System geschlagen worden. Schon in den siebziger Jahren hatte die Lokomotive be­gonnen, den in ihr und auf ihr thronenden Menschen langsam in sich aufzusaugen, der bescheiden vor dem er­höhten Führerstand dahin­schleichende Dampfkessel hatte angefangen, sich aufzu­blähen, die Maschine hatte begonnen, sich selbst zu be­tonen. Doch lag den ersten Autobauherren durchaus der frevle Ge­danke fern, bei der Konstruktion eines „exklusiven“ Gefährts, wie sie sich das Automobil dachten, an eine so plebejische Sache sich anzulehnen, wie es die Eisenbahn war. Sondern sie kamen von der feudalen Kutsche und blieben ihr treu. Daß dieses erste Autogefährt, so um 1890 herum in Deutschland gezeugt, keine Pferde vor sich hatte, war gewissermaßen ein Manko; daß es von selbst lief, mehr eine Kuriosität; und daß es diese Kuriosität infolge der Anwesenheit einer Maschine besaß, war ein Geburtsfehler, den der Konstrukteur gewissermaßen diskret ver­schwieg. Die Maschine war zwar da; aber man schämte sich ihrer.

Das Elektromobil verdankt überhaupt seine ganze und verpfuschte Existenz die­ser Scham vor der Maschine. Ich er­innere mich noch aus meiner Jugendzeit jener schwarzen und läppischen Gefährte, die als ungeheuer vornehm galten, weil man ihre Maschinerie nicht sah. Sie lie­fen gespenstisch, langsam und lautlos durch die Straßen, versuchten noch einmal ein Prinzip zu retten, das die Ma­schine, indem sie sich ihrer bediente, ver­achtete; sie endeten, mit Recht, als unbe­liebte Bahnhofsdroschken.

Mit der Maschine aber ging es wie mit den kleinen Kindern; man hatte sie auf die Welt gesetzt, nun waren sie da, und es kam der Moment, wo sie, unerwartet, oft  unerwünscht, ein eigenes Leben entfalteten. Die Maschine wuchs. Man sieht, wie das Baby, klein und gebrechlich, vor den mächtigen Kasten gespannt wird, der den gewaltigen Herrscher der Wagen und Maschinen, den Menschen, trug. Schon die Form dieses Wagens ist absichtlich degradierend für den Motor; er ist wie der Nacken eines Sklaven, über den der König auf seinen Thron steigt.

Unter — formalen — Entbehrungen wuchs das Kind Auto­motor heran. Allmählich lief es zur Höhe der offenen Karos­serie auf, die ihrerseits von ihrem Hochmut abließ; sicherlich nicht infolge einer innerlichen Besserung, sondern weil sie den mit der Geschwindigkeit quadratisch wachsenden Staub fürchtete. Sie finden in den Jahren vor dem Kriege eine Art stabilisierter Form mit allen Kennzeichen einer Pubertät: eckiger Knochenbau, schlechtsitzendes, schlotterndes Karos­seriegewand, gebückte Haltung, ein wenig Minderwertigkeits­komplex; dabei liefen diese unebenen Dinger 1903 schon über die Hundertstundenkilometergrenze, 1914 erreichten sie 170 Kilometer.

Erst nach 1920 beginnt der große Umschwung: die Maschine erwacht; die Maschine tritt ihre Herrschaft an. Baute man bis­her den Motor vor die Karosserie, so baute man nunmehr die Karosserie hinter den Motor. Der Motor wird formgebendes Prinzip, er wird Ausdruck der Bewegung. An dem Bild des Roadsters wird das sichtbar, wie selbst ein in der Silhouette überragender Teil wie der Kabrioletteil formal beherrscht wird von dem sich spannenden, gebändigt herrschenden Motorteil. Immerhin befinden wir uns hier noch auf einem Gebiete des Gleichgewichts. Wir erwarten von diesem Roadster keine Rekorde an Schnelligkeit, und er liefert sie auch nicht. Dies ist ein guter, ruhiger, sicherer Wagen, für alle brauchbar, ein // besserer Demokrat, ein Ruhepunkt zwischen zwei Kriegen: Symptom der Epoche.

„Der Rennwagen von heute ist der Tourenwagen von morgen“, sagte Major Se[a]grave. Und dies, sehen Sie, ist auch das Bild von morgen: die rücksichtslose Herrschaft der Ma­schine, die Diktatur. In diesem „Golden Arrow“ ist der Mensch nur Nerv; und auch nur ein Nerv von vielen. Sein Auge, sagt Major Se[a]grave, ist ein Zielfernrohr, sein Hirn ist bereits unfähig, Richtung, gar Ende der Fahrt zu bestimmen; er steigt ein in den Wagen und schießt sich selbst los: in die Gefahr, ins Nichts, ins Unbekannte jedenfalls. Wir sehen es an diesem phantastischen Gebilde klar: der Mensch hat alle Dinge nur begonnen; vollenden wollen sich die Dinge selbst.

Und ihre Vollendung wird den Menschen vernichten.

In: Sport und Bild, Jg. 25, Nr. 7/1929, S. 458-459 u. S. 510.

Hermann Bahr: Literatur (1923)

            1918 sah sich das Abendland vor einer ungeheuren Kraftprobe. Daß es in ihr nicht versagt hat, ist eine weltgeschichtliche Leistung, vielleicht die stärkste nach dem Westfälischen Frieden. Die Gestalt der beiden großen Reiche in der Mitte brach: das alte Reich Habsburgs und das neue Reich Bismarcks schwanden. Die Völker Österreichs, seit 1526 vereint, schieden voneinander; jedes begann sein Leben noch einmal von vorn, nach eigener Form verlangend. Die Stämme Deutschlands gaben ihren Verein nicht auf, doch auch sie schieden von der 1871 geprägten Form. Aber fünf Jahre später sehen wir jedes der einst habsburgischen Völker in sich gesichert, jedes hat sich seine Form gegeben, von Gefahren umdrängt, aber seiner Kraft, sie zu bändigen, sich zu behaupten, gewiß: Böhmen und die Südslawen blühen auf, und sein den Tagen des Wiener Kongresses hat die Donaustadt sich nicht wieder so selig in Schönheit gewiegt wie jetzt; die weiland österreichischen Völker fanden die Kraft zur Anerkennung der neuen Wirklichkeit und daß in großen Krisen Gestalt nur zu retten ist durch Wandel der Gestalt.

            Den deutschen Stämmen ward es schwerer, sich zu dieser Einsicht durchzuringen, gerade weil die Gestalt ja zunächst noch äußerlich unversehrt blieb, so daß man hoffen durfte, sie werde sich auch der empordringenden neuen Kräfte bemächtigen können. Die Weimarer Verfassung war der Versuch, diese neuen Kräfte, die sich zunächst ja bloß erst angemeldet hatten, ohne selber noch sich recht zu kennen, der alten Form einzufügen. Man übersah dabei, daß diese Form, das 1871 geschaffene Reich, ja durchaus nicht geschichtlich gewachsen, sondern der Ausdruck eines einzelnen war, die persönliche Schöpfung Bismarcks, die ganz ureigene Tat eines Genies, das in seiner Verbindung von visionärer Kraft von ungeheurer Kühnheit mit einem untrüglichen Blick für Wirklichkeiten und dem Glück, dessen sich geborene Spieler sicher wissen, vielleicht nur mit Napoleon und Caesar verglichen werden kann. Er vergaß nur eins: vorzusorgen, daß immer ein Bismarck da wäre, die Voraussetzung, unter der allein sein bei aller Gewalt und Größe so unendlich seines, nur von zartester Hand lenksames Werk möglich blieb. Auch die Weimarer Verfassung scheint insgeheim noch auf einen Bismarck zu rechnen, ohne den sie darum zunächst noch provisorisch wirkt. Ein politisch ungeschultes Volk, das seit dem Ausgang des Mittelalters niemals Gelegenheit zur Übung in Politik, niemals auch nur Gelegenheit zur Einsicht ins Wesen großer Politik gehabt hat, soll nun, durch vier Jahre wildesten Kriegs erschöpft, von Feinden umdrängt, nur durch ein Aufgebot der innersten Kraft lebensfähig, über Nacht nachholen, was seit 1890, seit der ungnädigen Entlassung des Schöpfers seiner Form, tatenlos, dünkelhaft versäumt worden ist: ein Debutant in der Politik soll sich einer Welt von Feinden stellen!

            Daß dieses unglückliche Volk überhaupt noch lebt, daß es den Mut zu sich selbst noch nicht verloren hat, daß es sich den Glauben an sich, an seine Notwendigkeit im Abendland, an seine geheimnisvolle Sendung bewahrt hat, daß es sich zutraut, die zerstörenden Gewalten in seinem Inneren bändigen zu lernen, daß es hoffen darf, die zum ersten Male erringene Freiheit gebrauchen und sich eine Form geben die deutsche Form schaffen zu können, ist, schon durch den Entschluß allen, eine Leistung von bewundernswerter Größe. Und wenn der Deutsche jetzt zuweilen klagend fragt, warum denn, während rings bei den anderen große[n] Führer wie Seipel, Benesch, Masaryk, Mussolini, Lenin erscheinen, nurn ihm allein gerade noch immer der in sich Sinn, Gewissen und Willen der Nation summierende Mann versagt bleibt, so vergißt er nur, daß es zwar im Grunde jetzt allen diesen Völkern um dasselbe geht: um Formgebung, aber mit dem Unterschied, daß die anderen schon vorher längst im Geheimen ihrer eigenen inneren Form gewiß und gar unter dem Druck der ihnen von fremden Herren aufgezwungenen äußeren nur desto bewußter warn, während der Deutsche seit dem Ausgang des Mittelalters nicht mehr die Kraft fand, den sämtlichen Stämmen, von denen jeder eifersüchtig in seiner besonderen Form erstarrt war, darüber nun erst noch auch eine gemeinsame aufzuzwingen: unsere Geistesgeschichte besteht ja seit vierhundert Jahren aus lauter mißratenen Versuchen einer allgemeinen Formgebung. […]

            Das Deutsche Reich von 1871 war, als eines ungeheuren Genies ganz persönliche Schöpfung, über Deutschland sozusagen verhängt worden. Als es 1918 zerbrach, war kein deutscher Stamm, geschweige denn ein einzelner Mann stark genug, aus eigener Kraft ein neues zu gebieten. Zunächst mußte man sich also mit einer Notverordnung behelfen, die solange vorhalten sollte, bis sich aus dem befreiten Volke selbst die Kräfte der Formgebung erheben würden. Darauf kam es zunächst an, und darin liegt auch der Sinn aller Erscheinungen in unserer Literatur seit 1918. Sie wird noch immer unterschätzt, weil man fortfährt, sie noch immer an den alten Gewohnheiten zu messen. Aber dieses junge, durch das Erlebnis des Kriegs erstarkte, von Waffenlärm erregte Geschlecht hatte gleich auf den ersten Blick erkannt, worauf allein es jetzt zunächst ankam: Tiefen des deutschen Geistes, vor allem aber auch des deutschen Willens aufzurütteln, aus welchen, wenn nur erst der Urgrund des deutschen Wesens erschüttert wäre, die geheimsten formenden Kräfte hervorbrechen müßten; jedes unbewußt nach Form verlangende Geschlecht taucht zu den ‚Müttern‘ unter.

            Dabei ging’s freilich nicht immer ganz artig zu; Notschreie haben weder Anmut noch Würde. Doch darf man immerhin dem Ertrag dieser fünf Jahre die Bedeutung einer Epoche nicht mehr absprechen, und wenn ich nur auf gut Glück nach den paar Namen derer greife, die auf mich am stärksten wirken: Unruh, Werfel, Toller, Kaiser, Brecht, Barlach, Sternheim, Edschmid, Flake, gar aber Döblin, so genügen allein diese schon, um das Urteil zu rechtfertigen, daß wir nach der klassischen Zeit in unserer Literatur keinen Aufmarsch von Begabungen hatten, der sich an Kraftaufwand, an Willensdrang, an Wesenstrieb mit diesem hätte messen können. Man wird ihn freilich nach Gebühr erst vollends würdigen lernen, wenn sein Ergebnis erscheint: das nächste Geschlecht, das erntende, dem, was jene sich erst gewaltsam ertrotzen mußten, nun wieder schon leichter, heiterer, sorgenfrei gewohnter Besitz geworden sein wird. Schon kündigt es sich an, der Lärm verstummt, Gewölk zergeht, Lächeln erglänzt – ich greife wieder aus dieser neuen, still besonnen das Glück der Form hütenden Jugend die meiner Hoffnung wertesten Namen heraus: Alexander Lernet-Holenia, Hans Carossa, Walther Eidlitz. Zugleich wird nun erst die seit Jahren im Verborgenen am deutschen Geiste wachende Macht auch öffentlich weithin wirksam: die den Gral unserer schöpferischen Geheimnisse hütende Schar um George. Neue Jugend drängt nach, der Willkür, Selbstsucht und Anmaßung absagend und wieder in Ordnung, Maß und Gesetz das Stichwort für die Kraft des Lebens und in der Bereitschaft zur Strenge, Zucht und Entsagung die Würde des Künstlers erkennend. Hermann Hefele, mit seinem „Gesetz der Form“ und dem gewaltigen Dantebuch, gab ihr den Auftakt, und mit Paul Ludwig Landsbergs hellsichtigen Schriften über „Die Welt des Mittelalters und Wir“ und „Wesen und Bedeutung der platonischen Akademie“ setzt nun auch der Kreis um Max Scheler zur öffentlichen Wirkung ein, die, wenn Scheler erst an der Berliner Hochschule sein wird, in der Hauptstadt des deutschen Geistes ihre volle Macht der Formgebung bewähren kann.

In: Vossische Zeitung, 25.12.1923, Beiblatt: Die Leistungen unserer Zeit.

Ea von Allesch: Bücher, von denen man spricht (1919)

Arthur Schnitzler: Casanovas Heimfahrt – Karl H. Strobl: Seide Borowitz.

Arthur Schnitzler: „Casanovas Heimkehr“. Novelle. (Verlag S. Fischer, Berlin.) Den Widerschein eines Sonnenunterganges legt diese Erzählung über das Bild des berühmten Abenteurers, in dem sich die Vorzüge und Fehler seines Jahrhunderts in seltener Mischung vereint haben. Aber nicht weichlich verklärend oder resigniert abschließend ist diese Geschichte vorgetragen, sondern es ist noch immer der alte, wohlbekannte Casanova, aus dessen Hirn und Herz nimmermüde Flammen schlagen.

Nur Anwandlungen von Schwäche sind es, die sich bemerkbar machen, eine kleine geistige Unsicherheit, eine Ermüdung, die aber, es ist kein Zweifel, den Weg ins Dunkel des Alters einleiten. Wir sind nicht Zeugen eines Rechenschaftsberichtes, einer Einkehr, oder was man sonst aus dem Titel erwarten möchte, sondern Zuseher eines Abenteuers, das nicht einmal das letzte ist, das aber doch durch seine leise innere Zermürbtheit eine symbolische Bedeutung und durch die hohe Abgeklärtheit des Vortrages den Glanz eines wahrhaften Schlußkapitels besitzt.

Ganz unpersönlich und doch so überaus deutlich wie im Erlöschen des Tages oft die Menschen werden, die an einem vorüberschreiten, ist diese Figur gezeichnet mit ihrem Netz von Zeit- und Ortsbesonderheiten, in das sie eingewoben ist. Die optischen Eindrücke, die empfangen werden, erregen nicht nur Vorstellungen, sondern ziehen den Leser in einen Suggestionskreis, der ihn bis zum Schluß nicht losläßt. Das Ganze wirkt traumhaft in seiner reichen Bildhaftigkeit und Verdämmerung und bleibt auch als Gelesenes wie ein Geträumtes im Gedächtnis. Die Täuschung, durch die Casanova an Stelle des Liebhabers zur Geliebten gelangt, ist innerlich und äußerlich in großen Linien untermauert, ohne daß sich plötzlich der Zuschauer gewaltsam an die Dinge herangeschoben fühlen würde, um nun Einzelheiten zu erfassen; und selbst wo die Erzählung jäh aufflammt, wie im Todeskampf der beiden nackten Männer auf der Wiese, tritt sie doch nicht aus den Bahnen ihres Stils. Es ist die klare Reife eines Dichters, die das spricht.

Karl Hans Strobl: „Seide Borowitz“. (Verlag L. Staackmann, Leipzig.) Es gibt Leute, und nicht nur gute Bürger, sondern auch Literaturkritiker, die verlangen, daß ein Kunstwerk in gewissem Sinn belehrend sei. Sie wollen durch die Kunst nicht nur ergriffen, sondern auch in ihren Weltkenntnissen erweitert werden, sie wollen Einblicke in bisher unbekannte Bezirke menschlichen Geister gewinnen, sie wollen ihre Erfahrung vom Weltbild in den Gehirnen der Menschen mehren.

Diesem weitverbreiteten Wunsch verdanken viele literarische Werke, die eine sogenannte Milieuschilderung enthalten, ihren Erfolg. Es ist eine Produktionstype entstanden, und der Roman Seide Borowitz fällt auch darunter.

Eine jüdische Geschichte, jüdische Personen, rein jüdische Lebensumstände. Aber – leider – nicht von einem Juden oder einem, der es sein möchte, erzählt. Wir erfahren nur, was der intellektuelle Großstadteuropäer aus einem kleinen galizischen Ghetto reportern und was Begabung und offensichtliche Kenntnis jüdischer Mystik daraus machen kann. Das ist ja recht viel. Doch möchten wir gern ein bißchen hinabgeleuchtet haben, möchten die inneren Krämpfe und Jenseitsperspektiven des armen, krötenhaft scheußlichen Seide Borowitz kennenlernen. Es schiene uns ein inadäquater Aufwand, daß sich seine Ges[ch]ichte[n], die ihm unter schweren Krisen zuteil werden, nur auf Wuchergelder in alten Hosen, auf Haupttrefferlose und bestenfalls auf den Tod der brünstig Geliebten beziehen sollen. Wir möchten ein wenig mit Borowitzischen Augen sehen dürfen, und wir setzen voraus, daß es ganz besondere Augen sind. Darauf käme es an.

Dann würde uns auch die innere Unmöglichkeit der Verwechslungsszene nicht stören. Seide nutzt nämlich die Nacht, in der ein junges Judenmädchen seinen Bräutigam heimlich erwartet, in schmählicher Weise für sich aus. Aber da von ihm wiederholt erzählt wird, wie übelriechend sein Atem und seine Füße sind, und daß er eine riesige Geschwulst im Nacken – dieser sicher vertrauten Taststelle Liebender – mit sich herumtrage, was müßte da Gitl für ein stumpfsinniges Wesen sein, wenn sie nichts merken würde. Eine solche Verwechslung darf nicht zum Angelpunkt einer naturalistischen Geschichte werden. Das Buch des bekannten Autors ist selbstverständlich trotzdem sehr interessant, wie es nach seinen erfolgreichen Büchern ja nicht anders zu erwarten war.

In: Moderne Welt, H.4/1919, S. 39.

Oskar M. Fontana: Der Fall Ferdinand Bruckner (1928)

Gleichgültig, ob die Literatur-Schupo Ferdinand Bruckner bereits gestellt und zur Strecke gebracht hat oder ob er noch einmal flüchten konnte —: der Fall Ferdinand Bruckner ist die größte Blamage des deutschen Kunstlebens. Weil er zeigt, daß die Neugier: „Wer ist Ferdinand Bruckner?“ stärker ist als die Frage nach seinem Werk. Man ist den betriebsamen, allzu sichtbaren Autor schon so gewohnt, daß man einen Dramatiker, der ein Element des Dichterischen: die Anonymität aufsucht, nicht vertragen kann, daß ihn aus seinem Dunkel aufzuscheuchen, alle Kräfte der Kunstreportage aufgeboten werden, daß sich an seine Erscheinung alle Reklamegierigen in Berlin und Wien heften, um nur noch eine Zeile des Druckerschwärze-Ruhms zu profitieren. Ein widerlicher Anblick. Er enthüllt wie nichts die Wichtigkeit des Marktes im heutigen Literaturbetrieb, er enthüllt, daß die Tat ganz nebensächlich ist, daß nur der Lärm entscheidet. Man will sehen und greifen, man will nicht ergriffen werden. Man kann einen Dichter nur noch als einen bürgerlichen Verdiener verstehen.

Nach dem Sinn seiner Sendung, nach der Qual seines Suchens, nach dem Glück seiner Annäherung an erkennende Gestaltung fragt niemand.

Ferdinand Bruckner ist vielleicht kein weltfremder Mensch, er ist — was sehr möglich scheint — einer, der gerade die Auffälligkeit der Unauffälligkeit, der Unsichtbarkeit als Reklamewert einkalkuliert hat. Aber wie hätte er nicht an dem Wert des selbstlosen Werkes irre werden, wie hätte er nicht das Spiel mit der Person als nutzbar lernen sollen! Seine Krankheit der Jugend lag jahrelang in den Theaterkanzleien. Kein, Verlag, der zugrunde ging, weil er jeder Beziehung, jeder Konjunktur gehorchte, vertrieb wohl Bruckner und sein Drama. Aber er druckte es nicht. Denn wer war Ferdinand Bruckner? Keine Clique reklamierte ihn. Dennoch spielten ihn ein paar Theater. Der Erfolg war beträchtlich. Aber weder reagierte darauf Berlin noch die Literatur.

Der Zufall einer Lücke im Repertoire brachte die Krankheit der Jugend endlich zu Hartung ans Renaissancetheater. Aber was als Verlegenheit für ein paar Tage gedacht war, wird ein ungeheurer Erfolg. Und sofort beginnt die Jagd der Verleger, der Theater nach Ferdinand Bruckner. Ihn, den zuvor niemand druckte, niemand in Berlin riskierte, bringt nun der größte deutsche Verlag, führt nun das repräsentativste Theater Deutschlands auf. S. Fischer und Max Reinhardt beginnen, Hand in Hand, zu „fördern“. Und ebenso augenblicklich will alles, muß alles wissen, was das Unwichtigste auf der Weilt ist: „Wer ist Ferdinand Bruckner?“

Es ist ganz in Ordnung, es gehört zu dieser Groteske eines Betriebs, dem das Werk selbst immer Nebensache war und ist, daß das neue vielbegehrte Schauspiel Ferdinand Brückners Die Verbrecher weit schwächer ist als das erste, so lange unbeachtet gebliebene Drama Krankheit der Jugend. Eine große Begabung sucht sich noch. Wer hilft ihr dabei? Das Geschrei geht nur darum: „Wer ist der Kerl, wer ist Ferdinand Bruckner?“ Handgranaten gegen sein Versteck! Er muß sich zeigen!

In: Tage-Buch, Nr. 45/1928, S. 1906.

Rudolf Jeremias Kreutz: Aktivistische Bücher. Verlag: „Die Schmiede“, Berlin 1924 (1924)

Den literarischen Aktivismus der Epoche kennzeichnet tiefe Unzufriedenheit mit ihrem Bürger, der sich durchaus nicht be­kehren läßt. Aus diesem Grunde schafft die Mehrzahl der Bücher, die in die Zeit fragen, rufen, auf sie losschreien, wohl Erkenntnisse, aber keine Proselyten, wohl neue Form, aber keine Neuformung. Es wird fleißig gehämmert, doch nichts glüht auf im Hammerschlag. Die Schmiede arbeiten kalt. Schall und Hall ist einziges Ergebnis, das zerhämmerte Objekt schmiegt und schweißt sich nicht. Es verharrt in seiner Urgegebenheit, erhaben gleichmütig, wenn auch mitunter schmerzlich angerührt. In dieser schmerzlichen Anrührung des erprobten Alten, das durch sie manchmal nur noch liebenswerter wird, oft aber auch seinen Staub und Rost offenbart, liegt, der Kampfwert des aktivistischen Buches.

Iwan Goll, mit dem die Reihe der Schmiede eröffnet sei, kommt geradewegs aus der verödenden Werkstätte des Ex­pressionismus. Er haßt den Beistrich, türmt Zyklopenmauern aus farbigen Worten, die ungebunden zu klingendem Schutt zerbröseln. Man kennt die Technik. Sie hat wenig Freunde unter jenen geworben, die erraten sollen, wie aus Klang und Schutt Sinn wird — den etwaigen Lesern. Der Eiffel­turm heißt der abstrus profilierte Bau, darin der Dichter epische und lyrische Talentproben ausstellt. Eruptiv, phantastisch schleudert er Gedankenfetzen von sich, souverän, leicht, un­bekümmert, spielerisch, wie ein begabter Berauschter lallt. Von Bändigung der quellenden Fülle, von jener grausamen Selbstzucht des dionysisch erhöhten Geistes, die bürgerliche Rückständig­keit Kunst nennt, wird bewußt Abstand genommen. „Zeich­nungen“ von Delaunay und Leger schmücken den Band. Sie lösen in ihren kubistischen Orgasmen heitere Bestürzung aus.

Freudig überrascht hingegen Viktor Wittner durch sein Gedichtbuch Sprung auf die Straße. In ihm verrät sich ein ungemein starkes optisches Gesicht für den Zauber des Alltäglichen aus Großstadt und Landschaft und eine malerische Gewalt des Ausdruckes, der blitzhaft das geschaute Bild übergrellt, es in der Seele unverwischbar fixierend. Gedichte, wie „Die Stadt im Schnee“, „Das Gewitter ist da“, „Winde wachen auf“, sind unvergeßlich in der unübertrefflichen Darstellung des Ablaufes eines Naturgeschehens. Viktor Wittner ist es hier gelungen, die Grenzen des sprachlich Künd­baren glücklich zu erweitern. Auch der Rhythmus der Schnelligkeit, wie ihn „Die Fahrt“ aus der Bilderschau eines rollenden Eisenbahnwagens erfaßt, ist originell in der dichterischen Durchdringung der grandiosen technischen Nüchternheiten unsrer Zeit. Auch Wittner ist „neue Stimme“, wie ein Beurteiler preisend hervorhebt, aber eine, auf die zu horchen lohnt.

Anklage gegen das mechanistische Prinzip der aus­gleichenden irdischen Gerechtigkeit, verkörpert im Walten der Behörde, erhebt Josef Roth in seinem Roman Die

Rebellion. Das Werkzeug, dessen er sich bedient, ist der Kriegskrüppel Andreas Pum, ein armer Teufel und muster­hafter Untertan, der alle Störer der gottgewollten Autorität kurzweg „Heiden“ nennt und innig verabscheut. Trotz solcher Wohlanständigkeit gerät er aber doch ganz schuldlos in einen Konflikt mit der Staatsgewalt; die Räder der Maschine erfassen, zermahlen ihn. Was schließlich als Rest des braven Andreas Pum freigelassen wird, rebelliert innerlich und stirbt als überzeugter „Heide“. Knappe, humorige Ironie durchpulst die Erzählung. Ihre Menschen sind scharf Umrissen und lebens­wahr. Man gewinnt sie lieb, obwohl sie allesamt wenig liebens­würdig sind. In seiner Gestaltungskraft als Epiker zeigt Josef Roth bedeutendes Können, sein Stil hat Kultur, Farbe, leuch­tenden Schliff. Bedauerlich nur, daß die tendenziöse Einstellung des Buches seinem künstlerischen Wert insoweit Abbruch tut, als die innerliche Wahrhaftigkeit dann bewußt verleugnet wird,wenn die Behörde als ein Monstrum von Grausamkeit, Dünkel und Dummheit dem Opfer gegenübertritt. Gar so arg ist es im bürgerlichen Staat jenseits der Romanwelt nicht, der Zukunfts­staat auf Probe aber, den das bolschewistische Rußland dermalen zeigt, hat keinesfalls erwiesen, daß dort, wo alle Macht im souveränen Volke ruht, die Obrigkeit den in ihren Netzen zappelnden Unschuldigen etwa feinfühliger behandelt. „Es ist unten so wie oben und oben so wie unten“, hat der „hohe Ein­geweihte“ Hermes schon vor Jahrtausenden in Altägypten gemeint. Sollte dies bei irdischem Machwerk jemals anders sein können?

Bravouröse Gedanklichkeit, in ein Labyrinth umständlich geschachtelter Sätze verkeilt, bietet Karl Sternheim, heute schon Altmeister in der Kunst, gedanklich tief, aber schwer lesbar zu schreiben, mit seiner biographischen Novelle Gauguin und Van Gogh. Sie spielt im letzten Lebensjahr des großen Holländers und behandelt die Zeit, da die leidenschaftliche Feindfreundschaft zu seinem Antipoden, dem Maler Paul Gauguin, ihn künstlerisch aufpeitscht und körperlich vernichtet oder, genauer, letzter Anstoß zu seiner Vernichtung wird. Zur Seelenkunde Vincent van Goghs, des Nurkünstlers, der sich erschießt, als er erfährt, daß die Ruhmreklame für ihn dröhnend einsetzt, hat Sternheim mit dieser kurzen Veröffentlichung Wesentlichstes beigetragen.

Vier aktivistische Köpfe. Man freut sich immerhin, daß sie Profile zeigen. An Profillosigkeiten, die uns anmutig­ verschwommen beplaudern, herrscht im Dichterwalde ohnedies kein sonderlich fühlbarer Mangel.

In: Neues Wiener Tagblatt, 16.6.1924, S. 26.

h.m.[enkes]: Lyrische Bekenntnisse. (1919)

(Danton [Robert Bodansky]: Wenn der Glorienschein verbleicht. – Hugo Sonnenschein: Slowakische Lieder. – Marek Scherlag: In der Fremde.)

In dieser Zeit aufgewühlten Denkens und Empfindens ist auch der in sich versponnene Lyriker zum Weltanschauen, Bekennen und zur leidenschaftlichen Stellungnahme gedrängt. So wurde auch das Gedicht zu einer Konfession, zu einem Dokument dieser Epoche. Bekenntnisbücher in diesem Sinne sind die drei Gedichtsammlungen, auf die die Aufmerksamkeit hier gelenkt werden soll. Aber sie sind es in ganz verschiedenartiger, individueller Weise.

Robert Bodanzky (Danton), der gewichtloserem, der UnterHaltung gewidmetem Schaffen bisher sich hingab, gibt ein von den edelsten Impulsen getragenes Bekenntnis zur Menschheit und deren Befreiung von ihrer bisherigen Versklavung durch Staat und Militarismus, während Hugo Sonnenschein und Marek Scherlag aus der Seele ihrer Nation ihre Dichtung schöpfen. Danton ist, wie sein berühmtes Vorbild, ganz von revolutionärem Geiste erfüllt. Seine Satire ist schonungslos, sein unfehlbar treffender Witz voller Bitternisse. Diese Gedichte und Epigramme waren schmerzliche Monologe während des Krieges, der großen Katastrophe aller Menschlichkeit. Danton, ein inbrünstiger Bekenner der Tolstojschen Weltreligion, hat im dumpfen Schweigen jener Jahre diese blutigen Satiren hingeschrieben, die hohnvolle Abrechnung mit der Grausamkeit wie mit der öffentlichen Lüge, mit den großen und kleinen Mächten der Gewalt, der Volksverführung durch die Phrase halten. Sein Wort wurde zu einem herunter­sausenden, feingeschliffenen Schwert. Die Gedichte sind das Dokument einer achtunggebietenden inneren Umwandlung zur großen und wahrhaften Humanität, Bodanzky rückt dem Dünkel, der Selbstsucht, dem in Grausamkeit ausgearteten Größenwahn zu Leibe. Er höhnt die falschen Menschheitserlöser, die in die Phrase versponnene Partei. Aber neben dem Haß schlägt in seinem Herzen auch eine innige erwärmende Liebe zu allen Bedrückten und Enterbten. Er ist ein Anarchist im edelsten Sinne, einer der sich gegen jede Art von Vergewaltigung wendet, gegen Krieg und Staat, für den er die große Menschheitsgemeinschaft setzen will. Von seinen kleinen, spitzen Epigrammen sagt er:

Wie derlei Epigramme entstellen,
Die Antwort kann leicht ich Euch geben.
Man braucht nur mit offenen Augen zu sehen
Und darf nicht vorbeigeh’n am Leben.
Dann muß man das Ganze in Reime fassen
Und Worte wählen, die Lügnern nicht passen.
Und Begeisterungsfunken schürt man zur Flamme,
Und so entstehen Epigramme.

Dem Wohltätigen ruft er zu:

Ich hör‘ Euch verworrene Worte stammeln,
Von Wohltätigkeit — von Geldersammeln
Für rekonvaleszente Soldaten,
Die ihre Pflicht türs Vaterland taten!
–  – Laßt sie krank sein, die armen Jungen,
Für einmal haben den Tod sie bezwungen.
Doch müßten sie nochmals ins Elend hinaus,
Dann läßt sie der grause Geselle nicht aus.
Und Ihr habt es dann allein verschuldet,
Wenn er zum zweitenmal Todesqual erduldet.
Sammelt nicht! — Macht nicht gesund diese Kranken,
Sammelt nur eines — Eure Gedanken!

Er spricht vom „großen Narren“:

Er schätzt nur eines — das eigene „Ich“
Und sagt er „wir“— dann meint er „sich“.
Doch spricht er vom Durchhalten und Entbehren,
Dann meint er „uns“ — das kann ich beschwören.
Der große Narr — den alle wir kennen,
Muß ich erst seinen Namen nennen?
Für seinen Wahnwitz, der toller als toll.
Da zahlt das Volk einen hohen Zoll,
Und schreit noch obendrein „Hurra“.
Ein ähnlicher Narr starb auf Helena.

Eine satirische Heerschau der Parteien gibt Danton-Bodanzky in seinem auch künstlerisch wertvollsten Gedicht: Der Zirkus ist geheizt. Auch die ironisch beleuchteten Prosaskizzen Held Jakob, König Kapita„, Leib Mendel wird man in diesem befreienden Büchlein. Wenn der Glorienschein verbleicht (Wien, Verlag „Bekenntnis und Befreiung“) genußvoll lesen.

Des jugendlichen Hugo Sonnenschein Slowakische Lieder (Genossenschaftsverlag, Wien, Bauermarkt 9) sind in ihrer Melodie und in ihrer Frische ganz auf volkstümlichen Ton gestimmt. Schmerzvoll verkündet der Dichter hier das Leid der Enterbten und Geduldigen.

Auf den Schultern meines Volkes
Liegt die Knechtschaft ein Jahrtausend.
Ein Jahrtausend scheuren Fesseln
Meiner Brüder Geist und Hände.

Diese Lieder haben eine vor Leidenschaft vibrierende Musik, eine Ursprünglichkeit, die ganz vom Atem der Natur durchweht, ist.

Dein Lied, du armer Mensch der Slowakei.
Ist ein Verzweiflungsschrei.
Ein Schrei der Seele, die in Banden ächzt
Und doch nach Freiheit lechzt.
Sie nehmen dir alles: dein Blut, dein Feld
Und dein Hirn, dein Geld.
Nur dein Herz und dein Lied, das können sie nicht.
Das klingt und zeigt der Sonne Licht.
Solang dir in der Brust ein Funke Leben glüht,
Solang hast du dein Herzenslied.
Dein Lied, du armer Mensch der Slowakei —
Deinen Verzweiflungsschrei.

Zugleich mit dem Brudervolke besingt Sonnenschein mit Tönen wehmütiger Erinnerung sein eigentlichstes, jüdisches. Diese empfindungsstarken, in Naturfarben glühenden Strophen, die oft zur kurzatmigen tragischen Ballade sich runden, prägen sich tief ins Herz ein.

Marek Scherlags ergreifende Weisen in seinem Buche In der Fremde. Neue Judenlieder (Berlin, Axel Juncker) er­klingen aus den stillen, sonnenarmen Gassen des Getto. Aus einer Flut von Erinnerungen strömen diese stillen, oft weh­mütigen Lieder, die eine Welt widerspiegeln, ihre feiertäg­lichen Freuden, ihre entsagungsvolle Tragik und ihr unscheinbares Heldentum. Der Dichter pflückt hier Blumen zwischen Ruinen, ist ein Schönheitssucher im glanzlosen jüdischen Alltag. Es ist nichts Starkes in diesen einfachen Gesängen, aber viel be­seeltes, leise atmendes Leben. Am schönsten, wenn dieses Leben dem Dichter von der bloßen Reflektion weg zum plastischen Bilde sich gestaltet wie in dem Gedicht Jankel:

Ein einsames Stämmchen am Wege im Wind,
So seh ich Jankel, das schwächliche Kind.
Gebleicht sein Gesichtchen vom Rauhfrost der Not.
Vater und Mutter sind lange tot.
Die Schule, ein feindlich geschlossener Kreis,
Und er so vereinsamt, verlassen, verwaist…
Wie Pfeilstich verletzt ihn das höhnische Wort:
„Du Judenjunge, du mache dich fort“.
Er bleibt und erfleht einen einzigen Strahl
Vom Licht ihrer Freundschaft, fürs Grau seiner Qual.
Schenkt ihnen sein Herz, sie lachen bloß,
Zertreten es spielend und ahnungslos.
Da schleicht er von dannen, verweint und zerquält.—
Ob Gott wohl die Tränen der Armen auch zählt?

In: Neues Wiener Journal, 5.7. 1919, S. 5 (16).

N.N. [Arthur Drews][1]: Ein Jahrbuch des Expressionismus (1919)

Das vorliegende Werk ist eine Art urkundlicher Beleg für die Stimmung gewisser Kreise in unserem Schrifttum nach der plötzlichen Beendigung des Weltkrieges, für die

Hoffnungen und Erwartungen, wie das heutige Geschlecht sie an die staatliche Umwälzung geknüpft, für die berauschende Wirkung, die die Schlagworte von 1789 »Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit« trotz allem noch immer auf jugendliche Gemüter auszuüben vermögen, und die gedankliche Unklarheit und Verworrenheit in politischen, sozialen und künstlerischen Fragen, die in unserer durch den Krieg und die Revolution aus Rand und Band geratenen Gegenwart wie in einem Hexenkessel durcheinander brodeln. Darüber hinaus ist es eine völlige Missgeburt. Schon das Vorwort aus der Feder des Herausgebers läßt in dieser Beziehung das Schlimmste erwarten. Es handelt von dem „Neuen“, das jetzt in die Menschheit kommen soll „als Beweis und Zeichen vom Sein einer unsichtbaren Sphäre, in der die Wahrheit auf ihre ewige Wiedergeburt wartet“. Sein Preis ist die Revolutionierung des Menschen selbst: das Bewegende soll selbst zur Eigenschaft des Menschen werden; über das Zeitliche hinaus soll das Revolutionäre sich in ihm verewigen! Revolution um der Revolution willen! In der neuen Kunst kündigt sich diese „neue Lebendigkeit“ an, einer Kunst „des menschenbrüderlichen Wesens der Welt“, deren Sinn ist, „die Erhebung des Menschen zum Weltbringer“. Man kann nicht mit mehr Worten sich in mehr Schwulst und Phrasen ergehen und fragt sich nur, ob der Verfasser sich wohl selbst bei seinem hochtönenden Redeschwall etwas Vernünftiges gedacht hat. Die nachfolgenden Gedichte eines Schürer, Heynicke, Ehrenstein, Loerke, Diaz und wie sie alle heißen, fahren nur in demselben überschwenglichen, gedankenarmen, aber phrasenhaft aufgeputzten Stile fort und erwecken nur zu oft den Anschein, als ob ihre Verfasser sich einen Spaß mit dem Leser machten, so völlig sinnlos, — verrückt, geschraubt und gekünstelt sind die meisten von ihnen. Man hat den Eindruck aus den Fugen geratener Gehirne und eines völlig entarteten Empfindens. Wenn dies Expressionismus sein soll, so ist es jedenfalls vorzüglich geeignet, diese neue Kunstart aufs schlimmste bloßzustellen und sie dem allgemeinen Gelächter aller Nichtsnobs preiszugeben.

Selbst so unanfechtbare Künstler wie Rilke und Werfel wissen nichts als ein ungereimtes Gestammel vorzubringen! Worte, Worte, in denen man sich vergeblich bemüht. Einen Sinn zu finden. Auch der unselige Toller hat zwei „Gedichte“ beigesteuert, in deren einem er die verzweifelte Stimmung zusammengepferchter Soldaten in den Transportzügen, in deren anderem er eine grausliche Unterhaltung von Skeletten zwischen den Drahtverhauen schildert. Man begreift ja wohl, daß die nervenzerrüttenden, schrecklichen Erlebnisse des Krieges die Phantasie de Menschen in solcher Weise beeinflussen konnten, wie es hier der Fall ist, aber von Kunst ist in diesen Ausbrüchen seelischer Verzweiflung doch keine Spur zu finden, und von „Erhebung“ kann solchen Erzeugnissen kranker Gehirne gegenüber doch wohl kaum gesprochen werden, in denen der Geist der Zersetzung und Verneinung herrscht und die allem normalen Empfinden geradezu absichtlich ins Gesicht schlagen Das „dramatische Gedicht“ Ikaros von Johannes Becher ist weder dramatisch noch ein Gedicht, während Paul Zechs Empor durch v. Unruhs Neuem Geschlecht angeregt zu sein scheint und einen ebenso niederschmetternden Eindruck macht wie dieses.

Paul Kornfelds fünfaktige Tragödie Himmel und Hölle habe ich, offen gestanden, nicht zu Ende lesen können: es ist ein Gemisch von tollen Einfällen, kindischer Unbeholfenheit und Langerweile. Was aber die novellistischen Skizzen und kurzen Erzählungen anbetrifft, die den dritten Teil des Bandes ausfüllen so sind sie leider nicht geeignet, das Urteil über das Vorangegangene in günstigerem Sinne zu beeinflussen. Für den „Tiefsinn“ von Meissners Mondsichelgesang oder Däublers Blauer Blume fehlt mir das Organ, und Steffens Traumehe, Jesa D’Oucks Fest, Brauns Feuersbrunst usw. sind ausgesuchte Probestücke einer sich selbst in der Sucht nach Neuem und Unerhörtem, noch nie Dagewesenem zermarternden Phantasie, die nur lächerliche Albernheiten zu Tage fördert. Einzig Martin Bubers Geschichten vom Berdeczewer und vom Apter sind lesbare nachdenkliche Sächelchen, während Kölwels Herz und Der Arzt von Ernst Weiß wenigstens nicht gänzlich sinnlos sind, wenn sie auch keineswegs auf irgendwelche literarische Bedeutung Anspruch erheben können, und v. Unruhs Stücke Einzelvorfälle aus dem Kriege uns lebendig vor die Seele rücken.

So bleibt nur noch der vierte und letzte Teil des Sammelwerkes zu erwähnen übrig. Er enthält „Ausrufe und Wertungen“. Was darunter, nämlich unter den Wertungen, eigentlich zu verstehen ist, ist mir nicht klar geworden. Diejenigen Beiträge, die man in diesem Sinne auffassen könnte, scheinen nur viel eher die Verneinung alter Worte überhaupt zu enthalten. Vaterland, Ordnung, Sittlichkeit, Religion, alles, was bisher für wertvoll angesehen wurde, wird hier von einigen Gernegroßen, die sich als „Umwerter aller Werte“ fühlen, in den Staub getreten, verhöhnt und zum alten Eisen geworfen. Otto Flake beginnt seinen Aufsatz Souveränität mit den großen Worten: „Kunst kann ich mir nur noch denken, indem ich sie in Frage stelle“, was übrigens die meisten der hier vereinigten Verfasser ihren Beiträgen nach zu urteilen, ganz ebenso gut von sich sagen könnten, und dann legt er los mit einem Ausfall gegen den Naturalismus in der Kunst, überhaupt gegen jede Abschilderung der gegebenen Wirtlichkeit, jedes „Thema“, jede Objektivität in der künstlerischen Darstellungsweise um an deren Stelle die absolute Souveränität des schaffenden Künstlers zu proklamieren. Das wäre dann also wohl die Thronerhebung des Expressionismus ? O nein. Der Expressionismus ist nach Flake nur eine „Annäherung“ an den von ihm gewünschten Zustand der „Ueberführung der Erregungen in Willen“, nur eine Annäherung, aber nicht mehr, „als erste Heroisierung des Illusionistisch-Bürgerlichen“. Flake aber verkündigt die „Umsetzung der Kunst in Wertung“. Er hält es für nötig, zunächst einmal alles überhaupt zu leugnen, um alsdann daran gehen zu können, Werte zu schaffen. Was er sich darunter vorstellt, sagt er leider nicht. Vermutlich ist das nur einfach ein aus Nietzsche entnommenes Schlagwort, bei dem sich diese Herren im übrigen gar nichts denken. Was er und seinesgleichen verkünden, ist im Grunde die Freiheit oder Frechheit des schriftstellerischen Zigeunertums, das sich hier als neue schöpferische Macht empfindet und mit großen Worten um sich wirft, und dazu stimmt die den Romantitern entlehnte Abneigung gegen den „Bürger“, die sich nur hier sozialistisch oder vielmehr anarchistisch aufputzt mit dem Bolschewismus kokettiert und sich dabei sehr erhaben und modern vorkommt. Über den Expressionismus handelt auch Max Picard. Aus dem mystischen Wortgetöse ist soviel zu entnehmen, daß der Expressionismus nicht psychologisch sondern psychoanalytisch sei. Wenn der Verfasser gesagt hätte: pathologisch, so würde es stimmen. In jedem Falle machen die Proben expressionistischer „Kunst“ sowie deren theoretische Verfechter in dem vorliegenden Sammelwerke einen durch und durch pathologischen Eindruck.

Es lohnt sich nicht und ist zu unerfreulich, auf die übrigen ästhetischen, moralischen und sonstigen Aufsätze dieses Jahrbuches für neue Dichtung näher einzugehen. Als einen der schlimmsten Schönredner und Phrasenmacher gibt sich der Herausgeber des Werkes selbst, Alfred Wolkenstein [!], indem er in einem Der menschliche Kämpfer überschriebenen Aufsatz, der mit einem völlig sinnlosen Gedicht beginnt, sich in einer Weise über die neue Dichtung ausläßt, daß dem Leser — übel wird. Nicht viel besser ist Holitschers demütiger Kniefall vor dem „großen, allumfassenden Geist des Sozialismus, dem göttlichen Geist der Erdenmenschheit“. Gustav Landauer, einst eine vielversprechende Kraft, zeigt in seiner Ansprache an die Dichter, daß auch ihm die Revolution völlig den Kopf verdreht hat. Er warnt in bewegten Worten vor dem „Patentsozialismus“, der in festgesetzten Einrichtungen und Methoden alle Ungerechtigkeiten und Widrigkeiten ein für alle Mal abzuschaffen und „verunmöglichen“ soll, um alsdann auch seinerseits für die Dichtung den Gedanken der Revolution um der Revolution willen zu entflammen Der Kunstschriftsteller Hausenstein schreibt über Zweidimensionalität in der Malerei und tritt für seine Lieblinge Cezanne und Marées ein, ohne daß es einem klar wird, woran er mit seinen Ausführungen eigentlich hinaus will. Ganz schlimm ist Kurt Hillers Aufsatz über die Ortsbestimmung des Aktivismus. Hier erfährt man, was der Aktivist nicht ist und was er ist, nämlich vor allem Pazifist und „Welterlöser“, wobei einem nur die Frage aufstößt, wer denn eigentlich nach dem Aktivisten gefragt hat und was den letzteren dazu berechtigt, sich selbst eine so erhabene Bedeutung beizulegen.

Was an allen diesen Beiträgen auffällt und den besonnenen Leser erschrecken muß, ist der vollkommene Mangel an Sachlichkeit und logisch klarer Darlegung der // Gedanken, die das Schlimmste für die Zukunft unseres Schrifttums befürchten lassen. Schrifttums befürchten lassen. Hier scheint Nietzsche geradezu verheerend auf die Gehirne unserer jüngeren Schriftsteller gewirkt zu haben. Keiner vermag sich, wie es scheint, mehr einfach auszudrücken, keiner den Stoff mehr logisch zu gliedern und einfach zu sagen, was er meint. Alles gärt hier chaotisch durcheinander. Ein zügelloser Subjektivismus des Stils und der Gedankenbildung vergewaltigt in rücksichtsloser Weise unsere deutsche Sprache und gefällt sich in stürmischer Entladung der unausgegorensten Gefühle. Man will offenbar gar nicht mehr verstanden werden, man liebt es, den Leser durch angeblichen Tiefsinn zu verblüffen, und hält es für „bedeutend“, verworren zu sein. Und über allem thront die Phrase und läßt die Schreiber selbst vor der gänzlichen Sinnlosigkeit nicht zurückschrecken, wenn sie nur einen „großen“ Anstrich hat und sich tönend dem inneren Ohr des Lesers einschmeichelt.

Dies erste „Jahrbuch der Erneuerung“, so verkündigt uns der Umschlag des Buches, soll das neue künstlerische, geistige Schaffen zur umfassenden Wirkung bringen. „Eine geistige Welt will die Wirklichkeit ihre erneuenden Kräfte spüren lassen und indem sie die Gestalt eines unbegrenzten brüderlichen und kämpfenden Menschen erschafft, führt sie in Umwälzung und Aufbau das Chaos zu einer guten Welt empor. Einstweilen bekommt man

leider nur das „Chaos“ zu spüren und blickt beim Lesen dieser Auslassungen vergeblich nach einem Zeichen aus, das auch nur einen Schimmer von Hoffnung auf eine zukünftige Blüte unserer Kunst erwecken könnte. In jedem Falle ist der künstlerische Eindruck dieses Jahrbuches schlimmer als trostlos. Hoffen wir, daß nach der seelischen Verwindung der Kriegsereignisse und dem Wiedereintritt ruhigerer Zustände in unserem persönlichen und öffentlichen Leben auch die Kunft sich wieder erholen und man uns damit verschonen wird, das unverständliche Gestammel übergeschnappter und unreifer Dichterlinge und die wüsten Ausgeburten einer zerrütteten Phantasie als« künstlerische Großtaten anstaunen zu sollen.

In: Neue Freie Presse, 16.8. 1919, S. 1-3.


[1] Orig. Untertitel: Professor der deutschen Literatur an der technischen Hochschule in Karlsruhe.

Edwin Rollett: W. U. R.

(Utopistisches Kollektivdrama von Karel Capek. – Erstaufführung in der Neuen Wiener Bühne am 10. Oktober 1923)

Es ist eine beliebte, oft wiederholte These der Literaturgeschichte, daß der politische Aufschwung eines Volkes einen, literarischen nach sich zieht. So vieI auch im genießenden Menschen sich dagegen auflehnen mag, das klassische französische Drama mit dem Sonnenkönig, Goethe und Schiller mit Friedrich dem Großen in Beziehung gesetzt zu sehen und das höchste Kunstprodukt so letzten Endes einer Kanonenkugel oder einem Korporalstock, einem wohlgelungenen diplomatischen oder strategischen Schachzug verdanken zu sollen, die Geschichte scheint überall Bestätigungen zu bieten. Goethe selbst hat seine Jugenddichtungen, ja den ganzen Sturm und Drang auf solche Wurzeln zurückgeführt. Und schließlich ist es ja auch gleichgültig, welcher Art die Zusammenhänge sind, ob Ursache ober Zufall diese Erscheinungen bedingt haben, das Faktum bleibt.

Soll man dieser historischen Wahrheit zuliebe das Auftreten der Brüder Čapek und die rasche Steigerung ihres Ruhmes als den Auftakt zu einer neuen Hochblüte der tschechischen Literatur werten? Sind sie es, die dem jungen, so ungemein erstarkten Selbstgefühl dieses noch unverbrauchten Volkes den poetischen Ausdruck zu geben berufen sind? Führen sie einen neuen unbekannten Ton, originale Gedankengänge und eigene Kunstformen in die Weltliteratur ein? Bereichern sie unseren künstlerischen Besitz um ein typisch slawisches, bodenständig tschechisches Element, wie es die großen Nüssen in der zweiten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts getan? Solche Fragen drängen sich bei der ersten Auseinandersetzung mit einem Werke eines der beiden Brüder ganz von selbst auf, die, verhältnismäßig spät, nach einer ganzen Reihe anderer europäischer Hauptstädte gestern auch endlich in Wien erfolgen konnte.

„W. U. R.“ — Verstands Universal Robots — nennt sich ein utopistisches Kollektivdrama. Mit dem zweiten Teil dieses Untertitels ist wohl eine Allgemeingültigkeit in Anspruch genommen, wie sie die moderne Seelenliteratur so ungemein liebt. Der erste benennt Wesen und Art der Dichtung und hängt dem Drama seinen literarischen Familiennamen um.

Die Utopie als solche ist eine verhältnismäßig primitive Dichtungsgattung, ein Verstandesspiel. Jeder Gedanke, aus seinem natürlichen Geltungsbereich heraus bis in die letzten Konsequenzen zu Ende gedacht, führt je nach der gegebenen Richtung und Schattierung entweder ins Utopische oder ins Parodistische. Karel Čapek verfährt mit einer der brennendsten Fragen unserer Zeit nach diesem Rezept. Das Problem der Arbeit und ihres Wertes, das Recht des Arbeiters auf Lebensanspruch und Menschentum, der Kampf der arbeitenden und dirigierenden, der manuellen und der geistigen Menschheit gibt ihm die Unterlage und er führt die Menge seiner Gedanken so weit, bis die Trennung reinlich durchgeführt ist, bis es nur mehr bloß Arbeiter und bloß Denker und Konstrukteure gibt, bis die Menschheit ganz von allem „sozialen Kram“ befreit ist und an ihrer Stelle die Automaten in Menschengestalt, „Verstands Universal Roboters“, alle Arbeit verrichten, Kriege führen und die ganze Last der Erbsünde tragen, während die Menschheit, gefühllos gegen die Produkte ihres Geistes, verwöhnt durch lange Entlastung ein gottähnliches Leben zu führen beginnt und aus Bequemlichkeit sogar sich zu vermehren vergißt.

Aus männlicher Kombination sind die Roboter entstanden, durch reine Geistesarbeit zweckentsprechend vereinfacht und hergerichtet. Gefühllos, geschlechtslos, nur äußerlich als Männer und Weiber zu unterscheiden, innen jedoch bei aller Menschenähnlichkeit alles höheren und sogar der lebenerhaltenden Triebe beraubt. Die Männer, von bloßen Nützlichkeitserwägungen beherrscht, hätten höchstens Steigerung der Arbeitsleistung, Verbesserung des Mechanismus und sparsamere Betriebsbedingungen angestrebt. Das Weib aber, die einzige Frau auf der einsamen Insel, von der aus nach der ganzen Welt Roboter geliefert werden, wird von anderen Plänen geleitet; ihrem Mitleid entspringt die Idee, die Konstruktion der künstlichen Menschen den natürlichen immer mehr und mehr zu nähern, ihnen auch einen Teil dessen zu geben, was den Menschen zum Menschen macht, der Seele.

Eine fürchterliche Katastrophe ist die Folge. Kaum ein paar hundert höher organisierter solcher Lebe-// Wesen sind erzeugt, so bricht die Katastrophe herein und die Weltherrschaft gleitet nach einem furchtbaren Gemetzel aus den Händen der aussterbenden Menschheit in die der Roboter. Auch die Robinsoninsel der Konstrukteure wird entvölkert und damit verschwindet das Geheimnis der Erzeugung solcher Lebewesen.

Ein einziger, der älteste der Direktoren, der nichts von der Herstellung weiß, bleibt übrig. Von ihm nun fordern die neuen Weltbeherrscher, als das große Sterben unter ihnen beginnt, neue Geschöpfe, und er kann es nicht. Trotz Versuchen an lebenden Robotern kommt er nicht hinter das Geheimnis. Zum zweiten Male droht die Welt auszusterben. Da aber ereignet sich das Wunder. In einem jungen Roboterpaare erwacht, was ihnen bisher fremd geblieben — die Liebe.

Das doppelte Weltgericht ist überwunden und zum anderen Mal sollen Menschen die Erde bevölkern. Mit den Worten der Bibel schließt das Drama. Mit einem Ausblick auf ein neues Zeitalter, in dem der Beistand nicht mehr die alleinige Macht haben wird.

„Dann kommt die Zeit, die jetzt vorübergeht,
Die Zeit der Seher wieder und Bigotten.“

So hat vor rund 80 Jahren ein anderer, größerer Dichter seine Kritik am Bestehenden und seine Hoffnungen für die künftige Entwicklung formuliert. In einem Märchendrama, das zufällig gerade mit Böhmen, mit der Urgeschichte des Tschechenvolkes zu tun hat, stehen diese Verse, und es mutet wie eine Bestätigung von Grillparzers Lieblingsgedanken, dem ewigen Gleichbleiben der Welt bei nur äußerem Wechsel der Formen an, daß ein Heutiger diesen Gedankengängen so getreu nachgeht.

Allerdings sind es nur die Gedankengänge. Das Gefühl kommt zu kurz. Die Utopie bleibt in ihren Grenzen als rein verstandesmäßiges Spiel. Die Einrichtungen des Bienenstockes und des Termitenstaates sind auf die Menschheit übertragen. Die scharfe Differenzierung von Arbeitstieren, beziehungsweise Arbeitern und Soldaten, die dem Mitdichter des erfolgreichen Insektenstückes wohl von dorther geläufig ist, hat an dem Drama mitgedichtet. Die Ereignisse und das Fiasko der russischen Revolution, in deren Wechselfällen ein Teil des Tschechenvolkes eine so schwere und bedeutende Rolle gespielt hat, liegen dem Tschechen nahe, näher vielleicht als manchem anderen Europäer. Die stark konstruierte, utopisch phantastische Abenteuerdichtung, die aus vielen Prager Schriftstellern geläufig ist, hat ihren Teil. Georg Kaisers Erfolge, vor allem Gas, sind aus der Arbeit zu erkennen. Schließlich muß darauf verwiesen werden, daß wir vor rund drei Vierteljahren auf derselben Bühne ein anderes Weltuntergangsdrama sehen konnten, das im Ablauf eines Alkes die Uridee dieses Dramas, die Weltkriegstatastrophe mit ganz ungleich größerer poetischer Kraft und Konzentration, mit Verstandesschärfe und Gefühlswucht behandelt: Die letzte Nacht von Karl Kraus.

Wo man die Analyse der Dichtung beginnt, man trifft Verstand, Verstand. Mitzufühlen, mitzuerleben vermag man selten, vielleicht nie, vielleicht nur bei den Bibelworten. Interessant, geistreich, scharfsinnig ist dieses Kollektivdrama zweifellos. Poetisch ist es nicht. Dazu ist die Symbolik zu dick, zu eckig, zu deutlich. Dazu fehlt der Wärmegrad des Herzens, der einer solchen Tragödie notwendig wäre, dazu ist die Konstruktion zu offensichtlich, dazu ist das Stück zu sehr selbst ein literarischer „Roboter“.

Auch die Szenen von theatralischer Stärke ändern diesen Eindruck nicht. Stellen wie der erste Aktschluß und viele Partien des zweiten Aktes, die in einem Drama von ungemeiner, vielleicht tiefer Wirkung sein müßten, bleiben in diesem Zusammenhang Effekt, wenn auch starker und aufregender, aber immerhin, bloß Effekt.

Die Darstellung war über Erwarten. Herr Stahl-Nachbaur als Direktor scharf, schlank und dezidiert, Frau Eis als seine Partnerin graziös und intelligent, Herr Forest als ein Führer der Roboter von jener Eindringlichkeit und Stärke, die äußerste Schlichtheit und Sparsamkeit so oft mit sich führen. Die Darsteller der Direktoren plastisch und gut kontrastierend. Das übrige Ensemble bis zur kleinsten Rolle bei der Sache, geschult und glücklich besetzt. Die Regie zeugte von Routine und Leistungsfähigkeit, aber ebenso von Einfühlungsvermögen und Verständnis und verdient ihren Teil des Premierenerfolges.

In: Wiener Zeitung, 11.10.1923, S. 1-2.

Emil Arnold-Holm: Moderne österreichische Lyrik [Mitterer, Zernatto] (1931)

Die österreichische Literatur erlebt jetzt in den Alpenländern eine wahrhafte Renaissance. Die neueste Erscheinung ist Guido Zernatto, ein junger Dichter, der für seinen ersten Gedichtband bereits einen Literaturpreis erhielt, eine Billinger verwandte Erscheinung. Er hat jetzt im Verlag Wolfgang Jeß, Dresden, einen neuen Gedichtband Gelobt sei alle Kreatur herausgegeben. Man liest und staunt, wieviel schöpferische Kraft es in unserer als so wenig schöpferisch verschrienen Zeit noch gibt, man wird gepackt von der Ursprünglichkeit dieser dichterischen Begabung, von all dem Großen und Schönen, das auf uns einströmt. In Zernattos Gedichten rauscht und braust die Natur, singt alle Kreatur mit zum Herzen dringenden Tönen ihr Lied der Lust und des Leides. Hier ist wieder einmal ein Dichter, fern allen Schlagworten und Modeströmungen, zeitlos und über den Wandel der Stile erhaben, wie die Natur zeitlos und über alles erhaben ist. Welche Naivität und Wärme des Empfindens und wie meisterlich beherrscht ist der lyrische Ausdruck des Empfindens! Zernatto hat den scharfen Blick eines Jägers für die Natur und die weiche Seele eines Dichters. Da sind die Gedichte „Kälbern“, „Herr und Hund“, „Brief einer Schwangeren“, „Am Mais, am Roggen, am Kleefeld vorbei“, „Märzsturm“, „Heimfahrt in den Abend“, „Wenn ich mich nachts von meinem Lager hebe“, „Das Kind“, „Totenklare“, von denen ich „Märzsturm“ zur Probe anführe:

            Jetzt hänget alle Fenster aus,
            jetzt laßt den Märzsturm in das Haus
            und atmet tief! Wie jungen Wein
            trink‘ ihn, wer kann, in sich hinein.
            Die Kinder weinen jetzt im Traum,
            die Alten aber spürens kaum;
            die Kranken sehen fürchterlich
            das Leben und den Tod vor sich.
            Die Weiber stehen auf und geh’n
            jetzt hin und her. Sie bleiben steh’n.
            Das Herz schlägt ihnen viel zu laut,
            wer heute kommt, zahlt keine Maut.
            Heut ist der Märzsturm aufgewacht,
            heut‘ weht das Leben durch die Nacht.
            O hänget alle Fenster aus:
            Das Leben kommt! Laßt es ins Haus!

            Zernatto hat sich mit seinem ersten Gedichtbändchen in die Reihe der großen österreichischen Lyriker gestellt. Es ist etwas in seinen Dichtungen, das unsere Liebe erweckt und ihnen Ewigkeitswert verleiht.

            Erika Mitterer, die fünfundzwanzigjährige Wiener Dichterin, hat durch ihren ersten Gedichtband Der heilige Tag bereits Aufsehen erregt. Nun ist jetzt wieder ein Gedichtband von ihr erschienen: Dank des Lebens (Verlag Rütten &Loening, Frankfurt am Main). Erika Mitterers Dichtungen sind nicht Frauenlyrik im traditionellen Sinne des Wortes. Weiblich im Gefühl, ist sie in ihrem strengen Willen zur Form gänzlich unfeminin. Sie hat etwas von männlicher Strenge und männlicher Zucht. Sie erinnert – ein wenig allzusehr – an Rilke, an den späten, hymnischen Rilke der „Sonette des Orpheus“. Hoffentlich emanzipiert sie sich von ihrem großen Vorbild und findet den Weg zu einer eigenen Form. Denn Erika Mitterer ist eine ungewöhnliche Begabung. Sie erweckt große Hoffnungen und gibt auch schon große Erfüllungen. Tiefe und Leidenschaft des Empfindens finden bei ihr Ausdruck in Versen, die voll reifer Formkultur sind. Eine hingebungsvolle Frauenseele singt und wir lauschen gern dem holden Klang dieser Stimme. Eine tief und schmerzlich erlebte Liebe ist das Thema ihrer meisten Dichtungen, von denen wir zur Probe das folgende reizende Gedicht anführen:

                        Sei nicht müde, mein Kind,
                        weil ich nicht bin.
                        Es kommt ja der Wind
                        noch zu dir hin.
                        Er bringt dir Fühlung mit
                        von allen Fernen;
                        vom Herzen reicht sein Schritt
                        bis zu den Sternen.
                        Sei nicht müde, mein Kind,
                        ich war dir zu nah.
                        Sieh, ich bin im Wind
                        immer da.

In: Neues Wiener Journal, 5.9.1931, S. 6.