Fritz Rosenfeld/Karl Leuthner: Neue russische Romane (1930)

Wohl selten war eine literarische Schaffensperiode in ihren Themen und in ihrer Form so einheitlich wie es die russische Dichtung der Nachkriegszeit ist. Der Stoff aller Romane ist die jüngste Vergangenheit und die Gegenwart Sowjetrußlands; die Darstellungsform bleibt, mit Ausnahme ganz weniger Dichter, die zu einer neuen Romantik Hinstreben (Leonow), der breite Naturalismus alter Schule, in den sich impressionistische Elemente, lyrische Zwischenspiele, Stimmungsmalerei, mischen. Ihrem Inhalt nach sind die neuen russischen Romane leicht zu gliedern. Der Krieg, die Revolution und der Bürgerkrieg, die Aufbauarbeit im neuen Staate, sind die drei großen Themengruppen, in die sich die neue russische Epik einteilen läßt. 

Der Krieg ist die Hauptmelodie des großen Romans 

Der stille Don

von Michael Scholochow (Verlag für Literatur und Politik, Wien-Berlin). Das Buch schildert erst das Leben der Kosaken, die an den Ufern des Don stille Bauernarbeit leisten, und zeigt dann, wie diese Kosaken, vom Zaren in das Blutbad des Weltkrieges gestürzt, zu neuen Menschen werden. Die Vollendung der Wandlung, die der Krieg an ihnen vollzieht, wird ein zweiter Teil des Romans darstellen. Wie die Kriegsbücher aller Völker, zerreißt auch dieses russische Kriegsbuch die Legende vom Heldentum. Friedliche Menschen werden zu Mördern, weil sie fürchten, gemordet zu werden.

Ein Zeitdokument aus der Revolution ist die Selbstbiographie Vera Inbers, die im Malik-Verlag, Berlin, deutsch unter dem Titel 

Der Platz an der Sonne 

erschienen ist. Das Buch ist kein Roman im gewöhnlichen Sinne, sondern eine breite, gestaltenreiche Zeitschilderung, die den Atem, die „Schwingungen“ einer großen Epoche wiederzugeben versucht.

Farbiger, lebendiger sind die beiden Erzählungen, die der Neue Deutsche Verlag, Berlin, in dem Band

Taschkent, die brotreiche Stadt 

vereinigt hat. Die Titelerzählung des Buches stammt von Alexander Newerow. Sie spielt in den trübsten Hungerzeiten nach der Revolution und hat einen kleinen Jungen zum Helden, der für seine Familie die abenteuerliche Fahrt nach Taschkent wagt, um Brot und Saatkorn heimzubringen. Er schlägt sich mit Soldaten, mit Wegelagerern, mit dem großen Heer der Hungerndenherum, aber er erreicht sein Ziel. Großartiger als diese Geschichte ist A. Sferafimowitsch‚ gewaltiges episches Fresko Der eiserne Strom, das den zweiten Teil des Buches bildet. Hier gibt es keinen „Helden“, kein Einzelschicksal. Ein von den Horden der Reaktion aus der Heimat vertriebener Trupp kaukasischer Bauern bahnt sich mit der nackten Faust durch die ehernen Reihen der Feinde einen Weg und entrinnt den weißgardistischen Kadetten, von denen er verfolgt wird. Ein schauriges Gemälde aus dem Bürgerkrieg, unbarmherzig in der Darstellung der Kriegsgreuel, überhöht und überglänzt von dem Gedanken, daß an der geeinten Kraft der Revolutionäre alle Mordbanden der Reaktion zuschanden werden müssen.

Eine Episode aus dem Bürgerkrieg erzählt A. Fadejew in seinem im Verlag für Literatur und Politik erschienenen Buch 

Die Neunzehn.

Kommunistische Freischärler kämpfen gegen die Truppen Koltschaks. Typen treten aus der Masse heraus, das Gesicht des russischen Freiheitskämpfers wird in vielen Abwandlungen gezeigt. Die Hauptfigur ist ein junger Mensch, der nicht weiß, wofür er kämpft, der in seinem innersten Wesen ein Feigling ist: er schlägt sich in der Stundeder Gefahr seitwärts in die Büsche, wahrend die Kameraden, zielbewußte Soldaten der Revolution, den Kampf weiterführen.

Der wertvollste Roman des neuen Rußland nach Fedor Gladkows „Zement“ ist der ebenfalls im Verlag für Literatur und Politik erschienene Bauernroman 

Die Genossenschaft der Habenichtse

von F. Panferow. Er ist das Gegenstück zu „Zement“: dem Roman vom Wiederaufbau der Industrie wird hier der Roman vom Neuaufbau der russischen Landwirtschaft gegenübergestellt. An den Ufern der Wolga gründen ein paar arme Bauern auf ungerodetem Regierungsgrund einen gemeinwirtschaftlichen Betrieb, eine landwirtschaftliche Genossenschaft. Sie verteidigen ihre Idee und ihr langsam wachsendes Werk gegen die Sabotierungsversuche der wieder frech gewordenen Großbauern, sie führen Werk und Idee zum Sieg, obgleich die Kulaken mit den niederträchtigsten Mitteln die Genossenschaft umzubringen versuchen. An dem Problem: Einzelwirtschaft oder Gemeinwirtschaft, entzünden sich andre Probleme; der Konflikt der Generationen, der Konflikt der Geschlechter. Große, schicksalsträchtige Spannungen erfüllen den Roman, treiben seine Handlung an. Die Kernfragen der neuen russischen Bauernpolitik werden aber nicht trocken abgehandelt, der neue Geist des Kollektivismus wird nicht pathetisch gepredigt, sondern lebendig und dichterisch gestaltet. In machtvoller Steigerung spitzt Panferow das Buch auf eine Auseinandersetzung zwischen Großbauern und Habenichtsen zu, die zugunsten der Habenichtse ausfällt: die Arbeitsgenossenschaft der Besitz losen räumt mit dem alten Elend der kleinen Einzelwirtschaft auf und bannt die politische Gefahr der allzu mächtigen großen Einzelwirtschaft. Was Eisenstein in dem Film „Die Generallinie“ in großartigen beredten Bildern geformt hat, formt Panferow mit den Mitteln des Romans. Sein Werk ist oft von wuchtigster dramatischer Größe, oft wieder von verträumter lyrischer Zartheit. Ein großer Gestalter hat einen großen Stoff meisterhaft bezwungen.

[F. Rosenfeld]

Romantischer Roman

Leonid Leonov: „Der Dieb“

Leonow, der vor acht Jahren— damals zweiundzwanzig Jahre alt — mit den „Aufzeichnungen Kowiakins“, einer kurzen, meisterhaften Erzählung aus dem Leben der Provinz, hervortrat, gilt für eine der stärksten Begabungen des jungen Rußland. Dem Erstlingswerk folgten mehrere Erzählungen, der Roman Barsuki (Die Dachse) und 1928 der große Roman Wor (Der Dieb), der in deutscher Übertragung im Paul-Zsolnay-Verlag, Wien, erschien. Der Dieb hat in der russischen Kritik ein zwiespältiges Urteil erfahren. Nennen die einen den Roman ein herrliches, vollwichtiges Werk (so Pilski) und entdecken darin Züge des großen Seelenergründers und Seelenkünders Dostojewskis, so bezeichnet ihn Arseniew in  seiner Russischen Literatur der Neuzeit als „psychologisch recht interessant, aber  schwerfällig und langatmig“. Doch an diesem Urteil kann nur so viel als richtig zugegeben werden, daß kein rascher Drang und Zug die Handlung einem Konflikt und seiner Lösung zutreibt. Diese Eigenschaft teilt der „Dieb“ mit einigen der berühmtesten russischen Romane. Das Gefüge ist lose. Der Verfasser selbst tritt mit seinen Figuren auf die Bühne und schreibt im Roman den Roman, wie unsere Romantiker im Theater das Theater aufführten. Ja, es ist ein sehr abenteuerliches Geschehen, das hier zum größten Teil in der Verbrecherwelt des sowjetistischen Moskau spielt. Indes man fragt im Lesen gar nicht danach, ob nun jede wundersame Wendung der Geschicke genau den Gesetzen der Wahrscheinlichkeit entspricht, ob nicht eine oder die andre der Gestalten vom Abenteuerlich-Romantischen ins Romanhafte hinüberspielt. Um all die Gestalten, um all die Dinge, um all die Ereignisse fließt der Geist der Ironie, einer Ironie, die manchmal scharf ätzend, noch häufiger jedoch mit leisem Lächeln deutend, Andeutung an Andeutung reiht, bis sich uns das ganze Geschehen des Romans zur schärfsten Kritik der Sowjetwelt wandelt. In dem Tschinownik, der, in einen Sowjetbeamten und Hausvertrauensmann umgeschaffen, doch nur der alte Tschinownik ist, bekommt die Ironie ihr kraftvollstes Symbol. Wie von Gogol her kommt diese Gestalt und scheint zu sagen: sie ist wiederum da die Zeit, welche Menschen gebiert, über die wir weinen müssen, während uns zugleich der Ekel würgt.

[K. Leuthner]

 In: Arbeiter-Zeitung, 19.8.1930, S. 5.

Fannina Halle: Die neue Frau als Weib (1932)

Nachdem wir nun das letzte Wort über die neue, unter völlig veränderten Verhältnissen aufwachsende und ins Leben gestellte Frau Sowjetrußlands vernommen haben, ist auch die Frage nicht länger zu umgehen: fühlt sich diese Frau heute wohler, in ihrem persönlichen Leben glücklicher als die von früher und von anderswo? Diese Frage ist natürlich schwer zu beantworten, weil Mascha noch zu jung und näher betrachtet mehr die Frau von morgen als von heute ist. Man muß also die Zeit erst abwarten, bis sie reifer wird. Vom Gros ihrer etwas älteren und gleichaltrigen Genossinnen läßt sich daher vorläufig nur sagen: wiewohl alle Ventile weit geöffnet und die äußeren Hindernisse aus dem Weg geräumt sind, befinden sich die Dinge durchaus noch im Fluß, die Entwicklung ist also keineswegs als abgeschlossen anzusehen und die Gegensätze stoßen hier in mancher Hinsicht mehr als anderswo im Raume zusammen.

Worin diese Gegensätze ihren Grund haben, wurde bereits angedeutet. Hier sei aber das Problem nochmals angeschnitten. Vor allem gipfelt es in der beim russischen Mann und bei der russischen Frau viel mehr als überall divergierenden Einstellung zur Geschlechtsfrage. Denn wie für alle Frauen der Welt, so bildet auch für die Mehrzahl der russischen Frauen, die bei aller äußerlichen Vermännlichung innerlich sehr fraulich, überaus emotionell veranlagt sind, die Liebe das zentrale seelische Erlebnis. Und trotz aller Versachlichung durch die sowjetrussische Jugend zeigt sich eben hierin eine große Diskrepanz zwischen den Geschlechtern. Während die Mehrzahl der in der ange//[272] führten Odessaer Enquete befragten männlichen Studentenschaft die Liebe als Realität überhaupt nicht anerkennt, geben von den weiblichen Studierenden immerhin fünfzig Prozent zu, daß ihr Geschlechtsleben nur durch innere Ursachen, durch Liebe und Leidenschaft geweckt wurde. Vielfach wird behauptet, und es ist auch kaum zu leugnen, daß die russischen Frauen im Leben aktiver, stärker, energischer und zielbewußter sind als ihre häufig etwas femininen, schwankenden Männer, daß das „schwache Geschlecht“ dem „starken“ überlegen ist. Und das läßt sich vielleicht dadurch erklären, daß – während im Dasein des russischen Mannes das sozial-ethische Moment überwiegt – bei der russischen Frau, als Frau an und für sich, immer das Individuelle, das Persönliche und das Ästhetische vorherrscht. […] Die russischen Männer, denen man eine starke, gesunde Sinnlichkeit gewiß nicht absprechen kann, denen aber die verfeinerte, vergeistigte Form der Sexualität, die Erotik, so gut wie verschlossen ist – weil die meiste Intensität ihrer eurasischen Geistigkeit auf anderem Gebiete liegt und sich der Austragung sozial-ethischer Probleme zuwendet –, sind aber wohl aus diesem selben Grund auch wenig dazu befähigt, das ihrem Wesen differente Seelisch-Geistige der Frau zu wecken, zu gestalten. Die Russen sind in der Liebe eigentlich phantasiearm. Deshalb auch, und nicht allein wegen //[273] der so vielfach zitierten ausländischen Seidenstrümpfe die großen Chancen der Fremden bei der russischen Weiblichkeit. 

Die Folge davon ist, daß die Klagen der sich außerhalb der sowjetrussischen Grenzen aufhaltenden „Spez“-Gattinnen, die sich ähnlich wie im Weltkrieg verlassen sehen, täglich lauter werden. […] Dabei darf man nicht vergessen, daß die russischen Männer schon seit eineinhalb Dutzend Jahren, unter Einsetzung aller Kräfte mit angespannten Nerven im schwersten Feuer stehen. Sind doch zum Übermaß der während des imperialistischen Krieges, der Revolution, des Bürgerkrieges und der Hungerjahre überstandenen körperlichen und seelischen Leiden, in deren Ertragen das russische Volk ohnedies ungleich stärker ist als jedes andere, in den letzten Jahren – neben der ständigen Angst vor einem Interventionskrieg – noch die ungeheuren Anforderungen des Fünfjahresplanes hinzugekommen! Übermenschliche Arbeitsleistungen, durch die die Sexualtriebkraft der russischen Männer erwiesenermaßen bedeutend herabgesetzt wurde. Die Männer, die gleich den Frauen in Rußland ohnedies immer früh alterten, sollen nach Aussage der Ärzte jetzt schon Mitte Vierzig größtenteils zur Liebe unfähig sein. 

Noch bis vor ganz kurzer Zeit gab es – wegen der unterbrochenen Woche – keinen allgemeinen Ruhetag, kein Wochenende, keinen Ausflug, und wegen der miß//[274] lichen Wohnverhältnisse gibt es auch heute kaum eine Möglichkeit, in seinem Heim mit sich allein zu sein oder zu zweit, eine wirkliche Mußestunde zu genießen. Die russische Frau, sogar die Frau von heute, die zu einem Teil schon im Morgen lebt, zum anderen aber, wenn auch nur leise, das Gestern berührt, will, obwohl sie es prinzipiell leugnet, doch wie jede Frau, in irgendeiner Form als Weib umworben sein. Auch sie verlangt Rücksicht, Zärtlichkeit, Erotik und trägt unbewußt eine verschwiegene Sehnsucht nach Romantik im Herzen. Ihre Welt aber ist entzaubert, das Persönliche, der Mann, die Liebe nimmt darin – aus Mangel an Zeit und Gelegenheit – recht wenig Platz ein, ist kaum existent, und es gibt nur noch „ein bißchen Bett“. So wird von Millionen in ihrem Gefühlsleben ungeweckter, nach einer Entladung, einer Entspannung der seelischen Kräfte dürstender Frauen ihre ganze Energie, Begeisterungsfähigkeit, Opferwilligkeit, Leidenschaft und die angesammelte Glut eines undurchlebten Weibtums in technisch Dimensionen, Ziffern, Superlative umgesetzt und dem Altar der Platiletka freudig und selbstlos hingeopfert. Wir werden weiter unten sehen, daß es wahre Wunder sind, die da vollbracht werden, und daß die Frauen, wie einst in den ersten Reihen der russischen Revolution, so heute an der Spitze des modernen Epos der Arbeit, der Mythenschöpfung schreiten. 

Allerdings: einmal im Jahr gibt es einen mehrwöchigen Urlaub, den man für gewöhnlich an jener sinnberauschenden Küste verbringt, die im südöstlichen Winkel des Schwarzen Meeres, bei Batum, beginnt, und sich fast ununterbrochen bis zur Westküste der Krym erstreckt. Wie kein anderer hat Gladkow in seinem schon erwähnten Roman Die trunkene Sonne das azurne Rauschen dieses // [275] Meeres, den durchsichtig darüber gewölbten Himmel, die vom betäubenden Duft der Wasserpflanzen und Mollusken gesättigten Luft geschildert, in der man „vor Glück hinsterbend“ ausruht. Denn „hier ist der Sonnenschein dem Fünfjahresplan nicht unterstellt“ (Knickerbocker), und somit werden auch alle theoretischen Ansichten über Liebe für drei oder vier Wochen hinfällig. Hier, an der Roten Riviera, zieht man die besten Kleider an, die man besitzt, und legt seine stehenden Redensarten ab. Hier holt man die Schmink- und Puderdose aus dem Koffer und die in den übrigen elf Monaten brachliegenden Gefühle aus dem Herzen. Hier sonnt man und flirtet den ganzen lieben Tag am Strande und badet im Mondschein einer subtropischen Nacht. Hier ist man lyrisch gestimmt, macht Dummheiten und nimmt den heißen Kampf der Geschlechter auf. Es ist der Kampf zwischen elementarer männlicher Sinnesbegierde, „noch nicht Eros gewordener Sexualität“, und dem das ganze Jahr über im Verborgenen blühenden Strauß, der nuancenreichen weiblichen Erotik. Kaum aber hat der Kampf begonnen, schon muß er bis zu den nächsten Sommerferien aufgeschoben werden. 

Es ist ein bißchen wenig für den Typus Vollblutweib, zu dem die Russin zweifellos gehört. Und so ist es vielleicht doch nicht so seltsam, wie es auf den ersten Blick erscheinen mag, daß gerade in dem Lande, in dem es für die Frau keine soziale und ökonomische Tragödie mehr geben soll, Prof. Njemilows Buch Die biologische Tragödie der Frau entstehen konnte. Von marxistischer Seite wurde diese entmutigende Theorie mit heftigem Widerspruch aufgenommen: „Die Geschlechterfrage“, erklärt der Sexologe Prof. Salkind, „hat niemals als eine rein biologische Frage gegolten.“ Trotzdem erlebte das Buch // [276] Njemilows, das auch ins Deutsche übersetzt wurde, in Sowjetrußland, wo die Frau tatsächlich ihre biologische Tragödie weniger zu spüren bekommt als anderswo – weil diese durch Präventivmittel, Legalisierung des Abortus und durch die ganze Gesetzgebung nach Möglichkeit gemildert ist – in kurzer Zeit fünf Auflagen. 

Außerdem erhielt Njemilow eine Menge Zuschriften, in denen nicht nur Frauen sondern auch Männer zu den von ihm aufgeworfenen Fragen polemisch Stellung nehmen. Einen Teil dieser Briefe hat es im Nachwort zur letzten russischen Auflage seines Buches veröffentlicht. Daß es eine biologische Tragödie gibt, bestreitet keine der Frauen. Viele verweisen aber darauf, daß sie in der Hingabe an einen Mann und in der Mutterschaft die größte Befriedigung finden. […] Neben diesem allgemeinen kommt aber auch das schon angedeutete spezifisch russische Frauenprobleme zur Spra//[277]che. Am meisten beklagen sich die Briefschreiberinnen Njemilows darüber, daß sie unter der Diskrepanz im männlichen und weiblichen Verhalten zum Problem der Liebe, das heißt, unter der Hemmungslosigkeit, der Leichtfertigkeit leiden, mit der Männer dem Geschlechtsakt gegenüberstehen. „Sie könnten sich schon etwas zusammennehmen, die Männer und ihre ‚Liebe‘ nicht mit so verbrecherischem Leichtsinn vergeuden“, ist der ständig wiederkehrende Refrain dieser Zuschriften. Alles wird aber durch die eine Stimme übertönt: „Nicht unter der ‚biologischen Tragödie‘ leiden wir, sondern unter dem ‚Chamstwo‘ der Männer“, was im Russischen eine Synthese der schönen Begriffe: Grobheit, Rohheit, Bestialität, Brutalität, mit einem Worte den Gipfel der Unkultur bedeutet. Diese Behauptung trifft wohl in manchen Fällen den Kern des Problems, und so darf man vielleicht sagen: die Tragödie der russischen Frau scheint augenblicklich weniger biologischer als psychologischer Natur zu sein. 

Während man in Westeuropa allgemein vielleicht an einer Überkultur, einer zu großen Differenziertheit des Sexuallebens leidet, die so manche in Rußland kaum vorhandene Folgeerscheinung aufweist […] ist das Liebesleben der Russen viel zu oft zu einem seelenlosen Geschlechtsverkehr degradiert, zu einer bloßen Bedürfnisbefriedigung, ohne höheren persönlichen Anspruch. Die Männer scheinen sich hierbei ganz wohl zu fühlen, die Frauen weniger. – So zeigt es sich, daß die sowjetrussischen Frauen zwar alle Rechte haben, nur nicht das eine Recht, Weib in einem höheren Sinn des Wortes zu sein. Kaum erblüht, werden sie als erledigt angesehen: gilt doch in den // [278] Augen ihrer Männer als etwas primitiver Maßstab für die Altersgrenze nicht der Stärkegrad der gegenseitigen seelisch-geistigen Durchdringung, nicht der Eros, der mit den Jahren sogar zunehmen und sich vertiefen kann, sondern zunächst die nackte, rein sexuelle Anziehung und Eignung. 

Den russischen Frauen wäre sehr zu wünschen, daß man in den bevorstehenden kulturellen Fünfjahresplan noch einen neuen Punkt aufnimmt: die kulturelle Hebung der gegenseitigen Beziehung der Geschlechter. 

In: F. Halle: Die Frau in Sowjetrussland. Berlin-Wien-Leipzig: Zsolnay 1932, S.271-278 (Auszüge)

Otto Heller: Sibirien. Ein anderes Amerika. Berlin 1930

Der Wettlauf mit Amerika beherrscht die westliche Welt. Ein Wettlauf kann eine sehr schöne und wohltuende Sache sein. Vom Wettlauf des bürgerlichen Europas mit der Welt von Wallstreet und Hollywood kann man das leider nicht behaupten.

Amerika ist Trumpf, Schlagwort und System. Wenn etwas das hat, was man mit einem der furchtbarsten Worte der Gegenwart „Tempo“ nennt, so ist es amerikanisch. Jede Raserei ist amerikanisch, in der Vorstellungswelt des Westens: das Autorasen wie das Wolkerkratzerbauen. Von der anderen Raserei, der Ausbeutung des Arbeiters, der Vernichtung all dessen, was vergangene Zeitalter als menschlich bezeichneten, spricht man nicht gerne. Ein einziges Reisebuch aus der endlosen Kette von Amerikabüchern hat uns gezeigt, mit welch einem Paradies wir um die Wette laufen. 

Zwei Opfer gibt es bei diesem Rennen: den arbeitenden Menschen und die Natur. Beide sind nur Objekt. Die Subjekte sitzen in Palm Beach oder in Cannes.

Vor dreihundert Jahren kamen die Väter der Yankees in die Gefilde Winnetous und Mitahasas. Eine Rasse ist vernichtet worden und eine Sklaverei ohnegleichen ist entstanden. Man sieht immer nur das Woolworth-Building. Die Freiheitsstatue ist nicht einmal mehr zu Reklamezwecken verwendbar. Die neue Welt ist nur der Schlußpunkt, vielleicht noch das Ausrufungszeichen der alten. Außerdem liefert sie Wolkenkratzerziffern, Rekordzahlen von reichen Leuten, Selbstmorden, Verbrechen, Menschen, die des Hungers sterben, Börsenkrachs, Golddepots in Bankkellern, Aktienpaketen, Interessen, Einflußsphären und Automobilrennen. Jeder Rekord ein Geschäft. //

Auch der Selbstmordrekord. Erst recht der an Naturschätzen. Ein Bombengeschäft im wahrsten Sinne des Wortes. Siehe Mexiko, Nicaragua und Haiti.

Vor dreihundert Jahren kamen die Kosaken  nach Sibirien. Sie haben keine Rasse vernichtet. Sie gerieten selbst in eine Sklaverei ohnegleichen, obzwar sie dessen erst zweihundert Jahre später gewahr wurden. Sie waren Sklavenhalter im kleinen. Nicht mehr. Und als die Sklaven sich erhoben, wurden auch ihre Peiniger frei. Seltsam, aber wahr. Man sah immer nur die Katorga. Man las immer nur Dostojewskis Memoiren aus einem Totenhaus. Das war nicht anders möglich und es war auch recht so. Sibirien war das Gegenstück zu Amerika – schon damals. Dort klirrte die Börse, hier klirrten die Ketten. Die Börse plünderte einen Weltteil. Die Ketten legten sich vor den Toren des anderen. Amerika wurde wachgemordet, in die Geschichte geschossen. Sibirien schlief – bis gestern. 

Wahrscheinlich war das sein Glück. Die Geschichte geht ihre eigenen Wege, ohne Zufall, nach strengem Gesetz, das nur nicht allstündlich offenbar ist. Die neue Welt liegt nicht jenseits des Atlantik. 

Die neue Welt liegt nicht vor, sondern hinter uns. Wir haben es nur nicht gewußt. Wir sind, mit dem Gesicht nach Westen, um die Wette gelaufen. Mit dem falschen Partner. Es ist an der Zeit, daß wir uns umwenden. Nach Osten. Da gibt es leider ein abgebrauchtes lateinisches Wort vom Licht, das im Osten ersteht. Dort ist es allerdings schon lange hell. In Sibirien jeden Tag um rund fünf Stunden früher als bei uns. Es wird bald um fünf Stunden heller sein, dort drüben. Die Sonne ist vor dreizehn Jahren an der richtigen Stelle aufgegangen. 

Wir laufen einstweilen immer noch um die Wette. Noch eine Lichtreklame, noch eine Rolltreppe, noch ein Über-//saxofon, noch ein Tonfilmpatent,noch eine amerikanische Beteiligung bei der Aktiengesellschaft X & Cie.! In letzterem Fall endet der Wettlauf meistens zugunsten der anderen Seite. Wir laufen noch immer um die Wette. Auf jedem Gebiet: von der Prostitution bis zum Bau neuer Kirchen. Neger und Kulis haben wir auf Lager. Sogar mit der Annehmlichkeit, daß sie über eine weiße Haut verfügen. So bequem ist Europa. Man glaubt es gar nicht. 

Im Jahre 1893 gründeten Eisenbahnarbeiter um die Stelle des Brückenbaus über den Ob, in der Baraba-Steppe, ein Dorf. Sie nannten es Alexandrowsk. Im Jahre 1895 kamen den Arbeitern Händler nach. Man taufte die kleine Stadt, die aus dem Dorf entstanden war, in Nowo-Nikolajewsk um. Im Jahre 1897 zählte man fünftausend Einwohner […] 1910 wohnten schon fünfzigtausend in der Stadt, die noch immer nichts anderes war als ein großes Dorf. […] Im Jahre 1921 verlegte man den Sitz der sibirischen Regierung, des „Sibrekom“ (Sibirisches Revolutionskomitee) von Omsk nach Nowo-Nikolajewsk; die Zahl der Einwohner stieg bis 1923 auf sechundsiebzigtausend. Im Jahre 1926 fand man, daß der Name der Stadt nicht mehr in die Zeit passe. Man gab ihr den dritten Namen, der ihr nicht mehr genommen werden wird. Man nannte sie Nowosibirsk, die „Neusibirische“. Es gibt kein Altsibirien, kein altes Stück „Sibirsk“, das sich zum „Neuen“ verhielte wie New York zu York. Nowosibirsk ist das neue Sibirien. Gleichsam ein Musterlager.

Im Jahre 1926 hatte die Stadt hundertzwanzigtausend Einwohner. Im Jahre 1929 schätzte man die Einwohner-// zahl auf rund einhundertfünfzigtausend. Das ist amerikanisches Tempo. Freilich gibt es in Nowosibirsk keine Erdhütten, die im Schlamm versinken, neben Wolkenkratzern aus Glas, Stahl und Marmor. Gleich neben dem Bahnhof wächst eine Arbeiterstadt aus dem Boden. Der Bahnhof ist alt und klein. Aber die Wohnhäuser der Arbeiter sind groß und luftig. […]

Chicago wuchs in knappen hundert Jahren zur Millionenstadt. Vorher war Prärie an den Ufern des Michigan-Sees. In Chicago wachsen noch immer die Türme des Reichtums zum Himmel. Es stehen noch immer die Erdhütten der Ungenannten und Ungezählten, der Hunderttausenden, neben den Palästen. In Nowosibirsk gibt es kein Floptown. Das ist ein Stadtteil von Chicago. 

Kap.: Wettlauf mit Amerika (Auszüge), S. 246-252.

[N.N.] Was die Bolschewiken literarisch geleistet haben. Eine Unterredung mit dem Volkskommissar für Bildungswesen Lunatscharski. [Proletarische Literatur/Theater]

Der bekannte Bolschewik Lunatscharski, der oberste Chef des russischen Bildungswesens, hat dem Moskauer Korrespondenten der Berliner „Roten Fahne“ die folgenden, selbstverständlich rosig gefärbten Mitteilungen gemacht:

Elf Jahre proletarischer Diktatur sind an der Kunst der Sowjetunion nicht spurlos vorbeigegangen. Die proletarische Literatur in der Sowjetunion bring immer neue Überraschungen: das russische revolutionäre Theater steht einzigartig da; die proletarischen Elemente dringen auch in die bildenden Künste und selbst in die Architektur immer tiefer ein; am längsten widersteht noch die Musik dem Ansturm der proletarischen Kräfte. Die proletarische Wirklichkeit erhält in der Kunst bereits ihre entsprechende Gestaltung. Die Fragen: „Gibt es eine proletarische Kunst? Ist eine proletarische Kunst möglich?“ werfen drüben nur solche kleinmütige „Revolutionäre“ auf, die auch an den sozialistischen Aufbaukräften des russischen Proletariats zweifeln (siehe den Fall Trotzki). Das Leben straft diese antiproletarischen Theologen rücksichtslos Lügen. (Gerade das Gegenteil ist der Fall. Das Leben beweist täglich, daß der Bolschewismus eine politische Farce ist, deren Ende nicht mehr aufzuhalten. D. Red.)

*

In den letzten Monaten in den letzten zwei Jahren ist bei uns eine mächtige proletarische Literatur entstanden. Am stärksten äußert sie sich in der Form des großen Romans und der Erzählung. In der Poesie ist momentan eine Pause eingetreten. Vor zwei bis drei Jahren repräsentierte eine Gruppe von proletarischen Dichtern die Sowjetliteratur. Nun aber liest man wenig starke Gedichte. Hoffentlich wird dies nicht lange dauern; doch muß man feststellen, daß gegenwärtig die proletarische Prosa bei uns höher entwickelt ist als die proletarische Poesie.

Ein außerordentlich bedeutender neuer Roman ist „Tichi Don“ („Der stille Don“) von Scholochow, einem ganz jungen Arbeiter. Dann ein schönes und tiefes Werk, der Bauernroman „Bruski“ von Panferow. Werke, die den in Deutschland gekannten Roman „Zement“ von Gladkow bereits überragen. Ein wichtiger Roman Lessozawod“ („Holzfabrik“) von Karaveja, einer Frau. Alles, was sie bisher schrieb, war bereits interessant, doch sie gab in diesem Roman zum erstenmal ein umfassendes, groß angelegtes soziales Bild. Lebedinsky, künstlerisch schwächer als die anderen; aber er gibt eine scharfe soziale Analyse, er greift tief in die Wirklichkeit ein. Ein früherer wichtiger Roman „Nazgrom“ („Zerstörung“) von Fadejew (in deutscher Sprache im Verlag für Literatur und Politik unter dem Titel „Die 19“ eben erschienen). Vor den Werken von Scholochow, Panferow und Karavajeva der stärkste proletarische Roman in der Sowjetliteratur.

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Auch im Theater erfocht die proletarische Literatur große Siege. (Na! Na! D. Red.) Die stärkste Wirkung ging von „Relsje gudjetj!“  („Die Schienen tönen“) von Kirschon aus, aufgeführt im Theater MGSPS. Auch Bilizerkowksi hat starke Dramen geschaffen. Eines seiner Werke, „Sturm“, war beinahe ein ebensolcher Theatererfolg wie „Relsje gudjetj“ .

Was die proletarische Dichtung anbelangt, haben die interessantesten proletarischen Dichter in letzter Zeit wenig gegeben. Das Poem „Motele“ („Die Erzählung vom rothaarigen Motele, dem Herrn Inspektor, dem Rabbiner Isai und dem Kommissär Bloch) v. Utkin war sehr stark und vor zwei Jahren eine der beliebtesten und gelesensten Dichtungen (fünf Ausgaben publiziert). Doch nichts Neues von ihm, was diesem ebenbürtig wäre. Wie seine angekündigte Dichtung „Die Kindheit“ sein wird, kann man noch nicht wissen. Auch der andere begabte Dichter, A. Sharoff, hat neuerdings wenig geschrieben. Um seine „Magdalena“ wurde viel gestritten. 

Die neuen proletarischen Schriftsteller stellen sich als Aufgabe: das neue Leben, wie es die proletarische Revolution geschaffen, gründlich kennenzulernen und künstlerisch zu gestalten. Darum ist die neue sowjetrussische Literatur nur realistisch. Früher war der Bürgerkrieg der hauptsächliche Stoff, die großen Ereignisse des Bürgerkrieges hatten solchen Eindruck gemacht, daß sich der Schriftsteller von ihnen nicht lösen konnte. Heue sind bereits viele Romane, die den sozialistischen Aufbau, die sozialistische Konstruktion schildern, jedoch ohne jede Verfälschung, ohne jede Schöntuerei. Bei den proletarischen Schriftstellern sind nur ganz selten und ganz untergeordnet Spuren von Skepsis, von Kleinmütigkeit. (Begreiflicherweise, weil sich die meisten den Gefahren einer freimütigen Kritik im erzreaktionären Rußland nicht aussetzen wollen. Wer die Wahrheit sagt, wird gemaßregelt. D. Red.) 

In: Neues Wiener Journal, 4.1.1929, S. 6.

Eugen Hoeflich: Bolschewismus, Judentum und die Zukunft. (1919)

In der berliner Zeitschrift „Die Arbeit“ wurde letzthin von Ludwig Strauß eine Diskussion über Bolschewismus und Judentum eingeleitet. Wenn wir nun auch als Zeitgenossen heute noch kaum den ruhigen Blick zu einem richtigen Urteil haben können, darf dennoch versucht werden, noch ein paar Worte – vielleicht von einem andern Standpunkte aus – darüber zu sprechen. 

Bolschewismus: lassen wir für einen Augenblick die Erinnerung an alle tendenziösen Zeitungsmeldungen, an die Taten sadistischer Marodeure des sozialen Kampfes und fragen wir uns ruhig: was ist die Ursache des verhältnismäßig großen Anteiles von Juden an dieser neuen Form ökonomischen Kampfes? Sind es unedle Motive, Anlässe persönlicher Gewinnsucht, die sie in die ersten Reihen treiben?

Nein, trotz haßerfüllten Lügen: Nein. Dieser bolschewikische Jude will Europa nicht anzünden, um sich die Taschen zu füllen, ihn treibt die reinste Idee, die aber in ihrer Ausführung tragischer Irrtum ist, Folge einer durch den Krieg geborenen Massenpsychose, der die Psyche vieler Juden leichter zugänglich ist als die anderen Völker, die zweitausend Jahre Galuth nicht hinter sich haben. 

Das Judentum kann – ich glaube Buber tat es – in zwei Gruppen geschieden werden: in die mit dem weiten Herzen: die idealistischen Träger der hinreissendsten Gefühle, und in die mit dem vertrockneten kleinen traurigen Golusherzen: die Krämernaturen, die Geldmenschen. Die Idealisten unter uns, Vollblutjuden durchaus, auch in ihren Irrtümern, spontan, urkräftig, unbedingt, aber auch konsequent und zähe im Verfolgen einmal gefaßter Ideen, selbst bis zur Unsinnigkeit, und stets ihrer Zeit um ein Stück voraus, von diesen Idealisten kamen Etwelche zum Bolschewismus, wie sie zur Sozialdemokratie kamen, wie sie stets zur Freiheitsbegeisterung für das Ideal irgend eines Volkes sich fanden. Immer in den ersten Reihen, glühend, fanatisch, ekstatisch. Hier in dieser Ekstase liegt das spezifisch Jüdische, Orientalische. Chassidim der Befreiung, ekstatische Fanatiker für die Menschheit, sprengen sie, die tausend Jahre bedrückt waren, endlich die Fessel und lodern auf in dem Brand, den sie kommen sahen, ehe er noch aufbrach. Darum ist dieser Jude, der idealistische Jude der Galuth Revolutionär, weil er aus dem Leiden seines eigenen Blutes ungeheures Mitgefühl hat zur unterdrückten Menschheit. Und weil der rein menschliche Wunsch, frei zu werden, endlich, allzuplötzlich nach tausendjähriger Gefangenschaft zur Erfüllung kommend, kein System für den Einzelnen vorbereitet hat, reißt er nieder, was ihn bis nun hielt, wirkt grenzenlos – bis mit einem dieser jüdische Mensch erkennt, daß alle äußerliche Freiheit, alle ökonomische Freiheit lange noch nicht Freiheit ist. Nun erst erkennt er sich, besinnt sich und zieht sich zurück: will wieder zu der Innerlichkeit kommen, die er von sich warf, als die Fahnen Sturm riefen in den Gassen der unterdrückten Menschheit. Nun erkennt er, daß sein Kampf gegen das Böse nutzlos war, da dieser europäischen Menschheit nicht die Bereitschaft zum Bösen schwinden kann – eben weil sie nicht innerlich ist. Die aber, deren Erkennen im Taumel der neuen Gefühle nicht zur Klarheit wird, werden weiterkämpfen, bis sie die Realisation ihrer Ideen erfühlen. In dem Augenblicke aber, da ihre Idee konkrete Formen anzunehmen beginnt, werden sie sie verlassen, denn die Kleinzügigkeit der Ausführung ist nicht ihre Sache. Groß und ihnen eigen ist nur der Weg, aus dem die Ströme stürzen, welche die Angelpunkte der Menschheit umbranden und immer neue Ideen gebären, und daraus entwindet sich die große Tragik des Juden mit dem weiten Herzen, daß er seiner Zeit immer um ein Stück voraus ist, um jenes Stück, das ihn, wenn er Glück hat zum Märtyrer, wenn er Unglück hat, aber zum Narren macht, oder aber zum Unentwegten, über den die Geschichte lächelt. […]

Wie immer aber die Juden beschaffen sind, die dem Bolschewismus anhangen, ihre jüdische Abstammung ist nicht die direkte Ursache dieser ihrer politisch-sozialen Tätigkeit. Die direkte Ursache vielmehr ist jene europäische Masse, deren Bestialität gegen Schwache und Geschwächte stets Äusserung ihrer Existenz war, der Judentum gleich war, mit etwas, das unterdrückt werden muß. Nichts aber ist ewig zu unterdrücken, ohne daß es mit Gegendruck antworten würde. Wenn nun aber jene Juden, die ihr Volkstum verloren, in bolschewistischen Formen reagierten, kann der Bolschewismus natürlich nicht als eine jüdische Angelegenheit bezeichnet werden, denn die gesunden Elemente des jüdischen Volkes reagierten in eine andere Richtung, in die des Zionismus, der in seinen Anfängen nichts anderes ist, als der elementare Freiheitsschrei der Unterdrückten, (und nur reiner Gedanke bleiben kann, solange er Schrei bleibt) die dem Geknechteten immanente Tendenz zur Revolutionierung seiner ihm gleichen Umgebung. Beide sind revolutionär, der gesunde und der kranke Jude; der Eine aber bleib revolutionierend beim Volk, um es und die Menschheit zu erlösen, der Andere verließ das Volk, weil er in dem tragischen Irrtum befangen war, daß Volk ein überholter Begriff sei und die Menschheit aus einer mehrweniger homogenen Masse bestehe, die man durch Anwendung gewisser Theorien innerlich und äußerlich zu einem Block zusammenschmelzen könne. 

In dieser falschen Ansicht scheint mir auch die schließliche Lebensunfähigkeit des Bolschewismus begründet zu sein, jenes von Bucharin festgelegten Programmes, das Individualität im Einzelnen wie in den Völkern nur als etwas zu Überwindendes kennt. Hier liegt der Irrtum des phantasiearmen Theoretikers, der am Schreibtisch die Menschheit ummodelnd, plötzlich faktische Macht in die Hände bekommt und nun seine Theorie in Tat umzusetzen versucht. Fleischgewordene Rechenmaschine, die den Eintritt des glücklichen Zeitalters genau errechnet hat, hat ein System aufgebaut, das zwar folgerichtig entwickelt, aber an das der menschlichen Phantasie sich entringende Bedürfnis nach steter, auch äußerer Veränderung und an den unbrechbaren Willen des Individuums zur Individualität vergißt. Der Jude aber ist letzten Endes Romantiker und Individualist, mehr als ein Anderer. Ihn wird der Bolschewismus schließlich abstoßen; […]

Er wird voraussehen, daß der Geist auch des bolschewistischen Europas schließlich verflachen wird, wenn die Jugendlichkeit der Idee in den Alltag der Organisation hineingeglitten ist (wie es mit dem Geiste aller europäischen Bewegungen geschah, denn sie alle waren irgendwie ökonomisch gerichtet) er wird erkennen, daß neue Klassen aus der Tiefe heraufwachsen werden, die die ökonomische Diktatur in gleichem Maße handhaben werden, wie die früheren Herrenklassen, daß eine europäische Revolution stets in ihren Folgen nur eine Eintagsrevolution ist, selbst wenn ein monatelanges Blutband ihren Weg bezeichnet, daß sie ausschließlich Magenfrage ist, wohl eine Station in der Tragödie der europäischen Menschheit, dennoch aber nur blutige Groteske einer wirklichen Revolution, denn ihr Urgrund ist nicht Revolutionierung der Herzen, sondern Revolte der Magennerven, und ihr Ziel nicht die Menschheit, sondern die Bequemlichkeit. […]

Ich glaube anders: vom Bolschewismus trennt uns ebensoviel wie von jenem Judentum, das sich europäisch fühlt und europäische Maße sich zu eigen machte. Der Jude, der die Diskrepanz zwischen Bolschewismus und Judentum erkennt, wird auch den Zwiespalt zwischen Judentum und Kapitalismus, Europäismus, Merkantilismus erkennen und wird die reinsten Formen des Lebens auf der Bahn des Volkes suchen. 

Er wird entweder als Mystiker sich den göttlichen Kern zusprechen und die Möglichkeit der Vereinigung mit Gott, um so die Menschheit zu erlösen. Er wird Religion und Dogma übersteigend, in die klarsten Höhen der Religiosität gelangen und so wirken auf die fernste endliche Zukunft seines um die Zukunft der Menschheit besorgten Volkes. Oder aber er wird Formen für diese Tage suchen, die den Möglichkeiten des Judentums, völkerverbindend sein zu können, freie Bahn schaffen und er wird in der gegebenen Realität verbleibend, zu retten suchen, was an der Menschlichkeit in dieser Menschheit für diese Tage noch zu retten ist. 

Man müßte hier über die ungeheuer fruchtbaren ethischen Werte des Judentums sprechen, wollte man die Bahn wieder aufzeigen, in der die Notwendigkeit liegt, sich zu bewegen. Es ist sicher, daß am Ende dieser Bahn jener Sozialismus steht, der den Klassenbegriff nicht kennt, zu dem nicht leibliche Not ausschließlich führt, sondern der Wille zur sozialistischen Gesinnung der Menschheit, die aus sozialistisch gesinnten Völkern besteht. Auf dieser Bahn aber liegt kein Bolschewismus, keine Sozialdemokratie, keine ökonomische oder politische Partei und keine Gewalt, denn diese Bahn mündet in Asien, in jenem Asien, das Religionen stiftet und Gemeinschaften, wo Europa höchstens Staaten bauen kann und Klassenzwänge, in jenem Asien, das sozialistisch ist vom Anfang seiner Idee bis zu ihrer Diktatur der Liebe über die Menschheit. 

Judentum und Bolschewismus haben nichts gemein. Wenn beider Ziel auch das höchste der Menschheit ist, können sie nicht zueinander kommen, denn der Absolutheit des Einen entspricht nur Zweckmäßigkeit, Bedingtheit des Andern, der Sehnsucht nach der wirklichen Menschheit nur der Wunsch die Produktion auf das Höchste zu steigern und die Konsumtion so angenehm als möglich zu machen. […]

Diese Frage wird einmal aufgeworfen werden, die Frage nach der reinsten Form des Nebeneinanderlebens, nach der an-archischen Form. Sie wird beantwortet werden, wenn entweder Europa vollends zertrümmert sein wird, oder aber, wenn es sozialistisch, also menschlich denken, fühlen und handeln wird, wenn Kapitalismus, Bolschewismus und alle andern Ismen verschwunden sein werden.

Hier die Ersten zu sein, sind die ungeheuren Möglichkeiten unserer palästinensischen Zukunft um die Zukunft der Menschheit. 

In: Esra, H. 1/1919, S. 41-47

Richard A. Beermann: Der Bolschewismus als Gefahr und als Hoffnung.

Aus Rußland heimgekehrte Reichsdeutsche veröffentlichen im „Vorwärts“ einen „Warnruf vor dem Bolschewismus“. Sie sagen:

„Friede, Brot, Freiheit war die Parole, mit der die Bolschewisten das Volk zu ködern suchten. Mit der Miene des Menschenfreundes, des Weltbeglückers, des zürnenden, aber gerechten Richters, versprachen sie dem auflauschenden, in der Not langer Trübsal schmachtenden Volke eine neue, gerechte, glückspendende Weltordnung, ein Paradies auf Erden!

„Und was grinst jetzt, nachdem die Prunkhüllen gleisnerischer Phrasen eine nach der anderen herabgefallen sind, aus diesen Versprechungen hervor? Die leibhaftige Hölle mit all ihren Schrecknissen.

„Friede — welch blutiger Schwindel! Die wenigen, beim Ausbruch der Revolution gefallenen Opfer haben sich vertausendfacht, Leichenhügel türmen sich auf. Bruder- und Bürgerkrieg wütet im Lande, geht um in Dorf und Stadt wie ein hungriger blutlechzender Wolf, Leben und Eigentum ist ständig in Gefahr, alles geht drunter und drüber. Schon weigert sich die Rote Garde, noch tiefer und weiter in Blut zu waten. Als Mordschergen und Henkersknechte sind deshalb Chinesen gedungen worden.

„Und zu all dem schleicht Armut und Hungersnot durch die Städte und Dörfer, die Preise für Lebensmittel sind unerschwinglich, der Acker verödet, die Fabriken stehen still, weil die Rohstoffe fehlen, Millionen von Arbeitern sind brotlos, der Wohlstand des Bürgertums und der Bauern ist zerstört, Petersbürg hat heute Einwohner weniger als 1914, Handel und Wandel ist völlig im Absterben, das ganze Finanzwesen gerät durch kopflose, überstürzte Maßnahmen immer tiefer in Wirrwarr und Zerrüttung!“

Die deutschen und deutschösterreichischen Freunde der Bolschewiken behaupten mit Heftigkeit, das jetzt in Rußland herrschende System werde von der Bourgeoise böswillig verleumdet. Wir wissen genug von der Wahrhaftigkeit der Weltpresse, um zugeben zu können, daß wir wahrscheinlich über Rußland auch nicht genauer und unparteiischer informiert werden, als über andere Weltgegenden. Greuel aufzubauschen ist der Lieblingssport der internationalen Presse. Man möchte zur Ehre der Menschheit annehmen, daß nur der zehnte Teil von dem Entsetzlichen wahr ist, was uns immer wieder aus dem bolschewikischen Rußland berichtet wird. Aber auch dieser zehnte Teil wäre grauenhaft. Es ist schwer, darüber ein Urteil zu gewinnen, denn die Bolschewiken haben die Preßfreiheit abgeschafft. (Aus einer deutschen bolschewikischen Broschüre: „Die Bolschewiken denken nicht daran, Rede- und Preßfreiheit im bürgerlichen Sinn zu verwirklichen“.) Folglich gelangen aus Rußland nur die gewissen Tataren- und Emigrantenmeldungen ins Ausland: ein Land ohne Preßfreiheit wird immer verleumdet und ist selbst schuld daran. Die Gegner des Bolschewismus leben, wie die Bolschewiken nicht leugnen, unter dem furchtbaren Drucke eines blutigen Terrors; von ihnen ist eine unparteiische Berichterstattung kaum zu erwarten. Tatsächlich werden manche Schilderungen, die sie in der letzten Zeit verbreitet haben, aus der Psychologie gehetzter Verfolgter und Emigranten zu erklären sein.

Wie oft haben wir nicht von dem unmittelbar bevorstehenden Zusammenbruch des Bolschewismus gehört! Dann aber gewinnt er plötzlich Erfolge, dehnt sich aus, zeigt doch eine zähe Lebenskraft, die tiefere politische und soziale, ja religiöse Gründe haben muß.

All das hat die Welt schon einmal erlebt, und zwar im Jahre 1793. Mit dem jakobinischen Terror hat der bolschewikische das systematische Wüten gemeinsam, die blutige Vergewaltigung, die Lähmung der Gesellschaft, auch eine ungeheuere Energie, der oft das Unmögliche gelingt. Wie die Jakobiner haben die Bolschewiken sich gegen die ganze Welt zu behaupten und wie die Jakobiner möchten sie im Namen des Friedens und der Freiheit die ganze Welt unterwerfen. Fünfvierteljahrhunderte bevor Radek davon träumte, am Rhein gegen den englischen Imperialismus zu kämpfen, unternahm es der Berg, am Rhein gegen diesen selben englischen Imperialismus und seine kontinentalen Verbündeten in den Krieg zu ziehen; in einen Krieg, der mit großen Verbrüderungsphrasen begann und dann ein reiner Machtkrieg wurde, der ärgste, den die moderne WeIt vor 1914 erlebt hat. Auch damals fehlte es nicht an deutschen Jakobinern, die sich für die Guillotine begeisterten.

Die Faszination, die der Bolschewismus heute auf einen Teil der deutschen und auch der deutschösterreichischen Arbeiterschaft ausübt, ist leicht genug zu verstehen. Das furchtbare Elend, das der Krieg uns gebracht hat; mußte den äußersten Radikalismus begünstigen. Der Satz des Kommunistischen Manifests, das Proletariat habe bei einem Umsturz nichts zu verlieren als seine Ketten, konnte um 1914 auf die deutsche Arbeiterschaft nur mehr recht bedingt angewendet werden; in den Kriegsjahren gewann dieses mächtige Argument wieder an Bedeutung. Clemenceaus Behauptung, nur besiegte Organismen seien gegen bolschewikische Ansteckung nicht immun, mag insofern wahr sein, als eine durch den Krieg und durch unerträgliche Friedensbedingungen völlig verelendete deutsche Arbeiterschaft unschwer tobsüchtig gemacht werden könnte. Je schwieriger die Bedingungen der Entente die Wiederaufrichtung der deutschen Wirtschaft, einer organischen Sozialpolitik und des allgemeinen Wohlstands erscheinen lassen, desto bedeutungsloser muß der ungeschulten Logik der Volksmassen jene Zerrüttung des Wirtschaftsorganismus vorkommen, die die nächste Folge bolschewikischer Experimente ist. Ein geächtetes, vom Welthandel abgesperrtes, mit unsinnigen Kriegsentschädigungen belastetes Deutschland geriete allerdings in die starke Versuchung, Anlehnung, Bündnis, ein weites Wirtschaftsgebiet dort zu suchen, wo allein es noch zu finden wäre: jenseits der russischen Grenze. Ein bolschewikisches Deutschland ist heute die letzte Hoffnung Lenins und Radeks; hier können sie die industriellen Kräfte finden, die ihnen fehlen, hier einen Weg aus der Umschnürung, der Rußland erliegt. Wehe, wenn morgen das bolschewikische Rußland die einzige Hoffnung Deutschlands wäre! Ob eine trügerische Hoffnung, das kommt leider gar nicht in Betracht. Die großen Massen sind nur zu leicht in Sackgassen zu treiben, wenn nun ihr Eingang offen ist. Die Zustände, die der Bolschewismus in Rußland geschaffen hat, sind gewiß nicht verlockend; nun kommt es darauf an, was für Zustände der Anti-Bolschewismus der Entente dem deutschen Volk verheißt. Die Machthaber Rußlands, die im Versprechen sehr groß sind, bieten ihre Hilfe gegen die Entente an. Das tiefe Friedensbedürfnis der Deutschen wäre heute der Entente gegen jeden Friedensstörer verbündet, wenn sie solches Bündnis anzunehmen bereit wäre, wenn sie einen wirklichen Frieden schließen wollte. Tut sie es nicht, dann sind die Folgen unabsehbar. Daß man für die Freiheit und gegen tyrannische Unterdrückung blutig Krieg führen müsse, hat die Entente vier Jahre lang gepredigt. Daß sich die Völker der gegnerischen Staaten gegen ihre Beherrscher schließlich auflehnen würden, hat sie sehr richtig angenommen. Es liegt furchtbar nahe, das Experiment fortzusetzen. Demagogische Halblogik kann leicht so argumentieren. Es könnte der Augenblick der Verzweiflung kommen, in dem der Bolschewismus auch Besonnenen weniger als eine äußerste Gefahr, denn als eine letzte Hoffnung erschiene. Denn dieser Wahnsinn hat doch wenigstens Methode; das bolschewikische Rußland mag ein entsetzliches Leben führen, aber es lebt, es behauptet sich bisher der Entente gegenüber, ist von ihr unabhängig. Rußland ist groß, und Lenin ist weit, die russischen Zustände kennt niemand genau, das Furchtbare, das von ihnen erzählt wird, kann als Verleumdung hingestellt werden — und je ratloser, je zerfahrener das unglückliche deutsche Volk ist, desto mehr Aussichten hat die wilde Energie der russischen Propaganda. Denn das muß man den Bolschewiken lassen: auf die Agitation verstehen sie sich.

Der große Gegeneinwand: daß ein hingerichtetes Huhn keine Eier legt und eine zerstörte Industrie keine Arbeiter ernährt, ist den Massen nicht so überzeugend, wie man meinen sollte! Es wirkt da das Moment eines fast religiösen Irrationalismus gegen die nüchterne Vernunft.

Die bolschewikische Propaganda beutet den tief in der Volksseele liegenden idealistischen Optimismus aus; sie verheißt ein holdes Wunder, an das man nur zu gern glauben möchte. Sie malt die enteignete Fabrik, die zehnmal mehr und besseres produzieren wird; und dies gleich, morgen. Woher die Rohstoffe nehmen? Wir werden die exotischen Länder bolschewisieren.

Gerade weil die Abschaffung Ungerechter Besitzvorrechte, unsozialer Ausbeutung, parasitischen Drohnentums zum selbstverständlichen Glaubenssatz aller modern Gesinnten geworden ist, ist es schwer, die richtigen Perspektiven zu wahren; dem hoffenden Auge scheinen Fernen nah, Klüfte eben, Felsen gangbar. Es hat viele eine Verzückung ergriffen, ein mystischer Fanatismus. Ein neuer Kinderkreuzzug in die Wüste scheint bevorzustehen.

Man darf diesen religiösen Einschlag nicht unterschätzen. Er hat mit gesunder Politik, gar mit wirtschaftlicher Berechnung nichts zu tun, aber die Klugen und Nüchternen verlieren in solchen Zeiten leicht die Führerschaft, wenn sie zu klug und vor allem zu nüchtern sind. Jene zerstörende revolutionäre Energie des Bolschewismus, die mit den Maßregeln das Untunliche und Aussichtslose aufbaut, müßte durch eine positive Energie des Schaffens und Helfens pariert werden. Will die Entente den Bolschewismus in Mitteleuropa nicht haben, dann muß sie das Schaffen fördern, dem Helfen helfen. Von Rußland, dem Land der ekstatischen Sekten, strahlt ein religiöser Wahnsinn in die Welt, das ist es. Selbst wenn es gelänge, die bolschewikische Sekte in ihrem Ursprungsland gewaltsam zu unterdrücken, würde das die Verbreitung ihrer Idee kaum hindern. Man muß ihr bessere, aber ebenso warme Ideale entgegensetzen.

In: Der Friede, Nr. 51/10.1.1919, S. 581-582.

Frida Rubiner: Die Kunst dem Volke – durch die Revolution

             In den »Erinnerungen an Lenin«, die uns Clara Zetkin übermittelt hat, spricht Lenin auch über die Kunst in Sowjetrußland. Dabei spricht er folgende Sätze aus: „Das Erwachen, die Betätigung von Kräften, die Sowjetrußland eine neue Kunst und Kultur schaffen wollen, ist gut. Das stürmische Tempo dieser Entwicklung ist begreiflich und nützlich. Die chaotische Gärung, das fieberhafte Suchen nach neuen Lösungen und Losungen, „Hosiannah“ für bestimmte Kunst- und Geistesrichtungen heute, das „kreuzigt sie“ morgen, all das ist unvermeidlich. Die Revolution entfesselt alle zurückgehaltenen Kräfte und treibt sie aus der Tiefe an die Oberfläche. Wichtig ist nicht, was die Kunst einigen Hundert, ja einigen Tausend von einer Bevölkerung gibt, die nach so vielen Millionen, wie die unsrige zählt. Die Kunst gehört dem Volke. Sie muß ihre tiefsten Wurzeln in den breiten schaffenden Massen haben. Sie muß von diesen verstanden und geliebt werden. Sie muß Künstler in ihnen erwecken und entwickeln.“

Diese Worte Lenins zeichnen ein Programm vor, das die Oktoberrevolution getreulich durchgeführt hat.

Eine alte russische Sage, eine Byline, erzählt von Ilja Murometz, der dreiunddreißig Jahre auf einem Flecke mit starren Gliedern dasaß, bis eines Tages ein Wanderer ihm einen Trank reichte; von da an erhob sich Ilja, empfand Riesenstärke und vollzog Heldentaten. Wie der märchenhafte Ilja Murometz, so wurde das russische Volk, das jahrhundertelang unter dem Zarismus, starr und gelähmt verblieben war, durch die Oktoberrevolution geweckt und mit ungeahnten Riesenkräften erfüllt. Im politischen Leben nicht allein, in den „Kultur- und Lebensäußerungen“ zeigte der Riese Proletariat, Führer der Massen, seine schöpferische Kraft.

Es gab eine Zeit, wo viele (in ein Verkennen des wahren marxistischen Sinnes der Lehre von der Kultur als dem ideologischen Überbau) glaubten, daß am Tage nach dem Sieg des Proletariats eine neue „proletarische Kultur“ und „proletarische Kunst“ wie Venus aus dem Kopfe des Zeus fix und fertig entspringen würde. Lenin aber hatte stets darauf hingewiesen, daß das proletarische Rußland noch in der allgemeinen Kultur weit hinter der Europas zurückstände. In einem seiner letzten Artikel vor der Erkrankung sagt er wörtlich: „Während wir über Proletkult geschwätzt haben, ist das Analphabetentum nicht zurückgegangen.“ Das künstlerische Schaffen der breiten Massen mußte zuerst die materiellen Voraussetzungen für es schaffen. In dem zitierten Gespräch mit Genossin Clara Zetkin sagt Lenin:

„Damit die Kunst zum Volk und das Volk zur Kunst kommen kann, müssen wir erst das allgemeine Bildungs- und Kulturniveau heben. Wie sieht es damit in unserem Lande aus? Sie (Clara Z.) schwärmen von dem ungeheuren Kulturwerk, das wir seit der Machtergreifung verrichtet haben. Nun ja, ohne ruhmredig zu sein, können wir sagen, daß von uns viel in dieser Hinsicht geschehen ist, sehr viel … Riesengroß steht vor uns das erwachte und von uns angestachelte Bedürfnis der Arbeiter und Bauern nach Bildung und Kultur … Und wir sind ein armes Volk, ein bettelarmes Volk! … Während in Moskau vielleicht heute zehntausende und morgen wieder zehntausende sich an einer glänzenden Aufführung im Theater berauschen, schreit das Bedürfnis von Millionen nach der Kunst, buchstabieren, den Namen schreiben und rechnen zu lernen, schreit nach der Kultur, zu erfahren, daß die Erde eine Kugel und nicht eine Scheibe ist, daß Naturgesetze und nicht zusammen mit dem „himmlischen Väterchen“ Hexen und Zauberer das Weltall regieren.“

(Arbeiterliteratur I-II S. 69 ff.)

In den neun Jahren der Sowjetmacht hat die leninistische Partei am Staatsruder ein großes Stück auf diesem Wege zurückgelegt: Die Kunst zum Volke und das Volk zur Kunst zu bringen. Wenn heute, neben der riesigen Arbeit zur Liquidierung der Unkultur bereits neue Formen der Kunst in den Massen der Werktätigen sich regen, so sind diese nicht in den Köpfen einzelner Genies zu suchen, sondern in den Massen selbst. In den Theateraufführungen der „Dramatischen Zirkel“ in den Arbeiterklubs, in den Kunstateliers der Betriebe, in den Dichtungen von Arbeiter- und Bauernkorrespondeten finden wir bereits neue Ausdrucksformen, die die Keime einer neuen proletarischen Kunst sind. Noch sind diese Formen im Keimzustand, aber sie sind da.

Wenn wir von „Kunst“ reden, meinen wir im allgemeinen nicht die Wurzeln, sondern die Spitzen des Baumes. Was hat die Sowjetunion mit der „alten“ bürgerlichen Kunst getan? Lenin war es, der unaufhörlich die Notwendigkeit der kapitalistischen Erfahrungen für den Aufbau des Sozialismus betonte: „Wir stellen uns nicht anders den Sozialismus vor, als auf Grund aller Lehren der großen kapitalistischen Kultur.“ (Werke Band 15, Seite 244.) Was für den Aufbau der Wirtschaft gilt, trifft auch für den Bau der neuen proletarischen Kunst zu. Die Sowjetmacht hat das Theater, die Malerei, die Dichtung, das ganze Kunstgewerbe, das sie von der alten, von ihr zerschlagenen bürgerlichen Gesellschaft übernommen hat, nicht einfach vernichtet und zum alten Eisen geworfen, sondern hat sie übernommen, sich weiter entwickeln lassen, hat es in den Dienst des Proletariats gestellt und in neue Wege geleitet. So sehen wir, daß das russische Theater unter der Sowjetmacht, an der Spitze der gesamten Europäischen Bühnenkunst marschiert. Wenn das Theater Meyerhold kein proletarisches Theater ist, so steht es in seiner Kunst dem Proletariat doch nahe. Dabei: das Künstlerische Theater „Tairoff“, ja die alte hebräische Bühne „Habima“ – alle diese Kunstbestrebungen würden auch die Zierde jedes bürgerlichen Staates bilden. Sie finden die größtmöglichste Förderung seitens der Arbeiter- und Bauernregierung- sie entfalten sich frei im proletarischen Staate, und wenn sie ihrem Inhalt nach jetzt nicht direkt dem Proletariat dienen, so werden sie als fortschrittlicher Faktor in die Gesamtkultur des Proletariats an der Macht eingehen.

Aus Sowjetrußland kommen bereits die ersten literarischen Werke, die aus dem Schoß der Revolution geboren sind. Es sei hier z.B. auf den Roman von Gladkow „Zement“ hingewiesen, ein Werk der Revolution. Sowjetrußland hat gerade in der Literatur neue Formen aufzuweisen, die nur im proletarischen Staate möglich sind. Außer der proletarischen Presse der Arbeiterkorrespondeten, die in der Sowjetunion einen ausschlaggebenden Faktor des öffentlichen Lebens darstellen, sei noch auf die neue Form der Journalistik hingewiesen, wie sie im Sosnowsky, Kolzow, Soritsch usw. vertreten ist. Das sind die „Feuilletonisten“, die nicht nur „dichten, sondern die zugleich in das soziale Getriebe eingreifen und aktiv mitwirken.

Die russische Revolution hat gezeigt, daß die alte Parole aller „Kultursozialisten“: „Die Kunst dem Volke!“ – verwirklicht werden kann, und zwar nur verwirklicht werden kann – durch die Revolution.

In: Rote Fahne, 10.11.1926, S. 6.

Paul Hatvani: Der russische Mensch

Die Psychologie, soll sie als Wissenschaft erfolgreich bestehen können, wird einmal an die Systematisierung des vorhandenen Materials schreiten müssen. Es wird die Typenpsychologie entstehen: die Festlegung genau fixierter Arten und Abarten, mit denen man rechnen kann und muß.

. . . Es sei hier versucht, einiges über den „russischen Menschen“ zu sagen, als Beitrag zu einer künftigen Typenpsychologie.

I.

. . . Er ist nicht an den geographischen Begriff gebunden. Sein entscheidendes Merkmal aber hat sich geographischen Anschauungen assimiliert: es ist die Seele, hinter der unendlich die russische Ebene, von Europa nach Asien reichend, sich erstreckt. Der Mensch, dem diese grenzenlose Landschaft zur Staffage dient, muß vor den harten Tatsachen kapitulieren. Sein Mut wird weich, sein Gefühl resigniert; der Blick wendet der Erde sich zu: mit einemmal wird die Erde nah, wird Heimat, und nichts ist da, was unwesentlich wäre. Verachtung? Er steht mit den kleinen Dingen des Alltags auf trautem Fuß. Der Alltag wird Mythos; verwirrt ihn nicht das bißchen Hirn, die Vernunft, die Gigantisches ausklügeln will und immer wieder in Demut sich beugt? Was soll der nie vollendete Höhenflug? Ein wenig Güte: und die Erde nimmt dich wieder liebevoll auf.

In Rußland mußte die fast perverse Resignation des Tolstojanismus entstehen. Dem russischen Menschen leuchtet die Legende der Entsagung ein; es wird von der Parabel „Wieviel Erde braucht der Mensch“ gerührt. In anderen Atmosphären, wo Geist in steiler Konsequenz den Dom baut, darin Begriffe wohnen und der Vernunft ein Altar errichtet ist . . ., scheucht dich der Eindruck der Banalität aus dem frommen Verständnis. Hier aber – der Tag vergeht, die Zeit bleibt stehen . . . – ist von den Erwägungen einer bodenreformatorischen, also politischen Anschauung bis zum memento mori des Grabes nur ein Schritt.

 . . . Ein verhängnisvoller Schritt. Und es sei gesagt, daß ein Recht, dieses Verhängnisvolle aufzuzeigen, nur dem Russen zusteht. Maxim Gorki hat in großer Eindringlichkeit auf die Gefahr Tolstoj für den Russen hingewiesen. Und er hat auch, was wichtiger ist, die größere Gefahr in jenem Dichter erkannt, der für Europa den Typus des russischen Menschen überhaupt geliefert hat, in Dostojewski. Und er nennt diese dunkle Gefahr, die uns alle ergriffen hat, „Karamasowismus“.

Karamasowismus: das ist eine Romantik ohne Inventar. Das ist eine Exaltation der Seele, ein Kapitulieren vor den Tatsachen, ein Masochismus, der entsteht, wenn Liebe kein Objekt findet. Dostojewski hat ihn gewiß nicht „erfunden“; aber er hat ihn am Eindringlichsten gestaltet. Dostojewski hat die Figur des ethischen Verbrechers in die Welt gestellt; er hat Christus übertrumpft: er hat den Sünder begnadigt um der armen Seele willen. Hie war kein Allesversteher am Werk. Dem mußte alles verziehen werden. Ein Gefühl schuf sich das ethische Gesetz: der Mensch, zur Erde, zum Mütterchen Erde gebeugt, wird der Gnade teilhaftig. Kniee nieder, Mensch, Bruder, bete und bekenne: dann ist alles wieder gut. Was immer auch geschehen ist; was immer auch geschehen wird: das Himmelreich kennt nur deine reine Seele; was du tatest, tat die Welt, die böse auf dich gelauert hat. Beuge dich, Brüderchen; Mütterchen Erde wird dich warm umarmen.

Und dunkel schweben darüber die Töne der Kirchenglocken.

II.

. . . Der eine Typus. Der andere ist – sein Widerspiel? nein! – . . . der andere ist Flucht in die Vernunft. Also Flucht nach Europa. ( . . . Man wird Bedenken äußern: ist „Vernunft“ identisch mit Europa? Dürfen wir den europäischen Menschen – ein vom russischen genau verschiedener Typ – mit dem „vernünftigen“ gleichsetzen? In der Typenpsychologie wohl; wenn auch nicht erschöpfend. Denn erschöpfend ist der Europäer erst durch den Zweifel an sich, durch die skeptische Vernunft charakterisiert. Sein Bewußtsein reagiert aus negativen Gründen; sein Glaube, sein Wissen entsteht aus Skepsis, aus Polemik. Er empfindet polar; er stellt jedem A ein non A gegenüber. Aber . . . er ist auch, und es kommt hier darauf an, der Mensch der Vernunft. Sein Weltbild entsteht aus Überlegungen. Ist’s auch manchmal grau, entschädigt für alles die bunte Theorie. Hamlet aber ist teilweise schon ein Vorläufer russischer Lebensmöglichkeiten, ein reziproker Raskolnikow etwa, der sich über Schuld und Sühne jedenfalls schon Gedanken macht . . . )

. . . „Gedanken macht“: darauf kommt es an. Gleichem Impuls entwächst der eine wie der andere Typ. Reflektierend gelangt der eine zur Erde; der andere reflektiert bewußt: das ist der ganze Unterschied. Und lockend steht der helle, geradlinige Bau europäischer Mentalität vor dem Auge, das aus dunkler Gefühlswelt aufblickt: ein banaler Wunsch löst den Glauben an das Glück der Wissenschaft aus. Der russische Student, der nach dem Westen kommt um revolutionäres Material gegen Rußland zu sammeln (ich spreche natürlich vom vorbolschewistischen Rußland!); und der ein Stück Demut und einen Rest Dämonie nach Europa verpflanzt . . .; der intellektuelle Westler ist Frondeur des eigenen Ichs. Oder hört auf, dem Typus anzugehören. Solange er Russe ist, geht der Strahl seiner Seele über das konventionelle Kalkül hinaus; er konfrontiert die Dinge mit der Unendlichkeit, die Zeit mit dem Ewigen.

Das Ewige aber ist entweder Gott oder die Idee.

Dem „echten“ Russen bleibt Gott der Angelpunkt der Welt; der Westler hat die Idee . . .; mags nun eine politische, revolutionäre, wissenschaftliche oder kulturelle sein. Ihr dient er; sein Ich ist ausgelöscht; er unterordnet die leiseste Vibration seiner Nerven ihrem Diktat.

III.

Die russische Art, Theater zu spielen, ist uns ergreifendes Beispiel. Die Russen haben noch Schauspielertruppen im alten Sinne des Begriffs. Sie bringen es zuwege, aus Hamlet ein Ensemble-Problem zu machen. Wie plötzlich weiße Seidenfahnen, den Leichnam apotheotisch umwallend, die Neurasthenie des shakespearischen Neurasthenikers von der Szene verscheuchen, ist Symbol und musikalische Wirkung. Wir mißverstehen das russische Theater – wie wir ja auch die russische Malerei, die russische Musik mißverstehen – wenn wir aus dem Ensemble Namen lösen. Seine Wirkung ist ein kollektivistisches Ereignis, für das wir nicht mehr, oder noch nicht, die richtige Einstellung haben. Und nun sei, den Übergang Pedanten überlassend, Entscheidendes gesagt: der russische Mensch hat keine „Nervosität“. (Auch die „Masse“ hat keine; sie steht den Dingen höchstens romantisch gegenüber.)

. . . Eine schwer verständliche Tatsache für den Europäer: es gibt nun einmal einen Menschentyp subtilster Art, der nicht mit den Nerven reagiert. Dessen schöpferische Berauschtheit festgefügt im Rahmen seiner Wirklichkeit bleibt; dessen Dämonie nicht aus dem Dunkel irritierter Leidenschaften quillt.

Der russische Mensch denkt nicht an den Grenzen des Bewußtseins; dort führt der Europäer sein Schattenspiel auf. Der russische Mensch hat aus asiatischen Abgründen noch das Gefühl für Stabilität sich gerettet; er hat die Erde, die unendliche Erde, unter sich und wankt und zittert nicht im Sturm der Gedanken. Er beugt nur seinen Körper, seine Seele, tief hinab; Mütterchen Erde bleibt fester Halt. Er ersetzt unsere Sensationen mit den Wundern, die wir, sie determinierend, zerstören. Er läßt es mit sich geschehen, daß es unerklärliche Dinge gibt.

. . . Verhängnisvoll war es, in diese russische Welt das Wort „Fortschritt“ zu schleudern. (Verhängnisvoll für die Ideologie; notwendig und wunderbar für den Menschen, der sie bewohnt.) Fortschritt ist ein westlicher, ein „europäischer“ Begriff; er setzt die Tatsache einer Entwicklung voraus; er hat Rückgrat; er bäumt den Menschen auf; er ist ein Angriff auf die Demut, die den Menschen zur Erde beugt.

Mütterchen Erde mach ein verdutztes Gesicht: wer befahl dem Söhnchen, gerade zu stehen? Wer hebt ihn in die Labilität? Der schwerfällige Körper, der schwerfällige, der schwermütige Geist, setzt sich dem Abenteuer aus. Ist’s nicht das große europäische Abenteuer, in das der Asiate, der Gleichgewichtsmensch, sich da stürzt?! Zwischen den beiden Möglichkeiten, Europa und Asien, ist Rußland das Versuchskaninchen. Wer der russischen Erde flieht, hat nur diese zwei Wege offen: beide bedeuten Revolution.

Den Typus hält die seelische Struktur aufrecht. Die Seele weiß vom Dilemma der beiden Möglichkeiten nichts; sie hat sich von den geographischen Problemen abstrahieren lassen. Der „russische Mensch“ kommt überall vor; ein Hauch auch jener Steppe, aus Dostojewski, erfaßt den Ahnungslosen, der „ahnungslos“ in jenem tieferen Sinne ist. Dich ergreift plötzlich diese aktive Passivität des Karamasowismus; plötzlich hat das Ethos ein neues, ein uralt-zeitloses Gesicht. Du überwindest den Alltag; die kleinen Dinge werden wesenhaft; sie sind Symbole zweiten Ranges und rührend elementar. Die Welt, Gottes Spielzeugschachtel, ist eng und weit zugleich: ihr buntes Ornament, – fröhliches Lachen, trauriges Lächeln – ist da, um dem unerbittlich-ernsten Inhalt die annehmbare Form zu geben. Der russische Mensch hat keine Banalität.

IV.

. . . Ergreifend Neues in der europäischen Literatur dieser Zeit: der unbanale Mensch.

Man wird die Erscheinung, oberflächlich, aus den Einflüssen der großen russischen Dichter, der großen russischen Tatsachen, ableiten wollen. Aber diese Einflüsse treffen mit einer zeitbedingten seelischen Stimmung zusammen, die den melodischen Akkord erklingen läßt. Der Europäer ist von der Sehnsucht des Russentums erfaßt . . .: er verläßt mit einemmal die Ebene der Nerven und neigt sich dem faszinierenden Typus zu. Die Erde hat ihn wieder!

. . . Europäische Geistigkeit, Europas Geist, ist eine Angelegenheit des bewußten Nervensystems. Die schöpferische Nervosität des europäischen Menschen ist der Inhalt seiner „Kultur“; er reagiert subtil und ist imstande, aus Dingen der Vernunft ein Gefühl zu produzieren. Seine ganze Tragik läßt sich aus der Diskrepanz ableiten, die zwischen der Menge des Wissens und der Menge der Gefühle besteht. (Oder eigentlich: seine Problematik. Sie verursacht, letzten Endes, die kulturelle Nervosität; sie treibt ihn in die schöpferische Decadence, aus der ihn ein scheinbarer, oft maskierter Optimismus hebt, um ihn wieder ins Chaos versinken zu lassen . . .) Für den Russen besteht diese Problematik nicht; er verzichtet auf die Feststellung der entscheidenden Mengen; er verzichtet zugunsten des Gefühls. Seine Nerven werden von den kulturellen Tatsachen nicht berührt; seine Nervosität ist allenfalls eine Zivilisationserscheinung und niemals kulturschöpferisch. Das russische sei ein junges Volk, sagt einmal Dostojewskij und die Jugend junger Völker zehrt noch aus dem Kräfteüberschuß der Erde. Kindern ist nichts banal; darum steht der russische Mensch noch gläubig und unbeirrt vor den von uns, ach! so hemmungslos überwundenen Tatsachen. Er hat Sentiment noch nicht zur Sentimentalität degradiert; er hat sich das Gefühl restloser Sachlichkeit bewahrt. Er bleibt Mensch, bedingungslos, vor den Ereignissen seiner Welt und seines Ichs.

Sehnsucht nach dieser Sachlichkeit, Sehnsucht nach der Unbedingtheit des russischen Menschen, hat den Typus in Europa erstehen lassen, Er, der Typus ist eine Überwindung der Nervosität . . .: vielleicht nur Krisis, aber immerhin Tatsache.

. . . Wenn nun aber der europäische Mensch (wobei wir an seine restlos entbürgerlichte Form denken wollen) den nervösen Typ darstellt, so bedeutet russisches „Westlertum“ – wie es etwa Turgenjew personifiziert – Revolte gegen das statische Prinzip der Seele. Wir können Dostojewskis Auflehnung gegen Turgenjew verstehen; er mag gefühlt haben, daß da ein bedenkliches Experiment vor sich geht. Man lese den ergreifend-hassenden Brief, den er, 1867 aus Genf, über seine Begegnung mit Turgenjew an Apollon Maikow schrieb: in dessen Zeilen empört sich die erdnahe Religiosität wider dem Zweifel der Nerven. Rußlands grenzenloser Raum steht den europäischen Tatsachen gegenüber.

. . . Man liest heute in Europa sehr viele russische Bücher und weiß nicht genau, was dies bedeutet. Man gibt sich dem Gefühl der seelischen Werte hin und unterscheidet nur ungenau: uns überwältigt das Szenarium, wir haften am Gegenständlichen, wir sind befangen. Aber das Serum der russischen Idee – oder vielleicht ists die slawische überhaupt?! – ist in unser Blut gedrungen und siehe da: der „russische Mensch“ wird heimisch in Europa. Oder können wir etwa das Phänomen Kunt Hamsun anders deuten?!

In: Die Wage, 12.5.1923, S. 296-300.

René Fülöp-Miller: Das Kino als Konkurrent der – Kirche. Trotzki über das Kino.

Die Russischen Machthaber betrachten Philosophie, Kunst, Dichtung, Malerei und Musik, einzig und allein von dem Standpunkt ihrer parteipolitischen Verwendbarkeit ; bei jedem Kunstwerk wird nur danach gefragt, inwieweit es für die „Vergesellschaftung“, für die Propaganda kommunistischer Ideen unter den Massen geeignet sei. So ist es denn nicht zu verwundern, daß die Bolschewisten auch die große suggestive Kraft des Films erkannt, und daß sie daher dem Kino eine ganz besondere Bedeutung zugemessen haben : Filmautoren und Kinoschauspieler, Operateure und Kinounternehmer gelten in Rußland als die „Stoßtruppen der militanten marxistischen Propaganda“.

In jener großen „Offensive gegen die alten Sitten und Bräuche“ wurden die bolschewistischen Filmleute mit einer sehr wichtigen Aufgabe betraut : sie sollten den Kampf gegen den Zauber der orthodoxen Kirche und gegen die religiösen Traditionen des russischen Lebens erfolgreich durchführen. Das Kino aber sollte gleichzeitig auch die Bevölkerung von dem Banne des Branntweins befreien, der in Rußland einen außerordentlichen Einfluss auf das Leben der Menschen ausgeübt hatte.

Die Führer der bolschewistischen Agitation hatten zuerst versucht, durch „aufklärende Vorträge“, durch atheistische und antireligiöse Flugschriften gegen die orthodoxe Kirche anzukämpfen ; durch einen Appell an das „kommunistische Gewissen der Bauern“ wieder glaubte man diese vom Schnapstrinken abhalten zu können. In keiner der beiden Richtungen jedoch gelang es, mit diesen Mitteln nennenswerte Erfolge zu erzielen. So sah man sich denn zu neuen Maßregeln genötigt und entschloß sich, das Kino zum Zweck der kirchenfeindlichen Agitation sowie einer geeigneten materialistischen Schulung der Massen im weitesten Maße heranzuziehen.

Leo Trotzki ist es gewesen, der die Unzulänglichkeit einer trocken-sachlichen Aufklärungspropaganda zuerst erkannt hat ; er ist zu der Überzeugung gelangt, man müsse der Eigenart des russischen Volkes Rechnung tragen und dessen Sehnsucht nach Anschaulichem, nach Zerstreuungen und Unterhaltung irgendwie befriedigen. In einer Schrift über die „Probleme des Alltagslebens in Rußland“ versucht Trotzki, seine Parteigenossen davon zu überzeugen, daß einig und allein das Kino geeignet sei, für die alten Lebensgewohnheiten der breiten Massen in Rußland ausreichend Ersatz zu bieten.

„Wir nehmen die Menschen so,“ heißt es in dieser Schrift, „wie die Natur sie geschaffen und wie die alte Gesellschaft sie zum Teil erzogen, zum Teil verstümmelt hat. Wir suchen nach Stützpunkten in diesem lebendigen Menschenmaterial, um unseren Parteihebel anzusetzen.“ Der Wunsch nach Aufheiterung und Zerstreuung, heißt es weiter, sei „ein durchaus berechtigtes Empfinden“ und darum müsse diesem Bedürfnis in immer künstlerischerer Weise entsprochen werden ; das Vergnügen solle gleichzeitig „zum Werkzeug der kollektiven Erziehung“ werden, „ohne pädagogische Bevormundung, ohne aufdringliches Hinlenken auf die Bahn der Wahrheit“.

„Das wichtigste Werkzeug auf diesem Gebiete, das alle anderen bei weitem übertreffen kann“, sei gegenwärtig das Kino, „Diese verblüffende Neuerung auf dem Gebiete des Schauspiels“, führt Trotzki des näheren aus, „hat das Leben der Menschheit mit unerhörter Geschwindigkeit durchdrungen. Der Kinoleidenschaft liege das Bestreben, sich abzulenken, zugrunde, der Wunsch, etwas Neues zu sehen, zu lachen und zu weinen. „Allen diesen Bedürfnissen gewährt das Kino die unmittelbarste und lebendigste Befriedigung, fast ohne an den Zuschauer irgendwelche Anforderungen zu stellen. Das erklärt die dankbare Liebe des Publikums für das Kino, für jene unerschöpfliche Quelle der Eindrücke und Erlebnisse. Dies ist der Punkt, ja sogar jene Fläche, auf der die erzieherischen Bemühungen des russischen Sozialismus ansetzen können.

Indem das Kino anzieht und zerstreut, wetteifert es schon eben dadurch mit dem Wirtshaus und dem Schnaps, vor allem bei dem Problem, das der Achtstundentag mit sich gebracht hat, dem Problem, das freie Drittel des Tages angenehm auszufüllen. „Könnten wir“, fragt Trotzki, uns nicht dieses unvergleichlichen Werkzeuges bemächtigen?“ „Warum nicht?“ antwortet er. „Die zaristische Regierung hat durch ein weitverzweigtes Netz staatlicher Branntweinschenken eine jährliche Einnahme von rund einer Milliarde Goldrubel erzielt ; warum sollte der Arbeiterstaat nicht ein Netz staatlicher Kinos schaffen können, diesen Apparat der Zerstreuung und Erziehung immer tiefer in das Volksleben eingreifen lassen, hiemit den Alkohol bekämpfen und zugleich hohe Einnahmen erzielen? Gewiß wäre die Durchführung dieses Projekts nicht einfach, aber sie wäre auf jeden Fall natürlicher und zweckmäßiger als die Wiederaufrichtung des Schnapsvertriebes.“

Trotzki führt dann weiter aus, wie das Kino nicht nur mit der Kneipe, sondern auch mit der Kirche konkurrieren könne. Die russische Arbeiterklasse hänge nur aus Gewohnheit und Bequemlichkeit an dem Zeremoniell der orthodoxen Kirche. In diesem aber spiele das Element der Zerstreuung und der Ablenkung eine gewaltige Rolle. Da Bedürfnis des Menschen nach dem theatralischen Wesen werde durch die Kirche in sehr geschickter Weise befriedigt, während die antireligiöse Propaganda diesen Wirkungen bisher nichts Gleichwertiges habe entgegenstellen können.

Und hier, meint Trotzki, werde unser Denken wiederum ganz von selbst auf jenes mächtige und am meisten demokratische Werkzeug der Theatralik, auf das Kino, hingelenkt. Das Kino entfalte auf der weißen Leinwand viel großartigere Effekte als selbst die reiche, durch Erfahrung von Jahrtausenden hindurchgegangene Kirche. „In der Kirche wird immer nur eine religiöse Handlung Jahr für Jahr wiederholt, während das Kino von Tag zu Tag andere fesselnde und packende Vorführungen zu bieten vermag. Das Kino zerstreut, klärt auf, erstaunt die Phantasie durch seine Bilder und befreit die Menschen von dem Drang, in die Kirche zu gegen. Das Kino ist also auch die große Konkurrenz der Religion und darum jenes Werkzeug, dessen wir uns unbedingt bemächtigen müssen.“

Zum Beweis für die Richtigkeit seiner Ansicht führt Trotzki auch noch die Erklärung eines Arbeiters an, den er über die Wirkung des Kinos auf die Massen befragt hatte.

„Die Arbeiter,“ erklärte Trotzkis Gewährsmann, „sind jetzt für das Kino begeistert. Ich selbst liebe es sehr und die Leute gehen in Massen hinein. Freilich hat es in der letzen Zeit eine Menge spannender, aber im übrigen wertloser Filme gegeben, die das Publikum stark demoralisiert haben ; im allgemeinen aber ist das Kino doch eine große Errungenschaft und ein bedeutender Faktor der Kultur. Es muß nur darauf geachtet werden, daß die Filme einen anderen, wertvolleren Inhalt bekommen.“

Es ergibt sich aber aus der Betrachtung der wahren Situation, daß der Versuch, das Kino in dem Kampfe gegen Orthodoxie als revolutionäre Waffe zu verwenden, als gescheitert anzusehen ist.

Die russischen Kinos sind allerdings durchaus sehr gut besucht, aber daneben erfreuen sich, nach wie vor, auch die Kirchen eines regen Besuches ; der in seinem Innersten durchaus konservative Russe ließ sich eben aus seinen alten Gewohnheiten auch durch die Kinorevolution nicht aufstören. Und so kam es auch, daß die große Masse, ungeachtet selbst aller jener, zweifellos wertvollen und gutgemeinten antialkoholistischen Kulturbestrebungen Trotzkis, auch seinen Trinkergewohnheiten weiterhin vielfach treugeblieben ist.

Zur Zeit des strengen Alkoholverbots der letzen Jahre wurde eben neben dem eifrigen Kinobesuch heimlich, im stillen Kämmerlein, Schnaps gebrannt ; jener berühmt gewordenen „Samagonka“, der erst verschwand, nachdem jetzt das Alkoholverbot aufgehoben worden ist. Die Heilslehre von der sittigenden Kraft des Kinos hat also versagt und der Film wird wohl auch in Rußland sich mit der Rolle begnügen müssen, die er innerhalb seiner wahren Grenzen auch in Westeuropa unter Umständen als ein wertvolles Kulturinstrument zu spielen vermag.

In: Neue Freie Presse, 1. Januar 1926, S. 27

Ernst Fischer: Wandlung des russischen Geistes

Russische Revolution! Ungeheures Gefühl, sagenhaftes Erlebnis über alle Kritik hinaus. Man kann das Resultat der großen Erschütterung prüfen, so weit uns das Resultat bekannt ist, man kann die wirtschaftlichen, politischen, sozialen Ergebnisse des Bolschewismus, des Leninismus analysieren, man kann seine Zeitung bejahen oder verneinen, anerkennen oder verwerfen, man kann sich in tausendfältiger Form mit ihm auseinandersetzen – aber es bleibt ein Rest, der aller Vernunft entrückt scheint: die Intensität, die Größe dieser Revolution, die unvergleichlich und beispiellos ist. Und, je mehr die vulkanische Masse auskühlt, je deutlicher das Produkt, der Niederschlag der gigantischen Gärung mit all den Widersprüchen, die das Wesen der Wirklichkeit sind, statistisch erfaßbar, objektiver Betrachtung und subjektiver Wertung zugänglich wird, desto bezwingender wird die Erkenntnis, daß diese Revolution viel mehr als ein politisches Faktum, daß sie ein geistiges Ereignis von welthistorischer Bedeutung war. Und so selbstverständlich es ist, daß man an politischen Überzeugungen, taktischen Maßnahmen, wissenschaftlichen Theorien Kritik übt, daß man sie für gut oder schlecht, klarer gesagt, für nützlich oder für schädlich hält, so töricht wäre es, geistige Umgruppierungen, kulturelle Wandlungen zu kritisieren, an dem zu messen, was bisher war. Man kann ein Buch, ein Bild, ein Theaterstück technisch bewerten – obwohl auch das sehr schwierig und problematisch ist – man kann eine Kunstform für diletantisch, wirkungslos, unecht halten, aber man kann nicht die Lebensform, die geistige Haltung, deren Ausdruck sie ist, mit einer abfälligen, höhnischen oder entrüsteten Kritik aus der Welt schaffen. Ihre Bedingungen nachzuspüren, ihre Elemente zu untersuchen, ihr Lebendiges zu erfühlen, das ist Aufgabe dessen, der sie darzustellen versucht – ob er sie anerkennt oder ablehnt, ist seine Privatsache. Nur wenn er liebt oder haßt soll er zu seiner Liebe, zu seinem Haß sich bekennen – denn dann will er nicht sie, die fremde Lebensform, sondern seine an ihr sich entzündende Leidenschaft darstellen.

Solche Leidenschaftsausbrüche haben wir häufig erlebt – und es schien lange Zeit, als könne man über die geistige Bedeutung der russischen Revolution nur in Ekstasen der Liebe, in Krämpfen des Hasses sprechen: wurde von einer Seite alles, was diese Revolution gebar, bedingungslos wie Blendwerk der Hölle verdammt, so wurde es von der andern Seite wie Erfüllung tiefster Träume gefeiert. […]

Interessanter und wesentlich ergiebiger als die maßlosen Manifeste für und wider die geistige Schöpfung des Bolschewismus, als das unfruchtbare Geschwätz der bürgerlichen Ästheten war ein Buch des großzügigen Journalisten René Füllöp-Miller, „Geist und Gesicht des Bolschewismus“, das vor einigen Jahren erschien. Füllöp-Miller hatte begriffen, daß die russische Revolution mehr war als ein politisches und wirtschaftliches Ereignis, daß sich dort im Osten ein kultureller Umsturz vollzogen hatte, dessen Konsequenzen noch unabsehbar sind. Und er fürchtete, daß das, was in Rußland geschah, Europas Kultur gefährden, Europas Seele vergewaltigen könne. Daher wollte er warnen, wollte er zeigen, daß die neue Lebensform europäischem Wesen vollkommen fremd sei, daß der Bolschewismus als geistiges Erlebnis zwar asiatische Barbaren, nicht aber westliche Kulturmenschen befriedigen könne. Trotz dieser kaum verhüllten Tendenz und obwohl sehr viele Behauptungen des geistreichen Autors unbewiesen, sehr viele Kombinationen gewaltsam, sehr viele Erklärungen oberflächlich sind, ist das Buch wichtig, nicht nur, weil es ein großes kulturhistorisches Material enthält, sondern auch und vor allem, weil es einen ernsthaften Versuch darstellt, hinter der wirtschaftlichen und politischen Umgestaltung die geistige Wandlung zu sehen. Das Füllöp-Miller meint, die Mechanisierung des Lebens, die Entpersönlichung des Menschen, der Triumph der Maschine über die Seele sei der Sinn dieser Wandlung, daß er den Schatten Dostojewskys beschwört, der ihm wie den meisten Europäern als der Inbegriff des „Russentums“ (einer unveränderlichen und undefinierbaren Substanz) gilt, um über den Leninismus Gericht zu halten, daß er über Experimente sich lustig macht, ohne zu untersuchen, was sie bedeuten – das alles vermindert zwar das Gewicht seiner Leistung, entwertet sie aber nicht. […]

Die Revolution war die gewaltsame Lösung, der explosive Ausgleich. Der Feudalismus wurde zertrümmert, der Bauer bemächtigte sich des Bodens, das Mittelalter verbrannte und in den Flammen ahnte man eine neue Welt. Ungeheuerste Aktivität entfaltet sich; in Lenin, dem gewaltigsten Tatmenschen aller Zeiten, kündigte sich auf einmal der neue Typus an, in ihm verkörperte sich das Rußland des zwanzigsten Jahrhunderts. Probleme der Wirklichkeit waren zu lösen, wirtschaftliche, gesellschaftliche, politische Probleme, Gestaltung des Staates war möglich, war brennend wichtig, Trägheit, Schwermut und Passivität mußten als ärgste Laster gelten – die historische Situation siegte über die „russische Seele“. Daß diese ungestüme und radikale Wandlung groteske Übertreibungen zeitigte, daß der fanatische Wille, die Entwicklung eines halben Jahrtausends in einige Jahre zusammenzupressen und nicht nur alles Versäumte nachzuholen, sondern plötzlich allen voran in die Zukunft zu stürmen, oft in phantastischen Experimenten zum Ausdruck kam, daß die Verneiner jeder Romantik aus der Sachlichkeit selber etwas Romantisches machten, war kein Wunder: und der scheinbare Widersinn, daß diese russischen Revolutionäre die sehr primitiven Wirtschaftsformen dem Sozialismus aufzwingen wollten, das kapitalistische, mechanistische Amerika vergöttern, ist nichts Ungewöhnliches, nichts dem „Russentum“ eigentümlich. Es gibt eine Reihe von deutschen Literaten, die ebenso verzückt von Amerika reden, für die Großstadt, Technik, Maschine, die in der Seele des Amerikaners keine besonderen Gefühle auslösen, weil er sie als selbstverständliche Elemente seiner Welt betrachtet, lyrische, mythische Angelegenheiten sind, ungefähr so, wie für den Emporkömmling die Manieren der guten Gesellschaft etwas Geheimnisvolles und Beunruhigendes sind; tausendmal mehr in dem wirtschaftlich unentwickelten Rußland, in dem „Elektrifizierung“ ein Zauberwort, das Taylor-System ein Kultus, die Technik ein Glaubensbekenntnis wurde. Wer in Rußland an den Erfolg der Revolution glaubte, mußte voll Inbrunst an neue technische und ökonomische Formen glauben, mußte sich mit Pathos und Leidenschaft zu ihnen bekennen, mußte sie fast ins Religiöse steigern, weil er sonst empfindungsgemäß die Zusammenhänge zwischen den Schwung des Geistes, dessen jede Revolution bedarf, und den realen Aufgaben der russischen Revolution verloren hätte. An Inbrunst, an Spannkraft, an Gläubigkeit fehlte es den Revolutionären nicht, aber an Maschinen, an Fabriken, an Elektrizitätswerken fehlte es und deshalb blickten sie voll Sehnsucht und Neid nach Amerika und deshalb mußte die mangelnde Realität durch den glühenden Willen, sie förmlich aus der Erde zu stampfen, ersetzt werden. Das Bekenntnis zu Amerika, es war das Bekenntnis zu den Voraussetzungen der Sozialisierung, die man in übermenschlicher Arbeit der Geschichte abtrotzen wollte.

Das formte die neue Geistigkeit: die Kunst, vor dem Zusammenbruch der alten Mächte psychologisch, fatalistisch, Sprengstoff der Seele, die Welt in das Nervensystem des Menschen konzentrierend, wurde nun „materialistisch“, aktivistisch, Sprengstoff der Gesellschaft, die Welt in das Nervensystem des Menschen konzentrierend, wurde nun „materialistisch“, aktivistisch, Sprengstoff der Gesellschaft, die Welt in die Wirklichkeit der Dinge und Ereignisse konzentrierend. Majakowsky, einer der Dichter, die im alten Rußland die Würdigkeit und den Überdruß des an allem verzweifelnden geistigen Menschen verkörperten, begeisterte sich an den Umsturz des Bestehenden, an der grellen Härte und Sachlichkeit der neuen Forderungen, er, der an den Sinn der Kunst nicht mehr glaubte, begriff angesichts der Revolution, daß man der Kunst neuerlich einen Sinn geben konnte: Aufruf zum Kampf, Ausdruck dessen, was nun wichtiger und bezwingender waren als alles, Ausdruck der politischen und sozialen Ereignisse. Die Sprache als Instrument der schönen Gefühle, der einsamen Seelenkomplikationen war abgebraucht, nun aber gab es Worte, die wie mit Ekrasit geladen waren, die man wie Bomben in die Masse schleudern konnte, die unmittelbar und berauschend wirkten: Elektrifizierung, Technik, Revolution, Internationale, Rote Garde – und diese Worte wie Blöcke aneinandergereiht, gegenständlich und dennoch durchfiebert von Fanatismus, waren die Elemente der Poesie, die nun begann. Einfacher und wuchtiger als die Gesänge des intellektuellen Majakowsky waren die plumpen Hymnen Budnji Demjans, poetische Tagesbefehle der Revolution, unverschnörkelte Manifeste des Klassenkampfes.

Es würde zu weit führen, alle Experimente zu schildern, in denen der Geist des Bolschewismus um Ausdruck rang: was diesen Experimenten gemeinsam war, ist die Erkenntnis von der sozialen, von der revolutionären Funktion der Kunst, die Erkenntnis, daß es im Sturme der Weltgeschichte nicht auf das Schicksal des einzelnen ankommt, nicht auf Seelenprobleme, nicht auf das, was die Menschen unterscheidet, sondern auf das, was sie zu kollektiver Aktion vereinigt, daß es sich, wenn Tausendjähriges stürzt und Niegewesenes aufsteigt, nicht um den „Ewigkeitswert“ einer Dichtung, eines Kunstwerkes, sondern um Aktualität und politische Wirkung handelt. Erst, wenn eine Klasse ihr Wesen gesellschaftlich verwirklicht, wenn sie das in ihr waltende revolutionäre Prinzip erfüllt hat, wenn nicht mehr die Macht zu erobern, sondern die Macht zu verwalten ist, kann sie versuchen, im Kunstwerk unpolitisch und weise zu sein! Solange sie kämpft, solange sie gegen alte Gesellschaftssysteme anrennt, ist Kunst ein Mittel, ist Kunst eine Waffe in diesem Kampf. Das haben die Künstler des Bolschewismus erkannt. Und mit unerhörter Entschlossenheit unterwarfen sie das Theater, das Kabarett, die Literatur, alle Kunstgattungen dieser Erkenntnis. Es gelang ihnen, das Theater, den Film, die kulturellen Gebilde, die am stärksten und unmittelbarsten soziologisch bedingt sind, von Grund aus zu wandeln, es gelang ihnen nicht oder nicht in diesem Maße bei allen übrigen Kunstgattungen.

[…]

Aber die freie, die auf sich selber angewiesene Kunst?

Sie ist lebendig wie nirgends in Europa. Und vor allem der russische Roman ist wieder bedeutungsvoll, fast so bedeutungsvoll wie der russische Film.

Um Romane zu schreiben, bedarf der Künstler einer gewissen Ruhe, einer gewissen Stabilität. In der ersten Revolutionszeit konnten keine Romane entstehen, in Gedichten und Theaterstücken entlud sich die geistige Spannung: als aber der Bolschewismus gesichert war, als Trotzky der Armee „das Knochengerüst eingerenkt“ und Lenin die Wirtschaft verhältnismäßig stabilisiert hatte, als man die Ereignisse einiger Jahre überblicken konnte ohne fühlen zu müssen, daß morgen schon alles anders sein könne als heute, war es wieder möglich, Romane zu schreiben. Und es zeigte sich, daß die junge Generation in Rußland, obwohl das Tempo der Entwicklung auf einmal stockte, obwohl die wirtschaftliche Reaktion die Seelen ernüchtert hatte, obwohl das Resultat der Ereignisse eine große Halbheit ist, die Zeit, in der wir leben, begreift, tausendmal besser begreift als die junge Generation in Deutschland, in Frankreich, in England. An der Idee des Bolschewismus gemessen enttäuscht seine Wirklichkeit: aber diese Enttäuschung verleitet die jungen Russen nicht dazu, aus der Wirklichkeit in die Romantik zu fliehen – im Gegenteil: stolz und tapfer bekennen sie sich zu dieser Wirklichkeit, schonungslos setzen sie sich mit den Problemen der Revolution, mit den Problemen des Sozialismus auseinander, unsentimental, in glühender Sachlichkeit schreiben sie die Geschichte der letzten Jahre. Immer ist es die Gesellschaft, die sie interessiert, immer ist es ein überpersönliches Schicksal, das sie schildern, immer stellen sie Menschen dar, in denen das welthistorische Ringen um die Neugestaltung aller Beziehungen zwischen den Menschen und Dingen sich spiegelt, nein, in denen es sich vollzieht. Sie wissen genau, daß es nichts Größeres gibt als die Revolution, deren erste Phasen wir erlebt haben, und weil sie das wissen, gibt es für sie nur einen Stoff: eben diese Revolution. In den westlichen Ländern knüpfen die meisten jungen Künstler dort an, wo man 1914 aufhörte, schwächlich und unfruchtbar: mag sein, daß die Revolution in Deutschland zu schnell vor sich selber erschrak, um künstlerisch so verpflichtend zu wirken wie die Revolution in Rußland, jedenfalls gibt es in Deutschland sehr, sehr wenige Bücher und Theaterstücke, die wichtig sind, wogegen in Rußland ein wichtiges Kunstwerk nach dem andern produziert wird.

Da ist vor allem Gladkows großer Roman „Zement“. Das Problem der Nepzeit, das Problem der siegreichen Revolution wird aufgerollt. Gljep, der Rotgardist, kehrt aus hundert Schlachten in sein Heimatsdorf zurück. Er träumte von einem romantischen Wiedersehen mit all den hübschen Dingen, die er verlassen hatte, von einer Familienidylle, von einem Leben wie eh und je.

Aber die Wirklichkeit ist anders als dieser Traum, die Straßen sind schmutzig und ungepflegt, die Häuser verwahrlost und halb verfallen, die Menschen hungrig und faul. Und die Frau, die kleine verliebte Frau, nach der er sich sehnte, ist anders geworden, hart, sicher und selbstbewußt, sie hat das Kind in ein Kinderheim gegeben, sie kümmert sich nicht um den Haushalt, sie sitzt nicht am Fenster und wartet auf ihren Gljep, sie spielt in der politischen Organisation eine Rolle, studiert marxistische Werke, sie nimmt an Sitzungen und Versammlungen teil, sie hat eine eigene Meinung und einen eigenen Willen. Ja, der Krieg hat alles umgestürzt, die Revolution hat alles verwandelt. Und wie ein Kleinbürger, wie einer der nichts von der neuen Zeit wissen will, bäumt sich Gljep gegen das veränderte Leben auf. Er war bereit, sein Blut und seine Gesundheit für die Revolution hinzugeben, aber sein Heim, seinen Traum von Familienglück und Ehebehaglichkeit, den will er nicht hingeben, den hält er für sein ewiges Recht. Das ist das eine – das andere ist nicht so persönlich, aber nicht weniger problematisch: die Fabrik, die große Zementfabrik, steht schon seit vielen Jahren, die Arbeiter, zermürbt und korrumpiert von dem dröhnenden Müßiggang des Krieges, der Revolution, wollen lieber in ihren Klubs debattieren, um jedes Stück Brot mit den Kommissären streiten, in Hunger und Elend verkommen als arbeiten. Nein, sie denken gar nicht daran, die verrosteten, von Spinnweb überwucherten Maschinen wieder in Gang zu setzen, sie lungern zerlumpt herum und warten auf irgendein Wunder. Nur der Maschinenmeister behütet seine eisernen Lieblinge, nur einer der alten Ingenieure hockt in seinem Arbeitszimmer über den Zeichnungen, gespenstischer Wächter einer zerborstenen Welt.

[…]

Arbeiten muß man, sagt Gljep, das ist die einzige Lösung. Und er reißt die Genossen mit, die Muskeln straffen sich wieder, das Blut pulsiert in den Adern. Arbeit, Arbeit, Flamme, die über alles Persönliche, alles Quälende und Verworrene triumphiert. Und die Maschinen erwachen aus ihrem Schlaf, die Kolben stampfen, die Transmissionen singen, die Förderkörbe klimmen den Berg hinan. Ungeheure Musik der Arbeit. – Oh, sie haben’s nicht leicht, Gljep und die Seinen, hundert Schwierigkeiten müssen sie überwinden, hart und grausam müssen sie sein, um sich das Nötigste zu beschaffen, aber sie greifen zu, sie sind nicht sentimental, sie kennen keine Schonung. Kosaken, Weißgardisten überfallen das Werk, da legt man die Schaufel weg und nimmt das Gewehr, da kämpft man mit derselben unerbittlichen Kraft gegen Menschen, wie man gegen den Widerstand der Materie kämpfte – und kehrt wieder zurück zur Arbeit, die das Entscheidende ist. Oh, sie haben’s nicht leicht, Gljep und die Seinen, sie müssen mit Dingen fertig werden, von denen sie früher nichts wußten, mit Problemen der Verwaltung, der Organisation, der Weltanschauung, mit Problemen der Erotik und des Gesellschaftslebens, der Freiheit und der Verantwortung. Alles müssen sie aus sich selber vollbringen, es gibt keine Traditionen, unbeholfen und schwerfällig, wie man ist, muß man die neue Welt gestalten, muß man sich in der neuen Welt zurechtfinden. Aber über alles hinaus donnert und singt das Werk, das sie, die Arbeiter, auf eigen Faust, aus freien Stücken, wieder in Gang gebracht haben, steigt der Hymnus der Arbeit, der Hymnus der Revolution empor.

Tapfer, ehrlich und strotzend von Lebenskraft ist dieses Buch, „unrussisch“, wenn man nur die Dichter des Zarenreiches als russisch gelten läßt, durchstürmt von ungestümer Aktivität. Gladkow macht sich und den Lesern nichts vor, er weiß, daß in Rußland nur ein Bruchstück dessen verwirklicht wurde, was man verwirklichen wollte, er kennt die Schwächen und Mängel der bolschewistischen Gesellschaft, er schildert sachlich und objektiv – aber durch all das braust und jubelt das leidenschaftliche Bekenntnis zu der Wandlung des Lebens, zu der Wandlung des Geistes in Rußland, seine Liebe zur Revolution und zur Arbeit. Und darum ist das Buch nicht „naturalistisch“ und nicht „romantisch“, nicht ein Stück Literatur, sondern ein Stück Leben.

[…]

Erkennt man in diesen drei Romanen, die aus einer Fülle von interessanten und bedeutenden Büchern herausgegriffen wurden, die Wandlung des russischen Geistes? Welch ein Bekenntnis zur Wirklichkeit, welch eine Härte und Präzision, welch ein unverschwommener, unromantischer Wille zur Lebensgestaltung! Das ist nicht mehr die „russische Seele“, die man wie eine rätselhafte Gottheit verehrte, das ist der Geist des Marxismus, der Geist der Revolution, der unsere Sprache spricht wie die Sprache des jungen Rußland. Die Probleme, die Tragödien, die Erkenntnisse jeder Revolution werden in diesen Büchern dargestellt, und während die deutsche, die westliche Literatur noch immer an der Vergangenheit schmarotzt, ist die russische Literatur heute der Ausdruck unserer Zeit, Flamme und Geist der Gegenwart. Darum lieben wir über alle Kritik und alle Gegensätze hinaus dieses bolschewistische Rußland.

In: Der Kampf, 1927, S. 499-507