Edwin Rollett: W. U. R.

(Utopistisches Kollektivdrama von Karel Capek. – Erstaufführung in der Neuen Wiener Bühne am 10. Oktober 1923)

Es ist eine beliebte, oft wiederholte These der Literaturgeschichte, daß der politische Aufschwung eines Volkes einen, literarischen nach sich zieht. So vieI auch im genießenden Menschen sich dagegen auflehnen mag, das klassische französische Drama mit dem Sonnenkönig, Goethe und Schiller mit Friedrich dem Großen in Beziehung gesetzt zu sehen und das höchste Kunstprodukt so letzten Endes einer Kanonenkugel oder einem Korporalstock, einem wohlgelungenen diplomatischen oder strategischen Schachzug verdanken zu sollen, die Geschichte scheint überall Bestätigungen zu bieten. Goethe selbst hat seine Jugenddichtungen, ja den ganzen Sturm und Drang auf solche Wurzeln zurückgeführt. Und schließlich ist es ja auch gleichgültig, welcher Art die Zusammenhänge sind, ob Ursache ober Zufall diese Erscheinungen bedingt haben, das Faktum bleibt.

Soll man dieser historischen Wahrheit zuliebe das Auftreten der Brüder Čapek und die rasche Steigerung ihres Ruhmes als den Auftakt zu einer neuen Hochblüte der tschechischen Literatur werten? Sind sie es, die dem jungen, so ungemein erstarkten Selbstgefühl dieses noch unverbrauchten Volkes den poetischen Ausdruck zu geben berufen sind? Führen sie einen neuen unbekannten Ton, originale Gedankengänge und eigene Kunstformen in die Weltliteratur ein? Bereichern sie unseren künstlerischen Besitz um ein typisch slawisches, bodenständig tschechisches Element, wie es die großen Nüssen in der zweiten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts getan? Solche Fragen drängen sich bei der ersten Auseinandersetzung mit einem Werke eines der beiden Brüder ganz von selbst auf, die, verhältnismäßig spät, nach einer ganzen Reihe anderer europäischer Hauptstädte gestern auch endlich in Wien erfolgen konnte.

„W. U. R.“ — Verstands Universal Robots — nennt sich ein utopistisches Kollektivdrama. Mit dem zweiten Teil dieses Untertitels ist wohl eine Allgemeingültigkeit in Anspruch genommen, wie sie die moderne Seelenliteratur so ungemein liebt. Der erste benennt Wesen und Art der Dichtung und hängt dem Drama seinen literarischen Familiennamen um.

Die Utopie als solche ist eine verhältnismäßig primitive Dichtungsgattung, ein Verstandesspiel. Jeder Gedanke, aus seinem natürlichen Geltungsbereich heraus bis in die letzten Konsequenzen zu Ende gedacht, führt je nach der gegebenen Richtung und Schattierung entweder ins Utopische oder ins Parodistische. Karel Čapek verfährt mit einer der brennendsten Fragen unserer Zeit nach diesem Rezept. Das Problem der Arbeit und ihres Wertes, das Recht des Arbeiters auf Lebensanspruch und Menschentum, der Kampf der arbeitenden und dirigierenden, der manuellen und der geistigen Menschheit gibt ihm die Unterlage und er führt die Menge seiner Gedanken so weit, bis die Trennung reinlich durchgeführt ist, bis es nur mehr bloß Arbeiter und bloß Denker und Konstrukteure gibt, bis die Menschheit ganz von allem „sozialen Kram“ befreit ist und an ihrer Stelle die Automaten in Menschengestalt, „Verstands Universal Roboters“, alle Arbeit verrichten, Kriege führen und die ganze Last der Erbsünde tragen, während die Menschheit, gefühllos gegen die Produkte ihres Geistes, verwöhnt durch lange Entlastung ein gottähnliches Leben zu führen beginnt und aus Bequemlichkeit sogar sich zu vermehren vergißt.

Aus männlicher Kombination sind die Roboter entstanden, durch reine Geistesarbeit zweckentsprechend vereinfacht und hergerichtet. Gefühllos, geschlechtslos, nur äußerlich als Männer und Weiber zu unterscheiden, innen jedoch bei aller Menschenähnlichkeit alles höheren und sogar der lebenerhaltenden Triebe beraubt. Die Männer, von bloßen Nützlichkeitserwägungen beherrscht, hätten höchstens Steigerung der Arbeitsleistung, Verbesserung des Mechanismus und sparsamere Betriebsbedingungen angestrebt. Das Weib aber, die einzige Frau auf der einsamen Insel, von der aus nach der ganzen Welt Roboter geliefert werden, wird von anderen Plänen geleitet; ihrem Mitleid entspringt die Idee, die Konstruktion der künstlichen Menschen den natürlichen immer mehr und mehr zu nähern, ihnen auch einen Teil dessen zu geben, was den Menschen zum Menschen macht, der Seele.

Eine fürchterliche Katastrophe ist die Folge. Kaum ein paar hundert höher organisierter solcher Lebe-// Wesen sind erzeugt, so bricht die Katastrophe herein und die Weltherrschaft gleitet nach einem furchtbaren Gemetzel aus den Händen der aussterbenden Menschheit in die der Roboter. Auch die Robinsoninsel der Konstrukteure wird entvölkert und damit verschwindet das Geheimnis der Erzeugung solcher Lebewesen.

Ein einziger, der älteste der Direktoren, der nichts von der Herstellung weiß, bleibt übrig. Von ihm nun fordern die neuen Weltbeherrscher, als das große Sterben unter ihnen beginnt, neue Geschöpfe, und er kann es nicht. Trotz Versuchen an lebenden Robotern kommt er nicht hinter das Geheimnis. Zum zweiten Male droht die Welt auszusterben. Da aber ereignet sich das Wunder. In einem jungen Roboterpaare erwacht, was ihnen bisher fremd geblieben — die Liebe.

Das doppelte Weltgericht ist überwunden und zum anderen Mal sollen Menschen die Erde bevölkern. Mit den Worten der Bibel schließt das Drama. Mit einem Ausblick auf ein neues Zeitalter, in dem der Beistand nicht mehr die alleinige Macht haben wird.

„Dann kommt die Zeit, die jetzt vorübergeht,
Die Zeit der Seher wieder und Bigotten.“

So hat vor rund 80 Jahren ein anderer, größerer Dichter seine Kritik am Bestehenden und seine Hoffnungen für die künftige Entwicklung formuliert. In einem Märchendrama, das zufällig gerade mit Böhmen, mit der Urgeschichte des Tschechenvolkes zu tun hat, stehen diese Verse, und es mutet wie eine Bestätigung von Grillparzers Lieblingsgedanken, dem ewigen Gleichbleiben der Welt bei nur äußerem Wechsel der Formen an, daß ein Heutiger diesen Gedankengängen so getreu nachgeht.

Allerdings sind es nur die Gedankengänge. Das Gefühl kommt zu kurz. Die Utopie bleibt in ihren Grenzen als rein verstandesmäßiges Spiel. Die Einrichtungen des Bienenstockes und des Termitenstaates sind auf die Menschheit übertragen. Die scharfe Differenzierung von Arbeitstieren, beziehungsweise Arbeitern und Soldaten, die dem Mitdichter des erfolgreichen Insektenstückes wohl von dorther geläufig ist, hat an dem Drama mitgedichtet. Die Ereignisse und das Fiasko der russischen Revolution, in deren Wechselfällen ein Teil des Tschechenvolkes eine so schwere und bedeutende Rolle gespielt hat, liegen dem Tschechen nahe, näher vielleicht als manchem anderen Europäer. Die stark konstruierte, utopisch phantastische Abenteuerdichtung, die aus vielen Prager Schriftstellern geläufig ist, hat ihren Teil. Georg Kaisers Erfolge, vor allem Gas, sind aus der Arbeit zu erkennen. Schließlich muß darauf verwiesen werden, daß wir vor rund drei Vierteljahren auf derselben Bühne ein anderes Weltuntergangsdrama sehen konnten, das im Ablauf eines Alkes die Uridee dieses Dramas, die Weltkriegstatastrophe mit ganz ungleich größerer poetischer Kraft und Konzentration, mit Verstandesschärfe und Gefühlswucht behandelt: Die letzte Nacht von Karl Kraus.

Wo man die Analyse der Dichtung beginnt, man trifft Verstand, Verstand. Mitzufühlen, mitzuerleben vermag man selten, vielleicht nie, vielleicht nur bei den Bibelworten. Interessant, geistreich, scharfsinnig ist dieses Kollektivdrama zweifellos. Poetisch ist es nicht. Dazu ist die Symbolik zu dick, zu eckig, zu deutlich. Dazu fehlt der Wärmegrad des Herzens, der einer solchen Tragödie notwendig wäre, dazu ist die Konstruktion zu offensichtlich, dazu ist das Stück zu sehr selbst ein literarischer „Roboter“.

Auch die Szenen von theatralischer Stärke ändern diesen Eindruck nicht. Stellen wie der erste Aktschluß und viele Partien des zweiten Aktes, die in einem Drama von ungemeiner, vielleicht tiefer Wirkung sein müßten, bleiben in diesem Zusammenhang Effekt, wenn auch starker und aufregender, aber immerhin, bloß Effekt.

Die Darstellung war über Erwarten. Herr Stahl-Nachbaur als Direktor scharf, schlank und dezidiert, Frau Eis als seine Partnerin graziös und intelligent, Herr Forest als ein Führer der Roboter von jener Eindringlichkeit und Stärke, die äußerste Schlichtheit und Sparsamkeit so oft mit sich führen. Die Darsteller der Direktoren plastisch und gut kontrastierend. Das übrige Ensemble bis zur kleinsten Rolle bei der Sache, geschult und glücklich besetzt. Die Regie zeugte von Routine und Leistungsfähigkeit, aber ebenso von Einfühlungsvermögen und Verständnis und verdient ihren Teil des Premierenerfolges.

In: Wiener Zeitung, 11.10.1923, S. 1-2.

Emil Arnold-Holm: Moderne österreichische Lyrik [Mitterer, Zernatto] (1931)

Die österreichische Literatur erlebt jetzt in den Alpenländern eine wahrhafte Renaissance. Die neueste Erscheinung ist Guido Zernatto, ein junger Dichter, der für seinen ersten Gedichtband bereits einen Literaturpreis erhielt, eine Billinger verwandte Erscheinung. Er hat jetzt im Verlag Wolfgang Jeß, Dresden, einen neuen Gedichtband Gelobt sei alle Kreatur herausgegeben. Man liest und staunt, wieviel schöpferische Kraft es in unserer als so wenig schöpferisch verschrienen Zeit noch gibt, man wird gepackt von der Ursprünglichkeit dieser dichterischen Begabung, von all dem Großen und Schönen, das auf uns einströmt. In Zernattos Gedichten rauscht und braust die Natur, singt alle Kreatur mit zum Herzen dringenden Tönen ihr Lied der Lust und des Leides. Hier ist wieder einmal ein Dichter, fern allen Schlagworten und Modeströmungen, zeitlos und über den Wandel der Stile erhaben, wie die Natur zeitlos und über alles erhaben ist. Welche Naivität und Wärme des Empfindens und wie meisterlich beherrscht ist der lyrische Ausdruck des Empfindens! Zernatto hat den scharfen Blick eines Jägers für die Natur und die weiche Seele eines Dichters. Da sind die Gedichte „Kälbern“, „Herr und Hund“, „Brief einer Schwangeren“, „Am Mais, am Roggen, am Kleefeld vorbei“, „Märzsturm“, „Heimfahrt in den Abend“, „Wenn ich mich nachts von meinem Lager hebe“, „Das Kind“, „Totenklare“, von denen ich „Märzsturm“ zur Probe anführe:

            Jetzt hänget alle Fenster aus,
            jetzt laßt den Märzsturm in das Haus
            und atmet tief! Wie jungen Wein
            trink‘ ihn, wer kann, in sich hinein.
            Die Kinder weinen jetzt im Traum,
            die Alten aber spürens kaum;
            die Kranken sehen fürchterlich
            das Leben und den Tod vor sich.
            Die Weiber stehen auf und geh’n
            jetzt hin und her. Sie bleiben steh’n.
            Das Herz schlägt ihnen viel zu laut,
            wer heute kommt, zahlt keine Maut.
            Heut ist der Märzsturm aufgewacht,
            heut‘ weht das Leben durch die Nacht.
            O hänget alle Fenster aus:
            Das Leben kommt! Laßt es ins Haus!

            Zernatto hat sich mit seinem ersten Gedichtbändchen in die Reihe der großen österreichischen Lyriker gestellt. Es ist etwas in seinen Dichtungen, das unsere Liebe erweckt und ihnen Ewigkeitswert verleiht.

            Erika Mitterer, die fünfundzwanzigjährige Wiener Dichterin, hat durch ihren ersten Gedichtband Der heilige Tag bereits Aufsehen erregt. Nun ist jetzt wieder ein Gedichtband von ihr erschienen: Dank des Lebens (Verlag Rütten &Loening, Frankfurt am Main). Erika Mitterers Dichtungen sind nicht Frauenlyrik im traditionellen Sinne des Wortes. Weiblich im Gefühl, ist sie in ihrem strengen Willen zur Form gänzlich unfeminin. Sie hat etwas von männlicher Strenge und männlicher Zucht. Sie erinnert – ein wenig allzusehr – an Rilke, an den späten, hymnischen Rilke der „Sonette des Orpheus“. Hoffentlich emanzipiert sie sich von ihrem großen Vorbild und findet den Weg zu einer eigenen Form. Denn Erika Mitterer ist eine ungewöhnliche Begabung. Sie erweckt große Hoffnungen und gibt auch schon große Erfüllungen. Tiefe und Leidenschaft des Empfindens finden bei ihr Ausdruck in Versen, die voll reifer Formkultur sind. Eine hingebungsvolle Frauenseele singt und wir lauschen gern dem holden Klang dieser Stimme. Eine tief und schmerzlich erlebte Liebe ist das Thema ihrer meisten Dichtungen, von denen wir zur Probe das folgende reizende Gedicht anführen:

                        Sei nicht müde, mein Kind,
                        weil ich nicht bin.
                        Es kommt ja der Wind
                        noch zu dir hin.
                        Er bringt dir Fühlung mit
                        von allen Fernen;
                        vom Herzen reicht sein Schritt
                        bis zu den Sternen.
                        Sei nicht müde, mein Kind,
                        ich war dir zu nah.
                        Sieh, ich bin im Wind
                        immer da.

In: Neues Wiener Journal, 5.9.1931, S. 6.

Paul Stefan: Rasch noch einige Bücher (1927)

Rasch, das ist noch vor Weihnachten. Es sind vielleicht keine Weihnachtsbücher – die gibt es ja wohl auch gar nicht. Aber es sind Bücher für jedermann, und vor allem gute, sehr gute Bücher. 

Ein merkwürdiger Roman, ein Buch, das alle unsere Ansichten über Amerika und amerikanische Literatur zu erschüttern imstande ist. Das ist die Amerikanische Tragödie von Theodor Dreiser. Dreiser ist deutscher Herkunft, aber der rechte Amerikaner und sein Buch ist selbstverständlich auch englisch geschrieben, jetzt aber in einer guten deutschen Übersetzung bei Zsolnay erschienen. Diese amerikanische Tragödie ist eine richtige Tragödie, nicht minder bedeutungsvoll, als die Schilderung der Schicksale Raskolnikows. Aber hier ist eine Tragödie, wie sie in ihrem erregenden Moment, in ihrer Katastrophe nur in Amerika Ereignis werden konnte. Ein Roman von über tausend Seiten erzählt das Leben und den Tod des jungen Clyde Griffith, dessen Eltern als religiöse Prediger in den Straßen der amerikanischen Provinz umherziehen. Dies ist überhaupt ein Provinzbuch, und so gibt es noch europäische Vergleichsmöglichkeiten, gibt es auch überraschend viele deutsche Familiennamen. Clyde lernt als Boy in einem Hotel die Sitten und den Luxus der großen Welt kennen, gerät dann als Arbeiter, später als Aufseher in die Fabrik seines reichen und angesehenen Onkels; schon winkt ihm die Hand einer reichen Erbin dieser Industriegesellschaft, da wird seine Geliebte, ein entzückendes Mädchen aus der Fabrik, guter Hoffnung. Man sucht die Folgen zu verhindern, aber da es nicht gelingen will, lockt der junge Mann das Mädchen im Ruderboot an eine entlegene Stelle im Seengebiet; er wollte sie töten, aber sie stürzt von selbst ins Wasser. Alsbald kommt die Tat auf und ein ehrgeiziger Staatsanwalt, der um seine Stelle kämpft, leistet sein Probestück, indem er bei den Geschworenen ein Todesurteil durchsetzt. Nun kämpft Clydes Mutter in allen religiösen Gemeinden verzweifelt um die Kosten eines Wiederaufnahmeverfahrens. Aber der Gouverneur lehnt einen neuen Prozeß ab und Clyde muß auf den elektrischen Stuhl. Keinen Augenblick verläßt den Autor, der ein ganz großer Dichter ist, seine psychologische Meisterschaft; Schuld und Sühne werden herzbewegend gedeutet. Furchtbar, aber auch großartig sind die Szenen im „Todeshaus“, etwa wenn der elektrische Lichtstrom schwächer wird, weil der Kraftstrom gerade einen tötet. Ein amerikanischer Dostojewsky hätte es nicht besser machen können. 

So jung Werfel ist – schon erscheinen (bei Zsolnay) seine Gesammelten Werke. Zunächst die Gedichte, die seinen Ruhm begründet haben, alle die Sammlungen, wie „Weltfreund“, „Einander“, „Wir sind“, „Gerichtstag“ und viel Neues in einem einzigen starken Band. Der ist nun ein europäisches Dokument, in Bruchstücken längst in viele fremde Sprachen übersetzt, in alle Literaturgeschichten aufgenommen. Was uns Werfel so wert macht, ist nicht nur seine lyrische Gewalt, nicht nur der klassische Ausdruck des Zeitgefühls, sondern insbesondere die starke, bezwingende Menschlichkeit, die aus jeder Zeile, jedem Vers dieses gütigen, vornehmen und doch um jeden Einzelnen werbenden Dichters spricht. Eine Sammlung seiner Gedichte, die übrigens mit höchster Kunst angeordnet und durchgeführt ist, war notwendig und ist auf das herzlichste zu begrüßen. 

Der berühmteste Dichter der Generation vor Werfel, Arthur Schnitzler, gibt im Wiener Phaidon-Verlag ein Buch der Sprüche und Bedenken heraus. Es sind prachtvolle Aphorismen, die nicht nur den Meister der Sprache, sondern auch einen unerbittlichen und doch liebevollen Denker zeigen. Die Titel einzelner Abschnitte wie „Schicksal und Wille“, „Verantwortung und Gewissen“, „Wunder und Gesetze“, zeigen allein schon welche Fülle dieser schmale, aber wahrhaft bedeutende Band birgt. Wenn uns Schnitzler noch näher gebracht werden könnte, durch dieses Buch würde es geschehen. 

Endlich ein Bilderbuch, ein Parallelband zu der reizenden Sammlung Wien in Bildern, die hier angezeigt wurde. Diesmal hat der Verlag Dr. Hans Epstein in Wien „Venedig in Bildern“ mit nicht minderem Glück und Geschick für die Erinnerung festgehalten. Es ist ja die uns nächste und wohl auch liebste italienische Stadt, die Stadt, in der sich jeder Wiener noch ein wenig heimisch fühlt. Und jedenfalls ist dieses neue und billige Bilderbuch vollständig; es läßt weder die bekannten Schönheiten, noch die verborgenen Winkel vermissen. 

In: Die Stunde, 24.12.1927, S. 6.

Ernst Lothar: Unterhaltungen über die Bücher des Jahres

Der Bücherfreund (zum Kritiker): Sie haben mir im vorigen Dezember mit Ihrer kritischen Bilanz den literarischen Weihnachtskauf erleichtert. Welche Bücher empfehlen Sie heuer? Wenn man den Umschlagschleifen glauben darf, hat es nie so viele Meisterwerke gegeben wie in diesem Jahr!

Der völkische Beobachter: Was mich anlangt, so hat mich Ihre vorjährige diesbezügliche Auswahl nicht begeistert! Von welcher Einstellung gehen Sie eigentlich aus? Ist für Sie die Weltanschauung des Schriftstellers maßgebend oder welche sonstigen Belange?

Der Kritiker: Wenn Sie mir erlauben, das Wort „Einstellung“ beiseite zu lassen und auch auf „Belange“ zu verzichten, dann sage ich Ihnen gern, daß meiner Beurteilung dreierlei zugrunde liegt: der Geist, die Gestalt, die Form. Ein Buch, das mich anzieht, muß geistig sein, was nicht etwa ›geistreich‹ oder gar spitzfindig bedeutet, sondern: denkerhaft. Das Wort von den „Dichtern und Denkern“ ist mir daher unverständlich. Kein wahrer Dichter, der nicht Denker sein und das Gebilde hiedurch aus dem allgemeinen Flachland zum geistigen Niveau erheben müßte. Im Punkte der Gestalt aber stelle ich (Jakob Wassermann hierin beipflichtend) die Forderung, daß alles Dargestellte Leib zu werden hab, nichts neblig, flächig oder linear, alles dreidimensional und atembar (atmosphärisch) sei. Die Form liegt für mich –

Der völkische Beobachter: – selbstredend im edlen Sprachgewand?

Der Kritiker: Du lieber Gott! Verlangen wir vom Sprachgewand weniger und mehr. Mehr: daß des passe. Weniger: daß es sauber sei, das heißt, daß der anerkannte deutsche Schriftsteller Deutsch könne.

Der völkische Beobachter: Sie werden doch nicht behaupten wollen, daß es daran fehlt!

Der Kritiker: O ja, das behaupte ich. Ich behaupte sogar, daß die Zahl der deutschen Schriftsteller, die fehlerfrei Deutsch schreiben, lächerlich gering ist.

Der völkische Beobachter: Das müßten Sie erst beweisen!

Der Kritiker: Kinderleicht! Achten Sie doch, bitte, darauf, wie oft Sie nach dem Komparativ statt des richtigen „als“ das falsche „wie“ finden; wie oft man Sie falsch einlädt, „an“ oder „auf“ etwas zu vergessen; wie oft man Ihnen dank „eines“ Fehlurteils  einen Stümper zum Stilisten fälscht, was nur (weil „dank“ den Dativ verlangt) dank dem allgemeinen Schlechtdeutschkönnen möglich wird. Erklären Ihnen die Schreiber beständig, sie „brauchen nicht zu sagen“, während ich nicht zu sagen brauche, daß sie bei so schlechtem Deutsch nichts zu sagen hätten? Auch die unterschiedslose Gleichsetzung von „trotzdem“ und „obwohl“ ist gang und gäbe. Daß Leute, die solche groben Fehler machen, nicht einmal ahnen, wie sehr die ihnen im Sprachgefühl steckende Wendung „solche grobe“ dem Deutschen widerspricht, muß ich Ihnen kaum versichern. Die gröberen// Schnitzer, z.B. die epidemische, völkische Verwechslung von „nachdem“ mit „weil“, und die feineren, wie etwa den Fehlgebrauch der Tempora und des Konjunktivs mag ich gar nicht in den Bereich der Erörterung ziehen, weil man dies sonst in den Kreisen, die „das“ Bereich schreiben, für einen Schnitzer hielte. Grundbedingung der Form: das Sprachgesetz. Darüber hinaus hat die Form zu sein: fettlos, geschmeidig, prägnant.

Der völkische Beobachter: Das sind Haarspaltereien! Auf so etwas kann man vergessen, wenn das sonstige Diesbezügliche befriedigt! Kommen Sie jetzt zur Sache.

Der Kritiker: Ich bin bei nichts anderem. Denn ich versuchte, Ihnen klar zu machen, daß die Forderung: Geist, Gestalt, Form sehr hoch und daß (wenigstens soweit ich in Frage komme) davon nichts abzuhandeln ist. Der Schriftsteller, der nicht einmal weiß, was zu seinem Handwerkszeug gehört oder der dieses Handwerkszeug nicht dauernd blank und jeden Satz für eine Verantwortung hält, scheidet für mich aus. Hieraus ergibt sich die Sparsamkeit meiner Auswahl. Sie werden diese Sparsamkeit vermutlich Unvollständigkeit oder Voreingenommenheit nennen.

Der Bücherfreund: Treffen Sie sie immerhin. Je höher der Anspruch, desto geringer das Risiko des Käufers!

Der Kritiker: Ich stelle diesmal die erzählenden Kriegsbücher an die Spitze, für welche die Zeit und das träge Gedächtnis reif wurde.

Der völkische Beobachter: Sie werden hoffentlich nicht dem Herrn Remarque kommen, der mir und allen

Der Kritiker: – mißliebig ist, denen die ganze Richtung nicht paßt? Allen, die „gern dabei“ gewesen sind? Das trifft wohl auch für Sie zu?

Der völkische Beobachter: Voll und ganz.

Der Kritiker: Der Welterfolg von Remarque (und übrigens auch von Ludwig Renns Krieg) ist jenseits aller Parteinahme: hier hat Europa entschieden. Doch räume ich Ihnen ein, daß insbesondere bei Remarque der Wert des Tatsächlichen den des Gestalterischen übertrifft: es ist keine Dichtung, will auch keine sein, Dem Dichterischen näher kommt A.M. Frey mit seinem Feldsanitätsroman „Die Pflasterkästen“ (Kiepenheuer); ganz nahe aber der hier unbekannte Paul Alverdes mit seiner Erzählung „Die Pfeiferstube“ (Rütten und Löning): Vier Soldaten liegen im selben Lazarettraum; jeder mit einem Kehlschuß, jeder mit einer Kanüle, weshalb man sie die Pfeifer nennt. Erlebnis, von tragischer Heiterkeit überschimmert, macht die Katastrophenstubenluft atembar und rein. Von der Front in die malträtierten Städte führt Alfred Polgars „Hinterland“ (Rowohlt); die unheimliche Zeit in einem Spiegel von unheimlicher Schärfe aufgefangen. Mehr an „Großer Zeit“-Lektüre mag dem überfütterten Magen abträglich sein.

Der Bücherfreund: Und die bedeutenden Romane dieses Jahres?

Der völkische Beobachter: Deutsche, respektive heimische Romane!

Der Kritiker: Einverstanden. Ich will diesmal ausschließlich von der deutschen Hervorbringung sprechen, weil ich überzeugt bin, daß das rapid um sich greifende Übersetzergeschäft, das sich der fremden Produktion wahllos bemächtigt und (oft um der Fremdheit willen) Beachtung findet, auf das normale Maß zurückgeführt werden muß: auf die Welt- und die europäischen Erzeugnisse. Mittelware erzeugen wir selbst übergenug… Unter den deutschen Romanen dieses Jahres aber halte ich Alfred Döblins Berlin Alexanderplatz (S. Fischer) für den bedeutendsten. Hier wird die Existenz eines simplen Franz Biberkopf, der auf dem Alexanderplatz zu Berlin als Gassenhändler Posto saß, Punkt für Punkt geschildert. Genial geschildert. Ehe er herkam, um Pfennigware zu verkaufen, befand er sich im Strafhaus, nun aber will er’s gut machen, ein anständiger Kerl werden. Glückt das von heute auf morgen? Wird ethische Theorie praktisch honoriert? Armseliger Eckensteher Biberkopf! Berlin frißt dich auf. Keiner hat Berlin bisher mit solchem harten Griff gepackt und in ein Buch geschleudert. Da ist die Kolossalstadt mit ihren Hintergründen, mit ihren Abgründen. So halt, wie sie ist: Unerhörte Kunstleistung eines oft fehlgegangenen Dichters. Auf Franz Werfels Barbara (Zsolnay) und ihren österreichisch-dokumentarischen Wert habe ich vor kurzem hingewiesen. Auch Leonhard Franks Bruder und Schwester (Insel) sollte man lesen. Das Buch, das heikle Motiv der Geschwisterliebe gestaltend, zeigt alle Vorzüge des in Wien nicht genug geschätzten Dichters: die Vehemenz und Zartheit des Gefühls; die Reinheit und Reife der barmherzigen Menschenbetrachtung; den Mut zum Ungeschminkten, das trotzdem keusch bleibt. René Schickele hat mit dem Roman „Symphonie für Jazz“ (S. Fischer) ein Heute-Thema geistig bewältigt und faszinierend dargestellt; Klaus Mann in „Alexander“ (S. Fischer) eine historische Figur mit Laune, Leichtigkeit (nicht überall mit Kraft) vergegenwärtigt, ihr Utopisches sinnbildlich übersteigernd; Heinrich Eduard Jacob in „Blut und Zelluloid“ (Rowohlt) seltene stilistische Anmut an einen parteilos und durchaus geistig-dichterisch geformten Parteienstoff gewandt. Von Romanen nenne ich noch: Robert Neumann: Sintflut (Engelhorn); Joseph Roth: Rechts und Links (Kiepenheuer); Arnold Ulitz: „Aufruhr der Kinder“ (Propyläen), Hans Schoharczewer: Menschen nach dem Krieg (Zsolnay); Béla Balazs: Zwei gehen in die Welt (Rütten und Löning). Und an Novellen: Heinrich Manns Sie sind jung (Zsolnay): Quer- und Tiefschnitt des hellsichtigsten geistigen Sezierens der Generationen; Bruno Franks „Der Magier“ (Rowohlt): souverän vorgetragene, typisch gedeutete Max Reinhardt-Geschichte. Dann: Wilhelm Speyer: Sonderlinge (Rowohlt): zwei junge Autoren, beide fähig: Hermann Kesten: Die Liebesehe (Kiepenheuer); Oskar Walter Cisek: Die Tartarin (Enoch). Endlich Felix Brauns Die Heilung der Kinder (Speidel) und Marieluise Fleißers wesentliche Kurzgeschichten: Ein Pfund Orangen (Kiepenheuer).

Der völkische Beobachter: Wie steht es mit der vaterländischen Lyrik?

Der Kritiker: Es ist freundlich, daß Sie mich darauf aufmerksam machen. Doch fürchte ich, Ihnen hierin nicht ganz zu Gefallen zu sein. Denn nicht so sehr um „vaterländisch“ als um Lyrik handelt es sich. Nicht um Klingklang, sondern um Gloria! Um jene ewige Visionswelt der Gedichte, die aus den Abgründen des Profits, der inneren Armseligkeit, des reklametrommelnden Betriebs und des Bankerotts der Treiber inselhaft emporsteigt.

Der Bücherfreund: Ist es nicht merkwürdig, daß sich noch immer Menschen finden, die Gedichte machen! Gedichte werden doch nicht gekauft?

Der Kritiker: Sie haben recht. Es ist merkwürdig. Es ist sogar bewunderungswürdig, daß es wieder Menschen gibt, die Ahnungen zu Gedichten werden lassen. Sonderbare Leute. Ihre Augen taugen nichts: sie sind zu hellsichtig. Ihr Gehör taugt nichts; sie hören ja nicht einmal, daß man brüllen muß, damit man vernehmlich sei. Denken Sie etwa an das Buch der Gedichte von Anton Wildgans (Staackmann): Ein herrliches Buch! Auch Rudolf G. Bindings „Ausgewählte und Neue Gedichte“ (Rütten und Löning) müßte man besitzen. Nicht nachdrücklich genug kann ich die Aufmerksamkeit auf diesen edlen Dichter lenken, der hierzulande ungeachtet seiner sechzig Jahre fast unbemerkt blieb: ein Prosakünstler ersten Ranges (ich kenne kaum eine schönere Lebensbeschreibung als sein „Erlebtes Leben“), ein Verskünstler von magischer, weil visionärer Wortmacht. Dann liegen Hermann Hesses bitter-zarte, erlittene Gedichte Trost der Nacht vor (S. Fischer): wortgewordene Seele. Absoluter Gegensatz dazu: Walter Mehrings Lieder und Chansons (S. Fischer), die man als Kulturgeschichte des Couplets ansprechen kann. Die Mitte zwischen Seele und Brettel hält der junge Österreicher Victor Wittner, dessen „Mann zwischen Spiegel und Fenster“ (Zsolnay) seinen Standort richtig wählt: er sieht die Zeit und das Zeitlose, den Körper und doch auch den Körperwahn. Hier spricht ein echtes Talent, und, was entscheidet, seine eigene Sprache.

Der Bücherfreund: Gibt es nicht neue Bücher, die jedem, ohne Unterschied der ästhetischen Forderung, gefallen?

Der Kritiker: Jawohl. Es gibt die Bücher von Paul Eipper. Seiner berühmt gewordenen Sammlung Tiere sehen Dich an hat er (bei Dietrich Reimer) Menschenkinder und jüngst Tierkinder folgen lassen: dem Holdesten, Kind und Tier, mit entzückenden Bildern, mit feinen, fühlenden Worten alle Bezauberung und Holdheit wahrend.

Der Bücherfreund: Wie steht es mit den Biographien? So viel ich weiß, ist es Emil Ludwig, der hier Schule gemacht hat?

Der Kritiker: Ludwig hat diesmal einen (Rowohlt) auf den Markt gebracht. Höher stelle ich Jakob Wassermanns Michelangelo, Christoph Columbus“(S. Fischer) als grandiose Schilderung und Deutung. Stefan Zweigs Joseph Fouché (Insel), Otto Flakes Ulrich von Hutten (S. Fischer) sind desgleichen porträtierende Leistungen von höchster Intensität der Farbe und des durchschauenden bildnerischen Blicks. Annette Kolb unternahm einen geglückten Versuch über Briand (Rowohlt), Rudolf Olden errichtete mit Stresemann (Rowohlt) ein literarisches Denkmal, das Dauer haben wird. In diesem Zusammenhang: Ernst Heilborns durch Objektivität und Urteil ausgezeichnetes kulturpsychologisches Werk „Zwischen zwei Revolutionen“ (Otto Elsner), René Fülöp-Millers „Macht und Geheimnis der Jesuiten“ (Grethlein), das verschwenderisch viel Material fesselnd formuliert. Zum Schluß ein paar grundsätzliche Worte über Ernst Glaesers „Fazit“ (Enoch), eine Auswahl von Zeitungsaufsätzen verschiedener Autoren: Das Gesammelte ist zum größten Teil vorzüglich, dagegen die (von vielen geteilte) Meinung des Herausgebers: „Bericht“ sei die Stilforderung an den heutigen Schriftsteller, in dieser Ausschließlichkeit unhaltbar. Darüber wird bei Gelegenheit mehr zu sagen sein, weil es ein tiefgehender Irrtum ist. Für heute nur so viel, daß es zwar dem Journalisten genügen müßte, „zu berichten“, nicht aber dem Schriftsteller, der immer zu berichten, doch das Berichtete auch immer zu gestalten hat. Ungestalteter Bericht bleibt Reportage. Sie hat mit Kunst nichts zu schaffen, während der wahre Schriftsteller (auch wenn er über Schotter schreibt) unaufhörlich an sie gebunden bleibt. Mithin bedeutet zwar die Abmagerung wilder Reportage zum Bericht eine notwendige Gewichtszunahme der Zeitungsgeltung. Doch die Aufplusterung des Berichts zur schriftstellerischen Sendung wäre die Schwindsucht des Gestaltertums.

Der völkische Beobachter: Sie sind schon fertig? Und man hat mir gesagt, daß heuer etwa 3000 neue Bücher erschienen sind! Wie viele haben Sie da ausgelassen!

Der Kritiker: 2966. Ich sagte Ihnen ja schon: meine höchst subjektive Auswahl erhebt nicht den mindesten Anspruch auf Vollständigkeit. Bloß auf Wert.

In: Neue Freie Presse, 18.12.1929, S. 1-3

Karl Tschuppik: Kriegsliteratur (1929)

Zwei Bücher der letzten Tage, Ludwig Renns ‚Krieg‘ und Erich Maria Remarques ,Im Westen nichts Neues‘, beides Bekenntnisse der Frontgeneration, sind als die erfreuliche Gewähr dafür hingenommen worden, daß das Kriegserlebnis unverlierbar ist und fortwirken müsse, solange diese Generation atmet. Es war eine falsche Annahme, das Schweigen nach dem Kriege aus dem Willen zum Vergessen zu deuten; das vertiefte Erlebnis kommt erst jetzt zu Wort. Das Letzte und Tiefste, was unter Millionen Frontsoldaten empfunden wurde, ist wahrscheinlich noch zu erwarten.

Vor diesen Dokumenten des Krieges, die unvergleichbar sind und nichts mit der Kriegsliteratur früherer Zeit gemein haben, stellt sich als erste die Frage nach ihrer Wirkung ein. Man kann bei der Untersuchung außerachtlassen, ob die Kunst oder die exakte Reportage, ob Remarque oder Renn sich als wirksamer erweisen. Wichtiger ist: wo hört die Wirkung auf? Es ist eine Selbstverständlichkeit, wenn man sagt, daß der, Renn und Remarque gleichgesinnte Teil der Frontgeneration in beiden Bekenntnissen nur deutlicher, klarer wiederfindet, was er selber empfunden. Das Entsetzen, das die Bücher wachrufen, der Schrecken und die Erschütterung vor dem Bild der Hölle verleiten jedoch zu der Ansicht, der Krieg könne nur so und nicht anders erlebt worden sein.

Dem widerspricht die Tatsache, daß es neben der Million stummer Renns und Remarques eine andere Million gibt, die alles erlebt hat, was es an Barbarei, Vertierung, Scheußlichkeit gibt, und dennoch im Innersten unberührt die Hölle verließ. Objektiv liegt dasselbe Erlebnis vor: Morden, Todesangst, Qualen, Versinken ins Tierhafte, Schmutz, Gestank, Krankheit, Hunger, Überanstrengung des Leibes; in der Erinnerung aber stellt sich dieser Million das Erlebte anders dar, als den Renn und Remarque. Man darf sich nicht täuschen: die Bejahung des Krieges ist nicht nur eine Erfindung des Hinterlands; in jener ansehnlichen Masse, die jetzt noch mit Stolz den Stahlhelm als Symbol vor sich trägt, sind hunderttausende ehemaliger Frontsoldaten, mit Augen begabt wie die andern, mit Ohren, Nase und Nerven wie die eines Menschen. Sie haben gemordet und gelitten, Kameraden sterben gesehen, die Pest des Krieges an Kopf und Gliedern gespürt wie die andern. Und dennoch: diese respektable Armee wird auf einen Ruf bereit sein, morgen von neuem in den Krieg zu ziehen. Kann man das bestreiten?

Wie erklärt sich das Phänomen? Welche Motive sind so stark, daß sie das Höllenerlebnis zu glorifizieren und das Menschlichste, Allermenschlichste zum Schweigen zu bringen vermögen? Die Breughel-Bilder vom Kriege versagen hier ebenso wie die pazifistische Polemik, die sich um die Propagierung der Erkenntnis müht, daß der industrialisierte Krieg in seiner allzerstörenden Wirkung ein unzulängliches Mittel geworden ist, dem Feinde den eigenen Willen aufzuzwingen. Der Kriegsenthusiast denkt nicht an das Kriegsende, er denkt an den Krieg. Es berührt ihn nicht, daß der Krieg heute etwas Unabschätzbares, gänzlich Unberechenbares darstellt: dessen Bejahung also sich weder mit realpolitischen Erwägungen, noch mit nationalistischen Argumenten begründen läßt. Woher dann doch die Bejahung? Auch die Psychologie kommt zu keinem Schluß mit ihrer Behauptung, die Gefahr der Kriegsenthusiasten liege in ihrem Mangel an Phantasie. (Die Phantasie als die Fähigkeit gesehen, Erlebtes leibhaft zu rekonstruieren.) Des Rätsels Lösung ist einfacher. Sie führt ins Soziologische.

In unserer Gesellschaftsordnung leben Millionen „zwischen den Klassen“, über deren wahres Gesicht sich bisher alle Soziologen getäuscht haben. Sie sind nicht Bourgeois, nicht Kleinbürger, nicht Proletarier. Es sind Halbgebildete, Intelligenzen mindern Grades, deren Wollen und Können nicht ausreichte, die gewünschte Lebensbahn zu gehen; Unzufriedene, die im Beruf keinen Ersatz für die Kargheit ihres Daseins finden; Untaugliche im bürgerlichen Lebenskampf, die sich zu gut dünken, in die Reihen des Proletariats zu treten. Sie sind je nachdem Schreiber und Unterbeamte, Bureaudiener, Diurnisten, Hilfskräfte in Geschäften, Lehrer, Magazineure, Verkäufer, Agenten, Markenkleber, Aufseher, Türhüter, aber auch Professoren, Hochschullehrer, Ingenieure. Sie kommen von dem großem wirtschaftlichen Aufschwung vor dem Kriege her, der das rasche Emporblühen der Städte förderte, Millionen Existenzen aus ihrem angestammten Erdreich riß und in die großen Städte, in die Intelligenzberufe, in die Kaufmannshäuser, Magazine und Schreibstuben verpflanzte; die Industrialisierung des Lebens hat das ursprüngliche Denken und Fühlen dieser vom Lande stammenden jüngsten Städter verändert. Unsicher in Ihren Instinkten, unzufrieden in einer Ordnung, die augenscheinlich dem Erwerbssinn allein alle Vorteile des Daseins sichert, ihrem Ursprung nach aber zu bürgerlich, als daß sie der sozialen Opposition sich anschlössen, sehnen sie sich nach einem Regime, das ihre Fähigkeiten als die maßgebenden anerkennt.

Sie sind die eigentlichen Träger der militaristischen Ideologie. Denn nur in der Armee fanden sie das Glück, das ihnen im bürgerlichen Leben versagt blieb: über den Mitmenschen gestellt zu werden, einmal kommandieren zu dürfen (und sei es auch nur als Gefreite oder Korporäle). Die Deuter im Soziologischen stehen meist blind vor der Tatsache, daß gerade in dieser zum Dienen verurteilten Mittelschicht der Trieb nach Geltung ebenso stark ist wie in den andern Klassen. Er drückt sich nur, vermöge der anderen Fähigkeiten, anders aus. Nur der deutsche Arbeiter kennt ihn als Person nicht; die Leistung Karl Marxens hat hier wirklich das Wunder bewirkt, den Ehrgeiz des einzelnen in ein Gemeinschaftsideal zu verwandeln. Der unzufriedene Mittelständler, dem eine Erhöhung im bürgerlichen Leben versagt bleibt, konnte sich nur als Gefreiter, als Korporal und Feldwebel auszeichnen. Im Bureau, im Magazin und in der Schreibstube muß er kuschen und gehorchen; in der Kaserne durfte er befehlen. Das ist die psychologische Wurzel der militaristischen Ideologie, der wahre Grund, auf welchem der mittelständische „Heroismus“ wächst.

Der Krieg? Sie wissen es: er bedeutet Bajonettangriff, Todesgefahr, Verlausung, Krätze, Spital, Vegetieren in Kotlöchern, Schweinefraß und Vertierung. Er ist aber die große Zeit, die diesen Heroen die Erhöhung gewährt. Der Herr, der im Frieden kommandierte, muß jetzt seinem Bureaudiener parieren. Der Krieg ist das Avancement der Mediokrität.

Solange diese Wahrheit nicht so exakt dargelegt wird, daß auch die Mediokren die Scham lernen, so lange bleibt jede pazifistische Propaganda vergeblich. Mit den Argumenten der Menschlichkeit ist die Mauer der leeren Gehirne und vergifteten Seelen nicht zu brechen.

In: Der Tag, 10.2.1929, S. 19 bzw.: Die literarische Welt H. 2/1929, S. 1-2.

Oskar Maurus Fontana: Antlitz des Krieges.

             Der Krieg war nach einer kurzen expressionistischen Predigt aus dem Gesichtskreis des deutschen Geistes verwiesen worden. Die einen wollten ihn nicht wahrhaben. Die anderen schämten sich seiner. Die dritten wollten schweigen, vergessen. Man richtete sich auf ‚Frieden‘ ein. Man wollte so tun, als wäre nichts geschehen. Aber je länger dieser Zustand dauerte, desto mehr zeigte sich, daß er erlogen, eine Fiktion war, daß unter seiner Schminke immer das, was zwischen 1914 und 1918 gelebt worden war, durchstieß, durchbrannte. Der Krieg war das Erlebnis aller Heutigen. Sich an ihm vorbeizudrücken, ging nicht mehr. Die Seele konnte und kann nicht genesen, ehe sie sich nicht diesem Erlebnis gestellt, es aus Dumpfheit zur Erkenntnis gebracht und sich damit befreit hat. Das ist der Sinn, daß mit einemmal in der Literatur der Krieg so ‚aktuell‘ geworden ist.

             In dieser Rückwendung zu Schützengräben und Hungerjahren geschieht es, was nicht mehr erwartet worden war: die vom Krieg verschüttete Generation, die Frontgeneration, arbeitet sich aus Schmutz und Lehm und Sand und zerschossenem Unterstand heraus und beginnt zu sprechen.

             Darin sehe ich die große Bedeutung des im Verlag der Frankfurter Societäts-Druckerei erschienenen Berichts Krieg von Ludwig Renn. Er ist einer von denen, die um 1890 geboren, als erste in den Krieg geworfen wurden. Die hatten noch die ganze alte Welt durch Erziehung und Erfahrung in sich aufgenommen – die letzten. Die wenigen, die von ihnen wiederkehrten, fanden nicht mehr zurück, sie waren heimatlos in einer durchaus veränderten Welt, fühlten sich als Deserteure des Todes. Ihrem Gedenken ist Ludwig Renns Buch geweiht, auch wenn davon nirgends die Rede ist. Die toten Kameraden geistern um den Überlebenden. Das gibt seinen Schilderungen das Unheimliche, die Schatten eines Zugs von Gespenstern.

             Dieses Buch in ästhetische Kategorien einordnen zu wollen, ist Hochmut literarischer Orthodoxie. Renn weiß und sagt es, daß ihm für die wichtigsten Dinge, also die seelischen, die Worte fehlen. Er kann nur sagen, was er gesehen hat, nicht mehr, nicht seine Einordnung in den Geist, nicht seine Erlösung durch das Gefühl. Nur das Greifbare, nur das Sichtbare ist bei ihm zu finden. Aber in welchem Maß. Mit welcher Prägnanz des Auges. Mit welcher Grauenhaftigkeit unvermittelter, unverbundener Eindrücke. Gewiß – Renn photographiert nur – seine Schilderungen sind wie ein Bündel nächster, allernächster Kriegsphotographien, aber sich erinnernd und erschaudernd fühlt man: So war es, so war der Angriff, so der Rückzug, so der Schützengraben, so die Verwundeten, so die Leichen, so die Latrinen, so die Führer, so die nicht auf den Frieden, nur noch auf den Todesschuß oder die Verwundung Wartenden, so die hilflose Nähe zu allem Geschehen, das geschah, ohne daß man es verstand, ohne daß man nur das Geringste dazu oder dagegen tun konnte.

             Es ist notwendig, den Krieg, der zuerst nur in der Perspektive des Heeresberichtes, dann des revoltierenden ohnmächtigen Gefühls sichtbar war, zu sehen, nichts als zu sehen: seine alltägliche Existenz wie sein Grauen, seinen Stumpfsinn wie seinen fatalistischen Galgenwitz, seine Zermürbung wie seinen Hunger. Man kann die Dinge erst dann bewältigen, wenn man sich über ihre Existenz klar ist. Diese gibt Ludwig Renns „Krieg“. Ein Kunstwerk ist dieses Buch nicht. Dazu aber wäre nötig, innerlich mit dem Krieg fertig geworden zu sein, ihn seelisch liquidiert zu haben.

             Renn ist nicht so weit, kann nicht so weit sein. Er steckt in seinem Erlebnis wie die Schnecke in ihrem Haus. Nicht er allein, die ganze Frontgeneration. Und daß diese in Renns Bericht enthalten ist, ebenso umfassend und genau wie der Krieg, das gibt ihm dokumentarischen Wert.

             Wenn er das Gefühl einer Leere hat, die sich durch kein Erlebnis aufzufüllen vermag, wenn ihm eine Erkenntnis zu fehlen scheint, die ihm alles erklären könnte, so spricht daraus nicht ein Einzelner, sondern eine ganze Generation. Das Grauenhafte inmitten der Grauenhaftigkeit des Krieges wird klar, daß die im Krieg waren, einen Krieg führten, der sie gar nichts anging, den sie in einer großen Kälte des Nichts-über-sich-selber-Wissens, des Nichts-mit-sich-selber-anfangen-Könnens an sich herankommen ließen wie die Erlösung aus Langeweile. Diese seelenlose Neugier, dieses Fühlen, daß alles hohl sei, einschließlich einem selbst, dieses Unvermögen, irgendwo einen Halt zu finden, alle diese negativen Eigenschaften der Frontgeneration werden von Renn nicht verleugnet, sondern bekannt. Deutlich aber werden auch die politischen Eigenschaften: der Wille, einem Ganzen zu dienen (aber niemand führte ihn), die feine, zarte Reaktion auf kleinste menschliche Regungen, der Geist der Kameradschaft, die mehr aus Verantwortungsbewußtsein als aus Rauflust kommende Tapferkeit, auch auf einem verlorenen Posten, nicht nur des Krieges, auch des Lebens auszuharren, seinen Mann zu stellen. Im Urlaub sieht Renn einmal die Jugendphotographie seines toten Vaters. „Es mußte damals etwas an ihm gewesen sein, was ich an ihm nicht mehr gekannt hatte. Vielleicht hatte er auch hochfahrende Gedanken gehabt wie ich, und hat es eines Tages gefunden, daß wir nicht weiterkommen können.“ Das fand diese Frontgeneration im Krieg und nach dem Krieg, das zerbrach sie, das Gefühl: „daß wir nicht weiterkommen können.“ Wie hätte sie es nicht haben sollen? Als der Krieg verloren, die heimatliche Grenzen in langen Märschen wieder erreicht war, wurden alle in Viehwagen verladen. „Wohin wir fuhren, wußten wir nicht, nur daß es nicht gleich nach Hause ging.“ So endet Renns Buch. Kein zufälliger Schluß, ein sehr sinnbildlicher. Denn in diesem Ungewissen stand die Frontgeneration, durch dieses Ungewisse hat sie sich durchzuschlagen, immer mehr vom Gefühl ergriffen, es gebe überhaupt kein Zuhause mehr. Diese ungeheure Verlassenheit, die in Renns Bericht aus jedem seiner Teile fühlbar wird, gibt über alle Schilderung des Gegenständlichen die Tragik einer Zeit, eines Geschlechts.

             Sie ist auch aus Erich Maria Remarques Buch „Im Westen nichts Neues“ (Propyläen-Verlag, Berlin) zu spüren, wenn auch nicht vielfältiger, so doch näher, qualvoller, erschütternder. Denn Erich Maria Remarque besitzt, was Ludwig Renn fehlt: das Wort, das mehr als Photographie gibt – das Wort mit allen seinen, dem Tatsachensinn unmerklichen Schwingungen und Flutungen der Seele, der Atmosphäre, des Unaussprechbaren – kurz, das dichterische Wort. Der Atem stockt einem, folgt man Remarque durch das Inferno des Krieges. Das Grauen ist wieder da, das Entsetzen, das unter dem Schutt der gelebten zehn Nachkriegsjahre noch immer glimmt und nie in uns verlöschen wird, solange uns Atem gegeben ist.

             Die Frontgeneration spricht. In Erich Maria Remarque jene deutschen Achtzehn- und Neunzehnjährigen, die als zweiter Schub, von den Schulen geholt, zum Teil als Kriegsfreiwillige gelockt, in das Feuer der Granaten und Schrapnells geworfen wurden – jene erfahrungslose Jugend, die von den unregelmäßigen Verben ohne Umweg in die Regelmäßigkeit tötender Einschläge geriet – jene unglückliche Jugend, die nicht einmal die Welt gekannt hatte, die nur zerstörte und zerstört wurde, zu nichts anderem als zur Vernichtung getrieben wurde – jene Jugend, die der Krieg für alles verdorben hat. Bei Remarque heißt es einmal: „Wir sind keine Jugend mehr. Wir wollen die Welt nicht mehr stürmen. Wir sind Flüchtende. Wir flüchten vor uns. Vor unserem Leben. Wir waren 18 Jahre und begannen die Welt und das Dasein zu lieben; wir mußten darauf schießen. Die erste Granate, die einschlug, traf unser Herz. Wir sind abgeschlossen vom Tätigen, vom Streben, vom Fortschritt. Wir glauben nicht mehr daran; wir glauben an den Krieg.“

             Wie diese Jugend im Trommelfeuer ausharrt, zurückgeworfen ins Tierhafte, Instinktive, das hier allein zu retten vermag, wie sie um ihre nackte Existenz kämpft, toll, blind, wie sie in der Kameradschaft noch etwas wie ein Licht schönen Lebens sieht und sich daran wärmt, wie sie die Kinder, die nach ihr an die Front in viel zu weiten Uniformen kommen, bedauert und sterben sieht, ohne helfen zu können ( „Auf einen alten Mann fallen fünf bis zehn Rekruten“) und wie sie selbst zugrunde geht, einer nach dem andern, und es noch als Glück empfinden muß, zu sterben, nicht als Verpfuschter weiterleben zu müssen – das ist Remarques Buch. Mehr als einmal kommen einem dabei die Tränen. Mehr als einmal kann man nicht weiterlesen, muß aufstehen, durch die Stube rennen, um nicht von seiner Verzweiflung, seinem Jammer erdrückt zu werden.

             Ein grausames Buch. Ein notwendiges Buch.

             In ihm ist „der Schmerz der Kreatur, die furchtbare Schwermut des Lebens und die Erbarmungslosigkeit der Menschen“. In ihm atmet hastig und keuchend wie ein Zerschossener die Vergangenheit einer Generation in den fortwährend von glühendem Eisen bestreuten Granattrichtern, aus denen es kein Entkommen mehr gibt, zu denen sich alles verwandelt hat: das gegenwärtige und das zu erwartende Leben, das Körperliche und das Seelische. „Man wird uns auch nicht verstehen, denn vor uns wächst ein Geschlecht, das zwar die Jahre hier gemeinsam mit uns verbrachte, das aber Bett und Beruf hatte und jetzt zurückgeht in seine alten Positionen, in denen es den Krieg vergessen wird, und hinter uns wächst ein Geschlecht, ähnlich uns früher, das wird uns fremd sein und uns beiseite schieben. Wir sind überflüssig für uns selbst, wir werden wachsen, einige werden sich anpassen, andere sich fügen und viele werden ratlos sein; – die Jahre werden zerrinnen und schließlich werden wir zugrunde gehen.“

             Aber auch Abrechnung mit den Erziehern, denen man geglaubt und die einen verrieten, ist in dem Buch. „Mit dem Begriff der Autorität, dessen Träger sie waren, verband sich in unseren Gedanken größere Einsicht und menschliches Wissen. Doch der erste Tote, den wir sahen, zertrümmerte diese Überzeugung.“ Auch der Schrei nach Hilfe des Geistes schreit aus Remarques Aufzeichnungen, der Schrei, wie alles dieses möglich, der Tod im Felde und der noch schrecklichere im Lazarett, wenn dem Menschen der Geist gegeben sei.

             Dann aber in aller Verzweiflung hebt sich der Mut der vom Krieg Verschütteten als ein ungeheurer Schatten über alle Zukunft. Ein unheimlicher Chor droht, der Chor der Frontgeneration: „Die Tage, die Wochen, die Jahre // hier vorn werden noch einmal zurückkommen und unsere toten Kameraden werden dann aufstehen und mit uns marschieren, unsere Köpfe werden klar sein, wir werden ein Ziel haben, und so werden wir marschieren, unsere toten Kameraden neben uns, die Jahre der Front hinter uns: – gegen wen, gegen wen?“

             Die Frontgeneration marschiert hin und her, kreuz und quer – in allen Ländern, durch alle Straßen des Lebens. Was wir in den zehn Jahren nach dem Krieg erlebt, ist nichts anderes als der ruhelose Marsch der Frontgeneration. Ihre Unruhe ist die Unruhe der Welt. Und ein Dichter wie Erich Maria Remarque erster Frühschein eines Friedens – auch der Seele.

In: Der Tag, 20.1.1929, S. 17-18.

Max Brod: Die Generation des Krieges (1928)

1918, 1928 – wir befinden uns in Erinnerungsluft, die durch das Dezimalsystem bestimmt wird. Die Frage, welche Generation durch den Krieg am meisten gelitten hat, drängt sich inmitten verschiedenartiger Jubiläen und Reminiszenzen auf.

Das Schlimmste hat zweifellos die Reihe von Jahrgängen erlebt, die im Feuer gestanden ist. Viel beklagt wurde auch das Los derjenigen, die knapp nach dem Krieg zur jugendlichen Entfaltung kam – das heißt: nicht kam, denn das Nachkriegschaos betrog sie um das wahre Freudenlicht der Jugend, machte ihren Lebensanfang zu einem abnorm schweren, ja kaum zu gewinnenden Krieg.

Von diesen beiden Generationen wurde schon viel geschrieben und gesprochen. Das Schicksal der Nachkriegs-Jugendlichen stand eine Zeit lang im Vordergrund literarischer und pädagogischer Diskussion. Wenig beachtet wurde eine dritte, ältere Generation: die, welche bei Beginn des Krieges eben fertige Männer geworden waren, die ihr Weltbild und ihre bürgerliche Position eben in den Grundzügen festgelegt hatten – und dann kam der Krieg und warf alles um.

Es sind die Menschen, die heute vierzig Jahre alt oder etwas älter sind. Dem Buchstaben nach. Faktisch sind sie viel älter, steinalt. Sie sind schnell gealtert. Denn sie haben zu viel erlebt. Ihre Entwicklung wurde gewaltsam zerbrochen. Sie näherten sich gerade der Höhe des Menschenlebens, festigten ihre Anschauungen, rangen um Klarheit auf einem ganz bestimmten Weg. Auf einmal war der ganze Weg falsch. Ungeheuerliches geschah. Es mußte von vorn angefangen werden. Und zwar nicht in ganz jungen Jahren, in denen man gern täglich ganz von vorn anfängt. Sondern in einem späteren Zeitpunkt, in dem man nur noch mit Anstrengung, ganz ernsthaft, ganz aus der Tiefe her zu revidieren vermag.

Im geistigen Sinne hat der Krieg diese Generation am schwersten getroffen. Denn er hat sie in ihrer Vollreife getroffen. Man kann daher die Generation der heute Vierzig- bis Fünfzigjährigen im wahrsten Sinn die „Generation des Krieges“ nennen.

Daß sie selbst nicht allzu viel Aufhebens damit machen, nicht so laut schreien wie die Nachkriegs-Jugendlichen: das gerade ist das charakteristische Merkmal und führt schon mitten ins Krankheitsbild dieser Generation hinein. Sie fürchtet sich nämlich, alt zu erscheinen. Sie will krampfhaft jung bleiben. (Analogon: heutige Frauenmode.) Sie ist widerstandslos gegen alles Neue, macht glatt jede aktuelle Konvention mit. Nur möge man um Gottes willen nicht auf den Gedanken kommen, daß die Elastizität dieser Halb-Alten nachlasse und auch nur um eine Gran hinter dem zurückbleiben, was das sogenannte Tempo der Zeit fordert! Früher war man bockbeinig, starrsinnig. Der seltsame Bruch, den der Krieg in den Geistern der „Kriegsgeneration“ angerichtet hat, zeigt sich darin, daß sie bereitwillig jedes neue Diktat annehmen. Nie sind literarische, malerische Moden so schnell vorbeigerauscht wie jetzt. Dem Naturalismus folgte eine wilde Expressionismus-Woge. Man wollte die Dinge nicht mehr sehen, nur sich selbst, das eigene autonome Gefühl. Jemandem sagen, daß er mechanistisch denke, rational und analytisch vorgehe, war (man lese das etwa bei Rathenau nach) ärgste Beschimpfung. Mit einemmal wird die Betonung des freien unkonstrollierbaren „Ich“ von der Unterstreichung des „Es“ abgelöst. Das Individuelle und Irrationale gilt als erledigt. Kollektiv, mechanisch, rational, sachlich – vor wenigen Jahren Schimpfworte – sind jetzt Ausdrücke höchster Lobeskritik. Nicht daß der Geschmack, das Schlagwort wechselt (der wahre Strom der Dichtung zieht und zog ohnehin immer weit fern von solcher Schlagwortschlacht), – sondern daß der Wechsel so schnell, so kampflos vor sich geht, in so weichem, gegenseitigem Einvernehmen, das ist das Bemerkenswerteste – und ist die Schuld der „Generation des Krieges“, die feig und resigniert, im Innersten gebrochen kein Beharrungsvermögen aufbringt, die nach jedem Lüftchen auslugt, ausfühlt, um sich nur ja recht augenblicklich danach umzustellen. Fragte man diese Menschen aber auf Ehre und Gewissen, wo ihr eigentlicher Ernst liegt, – so fände man ihn nicht in diesen flüchtigen spielzeughaften Moden, sondern in einer eigenartigen Bewußtseinsspaltung. „So war es vor dem Kriege – so ist es jetzt“ – das sind die beiden Kategorien, mit denen sie denken. Wer heute zwanzig Jahre alt ist, ja selbst der Dreißigjährige hat kein Bild der scheinbar festgegründeten Ordnung, in der jene aufgewachsen sind, in der sie sich bis zu einer gewissen, schon durchaus profilierten Geisteshaltung entwickelt haben. Er hat diese Ordnung (und konnte sie mit gutem Grund) vergessen. Aber der Mann von vierzig Jahren – er, das eigentliche Kriegsopfer im geistigen Sinne – überall Vergleichsmöglichkeiten haben, jedes Ding in zwei aufschlitzen, in den Zustand „vor dem Krieg“ und „nachher“ – es gehört schon unendlich viel Nervenkraft und Charakterstärke dazu, um nicht in allgemeine Skepsis, in den müden Glauben an die Relativität aller Dinge unterzutauchen. Die besten dieser Generation haben in dieser Gefahr, die sie genau sehen, eine besondere Wachheit erlangt, an der sie einander gegenseitig erkennen. Außerhalb dieses strengen Geheimbundes plätschern die Karrieristen, die Immer-Zeitgemäßen, die auf jung und aktuell geschminkten Kriegsinvaliden des Geistes, die jede neue geistige Bewegung im Moment mitmachen, weil ihnen im tiefsten Grunde durch die eine große Bewegung, die sie wirklich mitmachen müßten, durch den Kriegsbruch ihrer Erfahrung alle anderen noch zu machenden Erfahrungen lächerlich unwichtig und gleichgültig geworden sind.

In: Prager Tagblatt, 8.7.1928, S. 5.

Oskar M. Fontana: „W.U.R.“ von Karel Capek

             Der Golem war die Erfindung eines individualistischen Zeitalters. Als dieses kollektivistisch wurde, mußten auch aus dem Golem Golems werden. Diesen Schritt ging Karel Capek – merkwürdig die Vorliebe der Prager zum Golemmythos –, indem er das utopische Kollektivdrama von den Robotern schrieb. Roboter sind die in der Maschine erzeugten Menschen, viel einfacher und zweckmäßiger gebaut als die wirklichen Menschen. Die Natur wurde auf den Ingenieureinfall reduziert. Und so unempfindlich für Freude und Schmerz sind diese Roboter, daß die Gesellschaft zu ihrer Erzeugung (eben W.U.R. oder Werstands Universal Robots) ihnen schmerzempfindliche Nerven geben muß, damit sie länger in Gebrauch sein können, damit sie durch den Verlust der Schmerzlosigkeit auch sich selber schonen. Nach zwanzig Jahren sind sie kaputt, zerfallen sie, müssen sie in den Stampftrog, wo sie wieder von Maschinenhänden geknetet werden. Aber die Roboter, geschaffen zur Entlastung der Menschen von der Arbeit, werden sein jüngstes Gericht. Statt zum Friedenswerkzeug, werden sie als Mordinstrumente benützt. Der Mensch selber erträgt die Nichtarbeit nicht und geht in Orgie unter wie ein mit Wasser vollgesoffener Schwamm, bis sich die Roboter aller Länder gegen den Menschen vereinen und ihn unerbittlich, mit der Prägnanz von Maschinen, ausrotten. Mit den Menschen ging das Geheimnis der Roboterfabrikation unter, die Formel wurde vernichtet, und keiner findet sie mehr, auch der einzig überlebende, der letzte Mensch nicht. Millionen Roboter fallen jährlich in Stücke, ohne daß neue erzeugt werden, ohne daß sie selber neue zeugen können, denn sie haben nur die Zeichen des Geschlechts, aber nicht das Geschlecht selber. Aber wieder wird Adam und Eva. Aus den Robotern wächst ein Paar, das mehr als Maschine ist, das Mensch wird – in Liebe. Dieser Bogen, der von der Empörung zur Liebe führt und als ganzes die Menschwerdung überspannt, ist schön. Aber er wird mehr im Gedanklichen fertig als im Dichterischen. Dieses bleibt am Rand, vermag sich nicht auszubreiten, schimmert über, aber nicht aus den Szenen, ist nicht Karels Kraft, sondern seine Sehnsucht. Nicht daß er von Shaw, Wells und Georg Kaiser gelernt hat, ist seine Schwäche, sondern daß er in entscheidenden Wendungen zu schematisch, zu logisch wird, Gedankliches und Dichterisches verkürzt bringt, aber nicht seelisch verkürzt, sondern theatralisch verkürzt. Schon in den Namen: So heißt der Zentraldirektor Domin (von Dominus – Herr), der die Maschinenmenschen zum Aufstand bewegende Roboter Radius, das letzte Schiff, das den Menschen bleibt, Ultimus, und der erste Roboter, der Mensch wird, Primus. Alles wird dir, Theaterbesucher, gesagt, es bleibt dir nichts zu erraten. Aber das Geheimnisvolle bei aller Klarheit gehört zum Wesen der Kunst. Theatralische Verkürzungen: Wenn eine Amme Volkesstimme und damit Gottesstimme posaunen soll – wenn die Formel zur Erzeugung der Roboter verbrannt wird, nicht von einer Frau (das wäre schön), sondern von einer Laune – wenn die Liebe aus den Robotern Menschen macht (oh, wie wird Capek da banal, daß sich aber die ersten Menschen um Tisch und Sessel wie im Lustspiel verfolgen, ehe sie sich fangen und küssen, ist Banalitätssteigerung der Regie.)

             Aber auch mit seinen Schwächen bleibt Capeks Drama in seiner Gescheitheit, seinem Gefühl für Sozialität und in der sicheren leichten Hand beim Szenenbau ein tapferes, neu- und eigenartiges Theaterstück. Es würde noch sehr gewinnen, wenn man es ganz als Theaterstück und nicht als heilige Dichtung spielen und die etwas breite realistische Sprache straffer zusammenziehen würde. Das Beste an der Aufführung der Neuen Wiener Bühne sind die Dekorationen Friedrich Kieslers, die aus Sachlichkeit und Maschinenprägnanz szenische Phantastik gewinnen. Der romantische Samtvorhang, der im letzten Akt so gar nicht zu den Glaskolben, Feuerkannen, Chemikalien und geißlerischen Röhren paßt, dürfte von fremder Hand hinzugetan worden sein, er ist wirklich, alles andere aber überwirklich, wie es das Drama verlangt. Roberts Regieleistung ist Roboterarbeit: bei Erfüllung alles Technischen durch Technik ohne eigene Musik und Seele – aber fleißg, sehr, sehr fleißig. Schauspielerisch am stärksten ist Karl Götz als der letzte Mensch. Seine Phantastik, die niemals spielerisch wird, zwingt. Stahl-Nachbaur spricht noch immer Stahl, spielt noch immer Stahl, manchmal, nicht immer, sieht man bei diesem Zusammenprall Funken stieben. Maria Eis ist eine vorzügliche, aber keine mondaine Schauspielerin. Nicht Damen, sondern elementare Volksgestalten muß sie spielen. Dem kleinen Fräulein Schafranek glaubt man die Erweckung eines Golems zum Adam, so sehr decken sich bei ihr Schauspieler- und Frauentum.

In: Neues 8 Uhr-Blatt, 11.10.1923, S. 7.

Paul Busson: Gugu – Dada!

Diese Anthologie (Anthologie Dada) ist nicht nur deshalb sehr interessant, weil Künstler aus aller Herren Ländern mitarbeiten, sondern auch, weil hier zum erstenmal der Versuch gemacht wird, den Dadaismus verstandesmäßig näherzubringen. (Mitteilung des Mouvement Dada, Zürich, Seehof.)

Nein, Spaß beiseite, ich habe zuerst geglaubt, daß es sich bei dem munter gefärbten Heft, das auf meinen Schreibtisch flatterte, um eine neue Zeitschrift für eben Entwöhnte, höchstens etwa Zweijährige handle, und nur deshalb ist mir der obenstehende Titel, dessen Lautfolge mir aus eigenen frühesten Jugendtagen noch dunkel erinnerlich ist, sozusagen ausgerutscht. Erst später habe ich wahrgenommen, daß hier offenbar ernstgemeinte Versuche von ihrer Bedeutung durchdrungener leider noch nicht ganz verstandener Künstler niedergelegt sind, die auf eine würdige und nachdenkliche Besprechung Anspruch erheben.

Zu meiner tiefen Beschämung ist es mir nicht gelungen, dem „Mouvement Dada“ standesmäßig nahe zu kommen. Da ich aber gleichwohl meine Pflicht erfüllen muß, diese Ergebnisse einer völligen Umwälzung in der Dichtkunst und Kunst überhaupt dem großen Leserkreis nahe zu bringen, habe ich mich in meiner Hilflosigkeit und in dem durchbohrenden Gefühl, einer nunmehr völlig veralteten Geschmacksrichtung anzugehören, entschließen müssen, das mir nicht mehr zustehende Urteil dem Leser selbst zu überlassen, ohne ihn durch meine sicherlich verständnislosen Randbemerkungen im Genuß zu stören.

Von der Wiedergabe der zahlreichen französischen Gedichte enthebe ich mich feierlich. Erstens gehöre ich zu jenen barbarischen und beschränkten Naturen, die für die gegenwärtigen Kunstäußerungen französisch eingestellter „Mentalitäten“ aber auch schon nicht das Geringste übrig haben, zweitens verfüge ich mit meinen Wald- und Wiesenkenntnissen der Sprache Clemenceaus nicht über die nötige Beherrschung des „Argots“ der Dadaisten. Es könnte mir geschehen, daß ich in aller Unschuld ein französisches Dada-Gedicht niederschreibe, dessen Inhalt dem jener deutschen Dada-Gedichte entspricht, die ich aus kleinlichen, gewiß für Dadaisten sehr lächerlichen Gründen einer — mein Gott, halt anerzogenen – Anständigkeit unterschlagen muß. Ich will es nur unternehmen, aus den auf blauem, weißem, rotem, orangefarbenem Papier gedruckten Schätzen ausgewählte Proben in deutscher (?) Sprache mitzuteilen, die ich – wie gesagt — dem Urteil des, wie man einst sagte, günstigen Lesers überlasse.

Das Heft trägt den rotgedruckten Kopf: „Dada 4-5.“ Das Titelbild ist eine Sammlung von Uhrenrädern und Strichen, die in losem Verhältnis zueinander stehen, und heißt: „Reveil matin.“ Der Künstler zeichnet sich: Francis Picabia und leitet die französische Sammlung ein.

Als erster unter den deutschredenden Dadas erscheint Walter Serner, von dem in allernächster Zeit ein Blatt mit dem eigenartigen Titel „Das Hirngeschwür“ erscheinen soll. Wenigstens ist diese Zeitschrift in der Anthologie als bevorstehend angekündigt. Ihre Luxusausgabe kostet 20 Franken. Hier der Anfang seines Gedichts:

Bestes Pflaster auch Roter Segen.

Bodenbepurzelndes Geschirr:

gar zu süß soffen Ninallas Lippen Pommery grenofirst.

Minkow, ein ganz ein Russischer, deroutiert nebengeleisig.

Vorüberflappernder Handteller: benützter Busen bläht blondes.

Pauschal Schal.

Schluck Wein (Länge: 63 centimetres) in rotverbesserte Nüstern gespieen.

Queen!!!

Ein andrer, Ferdinand Hardekopf, schließt ein längeres Gedicht mit der Strophe:

Hohe Hirnkraft wallt zu diesem Glase

             Da bestülpt der sachlichste Adept

             Das Gestirn mit einem Stengelglase

             Darin dottrig etwas Ei verebbt.

             Von den geheimnisvollen „Verwandlungen“ Richard Huelfenbecks erlaubt der Raum mir nur den Anfang hier zu sehen:

„Cacadoufarbige Butzenscheibenohren rennen um Klumbumbus gelber Stern Bauch quer durch Hunde zeilen platzen. Gut. Cacadou wird Butter Jamaika Cognac Stahl wird Tanz Butterweg ist. Korkenzieher für infantile Oteros in Säcken Chinesen speien Jahrelang nach Petrol. Einer aus Confidence mästet einen Strichpunkt rot. Apoplexie. Drachensalat, Telegraphisch, wie doch.“

             Wieder stoßen wir auf Walter Serner, der in einem längeren. Bezifferten Aufsatz: „Letzte Lockerung manifest“ unter anderm sagt:

„4. Napoleon, ein doch wirklich tüchtiger Junge, behauptete unverantwortlicher Weise, der wahre Beruf des Menschen sei, den Acker zu bestellen. Wieso? Fiel ein Pflug vom Himmel?

5. Alles ist nämlich rastaquerest, meine lieben Leute. Jeder ist (mehr oder weniger) ein überaus luftiges Gebilde, dieu merci.

6. Es ist allgemein bekannt, daß ein Hund keine Hängematte ist; weniger, daß ohne diese zarte Hypothese Malern die Schmierlaust herunterfiele: — — Weltanschauungen sind Vokabelmischungen.

In summa, meine Kleinen: Die Kunst war

eine Kinderkrankheit

12. Damenseidenstrümpfe sind unschätzbar.

Eine Vizekönigin ist ein Fauteuil. Weltanschauungen sind Vokabelmischungen. Ein Hund ist eine Hängematte. L’art est mort. Vive Dada!“

Der „Wolkenpumpe“ von „arp“ entnehme ich das folgende Gedicht und ein Stückchen Prosa, die sein Schaffen anschaulicher und besser künden, als es meine mühevollsten Bemerkungen zu tun vermöchten. (Wobei ich gestehe, daß mir die einfache Wiedergabe auch bequemer zu sein scheint.)

sankt ziegenzack springt aus dem ei

rumsdibums das gigerltum

vergißmeinnicht rollt um den stuhl

glocke schlägt nur eins und zwei

abgrund öffnet sich mit macht

stern rollt an den schönen mund

trauriger Hase hängt am berg

in den steinen ist schöne nacht

sankt fassanbaß springt aus dem ei

rumsdibums die liegenschaft

vergißmeinnicht rollt um den stuhl

glocke schlägt nur eins und zwei

Schwieriger ist die Prosa, da „arp“ auf Beistriche, Punkte, Anfangsbuchstaben und dergleichen Kram verzichtet.

„weh unser guter kasper ist tot wer trägt nun die brennende fahne im zopf wer dreht die kaffeemühle wer lockt das idyllische reh auf dem meer verwirrte er die schiffe mit dem wörtchen paraplui und die winde nannte er bienenvater weh weh weh. für gigimann das totem der besenden tiere erfüllt sich und wird die bahn der automobilen vögel gestört so verstummt das ländliche salem aleikum gummi arabikum“.

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Es geht noch ziemlich lange so weiter; aber ich muß mich erholen, um den „Geburtstagsgesang für Bijo Berry, z. Z. interniert“ (wo?) lesen und vielleicht wiedergeben können. Auch hat mich ganz plötzlich der Gedanke beschlichen, ob es sich bei diesem Heft nicht vielleicht um geheime Mitteilungen irgendeiner weitverzweigten Vereinigung handeln könne, die in diesen Gedichten und Prosastücken verborgene Nachrichten zu geben und zu finden versteht. Aber dieser noch auf den Kriegstagen herübergeisternde Verdacht erscheint mir bei längerem Sinnen doch nicht recht angebracht zu sein. Ich kann also – nachdem ich mich, wie der Wiener sagt, „verfangt“ habe – den Anfang von Huelsenbecks „Geburtstagsgedicht“ (es steht über einem mir unzugänglichen Bild von Paul Klee, „Ausblick aus einem Wald“, hieher setzen. Was das Bild anlangt, so habe ich wohl öfter aus einem Walde geblickt — aber, wie es halt schon so ist (die Augen werden auch nicht besser), niemals Tintenkleckse, schwebende Gitter, schiefe Vierecke, in der Luft hängende hausartige Gebilde und dergleichen in der Natur wahrnehmen können. Ja so, das „Geburtstagsgedicht“:

He du riesengroß in der verwaschenen Weste mit dem feisten Gesicht Spitzbauch glänzend frisiert

Hier muß ich schon wieder innehalten. Leider! Denn Huelsenbeck beginnt, gegen alle Dada-Gebräuche, eindeutig zu werden.

Die „Letzten Nachrichten aus Deutschland“ (quer gedruckt) werden gerade jetzt nicht unwichtig sein:

Berlin ist der Football einer herkömmlichen Jugend, die in hypothetischer Form das Sechstagerennen (match Groß-Herzfelde-Ruep-Mynona) jeden Sonnabend mit dem Erscheinen eines senilen Glotzauges praktisch bestirnert. — München ist die Gegend des Ararat und des Volksbildes von Schrimpf: nicht so, aber sol — Für das übrige Deutschland: die kommunistische Bewegung ist beinahe ganz eingedämmt, da jeder Deutsche mit der Herausgabe seiner eigenen Zeitung beschäftigt ist. Lebensmittel unnütz, alle schlucken Druckerschwärze.“

Hans Richter (junior, jedenfalls) druckt einige Mitteilungen ab, die dem Publikum

der 8. Dada-Soiree bereits mündlich gemacht wurden:

„Umst, Umst (?) ist nicht nur nicht dagewesen es ist auch unmöglich, daß es da ist. Dada ist es. Fluch auf Dada. (Wir übermitteln Ihnen diese Formel.)“

Nun sehe ich doch, daß ich meine Kräfte überschätzt habe. Es geht nicht weiter. Auch den Namen des Ober-Dada, den ich eben noch las, habe ich vergessen, und ich wage nicht mehr, in dem Wirrwarr der Papierfarben und verschieden großen Lettern nachzusehen. Denn das Schicksal des „z. Z. internierten“ Dada, dem der Geburtstagshymnus gilt, hat mich ängstlich gemacht. Es wäre mir keineswegs angenehm, schließlich besungen zu werden: „Mauer-Öhling-Dada“ oder so ähnlich. Ich weiß, daß ich veraltet bin, und es ist möglich, daß sich in meinem Innern vielleicht unbewußter Neid rührt, mein restliches Leben fern von diesem wundervollen Bunde verbringen zu müssen. Aber ich kann es nicht ändern.

Zweifellos handelt es sich dada (den also! Ich wollte nur „da“ schreiben), da um einen Umsturz auf geistigem Gebiete, um eine Revolution. Revolutionen sind im allgemeinen nicht heiter. Aber bei dieser, so scheint es mir, ist doch kein rechter Grund zur Traurigkeit vorhanden, dada. Im Gegenteil. Die Tatsache, daß es noch Menschen gibt, die in dieser immerhin trüben Zeit keine andern Sorgen haben, als diese „Anthologie“ herauszugeben und zu bereichern, wirkt ungemein beruhigend. Und schließlich: das Heft, so dünn es ist, kostet nur vier Schweizer Franken, also nach unsrer Münze etwas über zweiundzwanzig Kronen, was ja gar kein Geld ist. Und schließlich wollen die Herausgeber auch leben. Warum nicht?

Nur vor dem Schlafengehen scheint diese Sammlung ein gefährliches Lesefutter zu sein. Ich wenigstens verdanke ihr schwere Träume, und eine mir nahestehende Persönlichkeit war sehr erschrocken, als ich auf wiederholte Fragen nach der Ursache meines Stöhnens immer nur mit „Dada“ antwortete. Aber mit der Zeit gibt sich das auch. Man muß sich eben daran gewöhnen. Man muß sich jetzt ja überhaupt an vieles gewöhnen. Die Zeiten sind schon so. Und wie ich unsre Literaturjugend kenne, werden wir in Wien gewiß bald einen Ober-Dada haben. Oder gibt es schon einen? Dann möchte ich als erster ihm ein begeistertes „Dada“ zurufen. Ohne Scherz. Ich habe den lästigen Zwang, immer Gedanken hervorbringen und auf meinen Stil achten zu müssen, herzlich satt. Ich möchte auch einmal dichten, wie mir der Schnabel gewachsen ist, und lächelnd zusehen, wie sich andre den Kopf zerbrechen, was das Gedichtete eigentlich heißen soll. Im äußersten Fall lasse ich grünes und violettes Papier volldrucken und gründe selbst eine Schule, etwa mit „Lolo“ als Kennwort. Ich sehe gar nicht ein, warum sich ein Schriftsteller nicht auch selbständig machen soll — besonders, wenn es mit so einfachen Mitteln und mit einem entsprechenden Ausmaß von Frechheit geschehen kann. Einstweilen aber noch: Dada!

In: Neues Wiener Tagblatt, 22.6. 1919, S. 3-5.

[Fritz Lehner]: Le grande homme. Ein Roman von Philippe Soupault. Paris 1929

             Der Autor dieses Buches, einer der lebendigsten Künstler des jungen Frankreichs, ist bisher nur durch ein einziges Werk, den „Neger“, an den deutschen Leser herangekommen; von ihm wird aber noch viel übersetzt werden. Denn dieser unermüdlich tätige, in vielen Sätteln gerechte Dreißigjährige mit der bewegten (literarischen!) Vergangenheit, hat Talent. Seine Zugehörigkeit zum französischen Dada, selbst seine Gründung des „Surrealismus“, in die er sich mit André Breton teilt, also seine Sehnsucht nach frischer Luft, haben ihn keineswegs verbraucht. Sie waren eben nicht alles, was er konnte (und womit die andern zugrunde gingen); sie waren wirklich nur subjektiv richtige Versuche, sich freizumachen, aus Sackgassen Auswege zu finden. Und selbst in den Augen der schulmeisterlichsten Referenten rechtfertigt bereits nachträglich seine Begabung den Wirbel, mit dem er vor nicht allzu langer Zeit auf der Tribüne erschienen.

             Seine letzten Bücher verleugnen selbstverständlich die Vergangenheit Soupaults keineswegs; sie zeigen sogar, wie richtig seine Absichten waren und wie scheinbar Haltloses Rückgrat werden kann. Die „Dernieres Nuits de Paris“, ein Traum- und Schattenbuch, haben vom Surrealismus das Verfließen der Konturen übernommen, Gestalten gleiten über dem Boden, ohne von der Schwerkraft belästigt zu werden, und die Handlung stellt übergangslos Unfaßbares neben Natürliches. Aber auch in dem letzten Roman Soupalts gehen die Form und der Gehalt dem Konventionellen aus dem Wege. Der „Grand homme“ ist, aber dies ohne einen äußeren Zusammenhang, der zweite Teil einer Folge, die mit dem schon

genannten „Neger“ einsetzt: nicht deshalb, weil auch hier ein Neger (ein anderer!) eine wichtige Rolle spielt, sondern weil seine Idee gleichsam eine Fortführung des Gedankens aus dem ersten Buch sein kann. Im „Neger“ wird die Geburt der Zeitverwandlung geschildert, der neue Einbruch einer primitiven Welt in eine verfeinerte, verbrauchte: im „Grand homme“ ist jene erste Stufe bereits überwunden, der Mensch steht beim Gipfel seiner Leistung, im Fegefeuer seines Ruhms, der sein Leben verändert, aber auch ausweglos zu machen scheint. Es fehlt daher nur der dritte Teil: in dem die Befreiung gezeigt, ein neuer Weg entdeckt wird. So wie nun der zweite Band uns vorliegt, schildert er den Tanz eines Weißen und eines Schwarzen um eine Frau, den Kampf des geheimnisvoll Einfachen und des raffiniert Gebildeten um eine Seele; diese Zähler der Rechnung gehören aber zu einem Nenner, der alles verwickelter macht – beide Männer sind „große“ Menschen. Im „Neger“ schlägt der Eroberer die Weiße, die noch dazu Europa heißt, einfach nieder; der berühmte Negerfänger des neuen Romans hingegen kehrt still heim zu seinen Vätern, er wurde durch Europa, das auch diesmal eine Frau ist, gebrochen.

             Man sieht, daß die reale Handlung Hintergründiges darstellen will; und da gelingt ihr auch, wenn man dabei vom ganzen Buch spricht, und es gelingt ihr in einzelnen Teilen. Die beiden ersten Kapitel zum Beispiel oder jener Teil des Romans, in dem der aus Amerika heimkehrende Großindustrielle sein Bankett gibt, weiter die Verwandlung der Frau und viele Einzelheiten sind überaus gelungen. Nicht immer aber ist die Erzählung gleich dicht: nicht immer so dicht wie in dem noch einmal zu erwähnenden doppelzüngig sprechenden ersten und zweiten Kapitel, in dem ein weißer Junge in seinem Negerzustand geschildert wird, in seiner Urwüchsigkeit: zum Staunen seines Vaters, aber auch zum Fluch für ihn selbst verwandelt er sich in einen „großen Mann“, in einen Europäer. Der hier angeschlagene Ton wird, nicht zum Vorteil des Berichtes, nicht immer durchgehalten. In Summa aber: eine kluge Erzählung, die nebenbei so mancherlei verrät, zum Beispiel wie der noch nicht Dreißigjährige die Welt sieht und was er von ihr hofft. Und da er sie weiterhin wird lenken müssen, ist es wichtig, ihn zu hören.

In: Wiener Zeitung, 4.2.1930, S. 5.