Béla Balazs: Das entfesselte Theater

             Gelt, das klingt gefährlich? Das klingt nach Unbändigkeit und Wahnwitz, nach Revolte gegen alle Gesetze und Regeln, nach formlosem Sturm und Drang. Ein entfesseltes Theater! Was stellt man sich dabei vor? Die Phantasie bricht aus seinem Kulissenkäfig und rast durch die Straßen der Nüchternheit? Das Spiel schwillt an, steigt über die Dämme der isolierten Kunststätte und überschwemmt den Ernst des Lebens. Eine brausende Sturzflut von Masken und Kostümen ergießt sich mit Harfenklang und Schellengeläute – entfesselt – über die philiströse Ordnung des Alltags.

             Es klingt nur so, es scheint nur so, Tairoff, der Direktor der Moskauer Künstlerspiele, der seinen Reformversuchen diesen populär gewordenen ausdrucksvollen Namen gab, ist kein zügelloser Stürmer und Dränger, der alle Gesetze verachtet. Im Gegenteil. Er ist ein streng-dogmatischer Ästhet. Wenn er ein Revolutionär ist, so ist er ein doktrinärer wie die Kommunisten, denen er angehört, die nach den Vorschriften eines gelehrten Buches die Welt neuschaffen wollen. Er könnte auch ruhig sagen: ich bin nicht gekommen, das Gesetz zu zerstören, sondern um es durchzuführen. Tairoff, der prominenteste Vertreter der neuesten Bühnenreformbewegung, der Schöpfer des „entfesselten Theaters“, ist ein fanatischer Pedant.

             Denn was meint er eigentlich mit der Entfesselung des Theaters? Er meint die Befreiung von der Diktatur der Literatur. Das Theater, sein Theater, will nicht mehr dienend die vorgeschriebenen Wege des vorher geschriebenen Dramas gehen. Es will nicht mehr bloß Kanzel der Dichter, unselbständiger Dolmetsch außerhalb stehender Schriftsteller sein.

             Das Orchester meutert und empört sich gegen die Partitur, will autonom, aus seinem eigenen Element, spontane Gestalten schaffen. Das Theater soll nicht mehr Ausschank der Literatur sein, sondern ursprüngliche Quelle einer eigenen, selbständigen Kunst werden.

             So ungewohnt diese Absicht auch heute ist, ist sie nichts weniger als neu und unerhört. Bekanntlich ist das Theater älter als das geschriebene Drama, das nur als nachträgliche Kodifizierung und Regelung der allgemein üblichen Stegreifspiele entstanden ist. Die Stücke der Commedia dell’ arte waren keine Literatur, und selbst Shakespeares Dramen sind zum Teil auf der Bühne entstanden. Neu ist also diese revolutionäre Idee nicht. Noch weniger aber ist sie anarchistisch und wider das Gesetz. Vielmehr wird mit ihr die pedante Durchführung eines alten akademisch-ästhetischen Dogmas bezweckt. Es ist das ästhetische Dogma vom „reinen Stil“, von der materieechten, ungemischten Kunst. Denn ein Gemälde etwa, das musizieren täte, oder eine Statue, die Verse sprechen könnte, wäre doch ein grauenhafter Kitsch. Und hat man nicht ästhetische Bedenken gehabt gegen Textillustrationen oder gegen die Oper, gegen diese Mischform von Musik und Drama? Hat man sich nicht ereifert gegen die „literarischen“ Bilder, die irgend einen erzählbaren Inhalt haben? Ja, die Forderung einer reinen, ungemischten Kunst schien ein unbezweifeltes, ästhetisches Dogma zu sein, wiewohl sie auf keinen steinernen Tafeln geschrieben stand. Auch ging man nicht soweit in der Konsequenz, etwa dem Lied die Existenzberechtigung abzusprechen und zu behaupten, Schubert, Schumann, Brahms, Wolff wären Kitscheure, weil sie Musik mit Literatur mischten. Es kommt eben darauf an, ob dabei durch eine wirklich „chemische“ Mischung ein organisches drittes Ding entsteht. Und man kann wohl kaum leugnen, daß dies bei der Mischung von geschriebenem Drama und Bühnenpantomime in vielen Fällen restlos gelungen ist.

             Und doch scheint die Freiheitsbewegung des Theaters um sich zu greifen. Die selbsttätige Bühne in der Form von Balletts, Pantomimen und Sprechchören (bei denen das Wort lediglich nur als akustische Masse mit den Form- und Farbwirkungen kombiniert wird) ist ohne Zweifel aktuell geworden. Das muß außer den besagten ästhetischen Bedenken tiefere Gründe haben. Gewiß ist ein so unliterarisches, autonomes, „entfesseltes“ Theater eine sinnvolle und berechtigte Kunstgattung. Aber daß sie just in unseren Tagen modern wird, das wird mit Dingen zusammenhängen, die außerhalb der Ästhetik liegen.

             Warum kommt man heute vom Worte ab? Warum ist man heute mehr für dekorative Schaustellungen als früher? Das kommt daher, daß das Wort heute nicht mehr zielsicher ist. Dichter und Schauspieler wissen nicht mehr, ob ihr Wort auch richtig verstanden wird. Die geschlossene bürgerliche Kulturgemeinschaft hat aufgehört. Man ist nicht mehr intim unter sich, wie man es seinerzeit in den fürstlichen Theatres parés und auch später im Kreise der gebildeten Patrizier war. Soziale Schichten haben sich verschoben, Klassen und Stände sind durcheinandergewürfelt. Das Publikum ist nicht mehr homogen; es ist ein zufälliges, und man weiß nicht mehr, zu wem man spricht. Was der eine versteht, muß dem anderen fremd klingen. Will man also das Theater für die breite Öffentlichkeit retten und doch auf einem artistischen Niveau erhalten, so greift man eben zu den dekorativen Schaustellungen. Denn diese sind nicht so präzisen Sinnes wie das Wort. Man kann sie auslegen, stimmungsgemäß, je nach Anlage, und subjektiv verschieden deuten. Jeder holt sich daraus, was ihm entspricht. Die unbegrenzte Möglichkeit des Mißverständnisses bürgt für allgemeine Wirkung.

             Das entfesselte Theater deutet eine Freiheit aus Not. Hier ist eine Kunst wieder einmal frei geworden, wie ein Vagabund, der seine Heimat verloren hat.

In: Der Tag, 1. November 1924, S. 2.

Paul Wertheimer: Zement. Roman von Feodor Gladkow.

Aus dem Russischen übertragen von Olga Halpern. 11. bis 18. Tausend. Verlag für Literatur und Politik, Berlin-Wien

Ein flammendes Buch, eine flammende Beichte. Eines der seltenen Bücher von heute, die, nicht in der Schreibstube, sondern aus glühender Wirklichkeit geboren, uns wie mit glühenden Armen umpressen. Gladkow – man wird diesen Namen als eines der stärksten, jüngeren wortbildnerischen Talente Rußlands merken müssen – hat die russische Revolution aus der Nähe gesehen. Was er sah, steigt hier in vorüberflackernden, oft in das Ekstatische gesteigerten, expressionistischen, aber doch unendlich einprägsamen Visionen vor dem erstaunt-erschütterten, oft abgestoßenen, aber immer wieder mit harter Faust zum Interesse gezwungenen Leser auf. Ein Zeitdokument von authentischer Echtheit und, weil Gladkow nicht ein Schreier, sondern ein Bildner im Streit ist, ein künstlerisches Werk von nicht gewöhnlicher Bedeutung. Eines der wenigen, die wir einstweilen aus diesen chaotischen Tagen, dieser chaotischen Welt besitzen. Weil es den repräsentativ modernen Roman des Rußland von heute oder von gestern bedeuten soll, ist es ein Roman der Masse und der Maschinen und des maschinell gewordenen Menschen. Aber dennoch ist es kein konstruktives, maschinelles Gebilde. Vielmehr sind in diesem großen, zeitreflektorischen Roman nach einem Wort Heines die Maschinen, die Daimler Motoren etwa, wie Menschen. Und die Menschen, kommunistische Arbeiter, zwischen denen ein westeuropäisch gesinnter Ingenieur sich mühsam behauptet, sind nicht Maschinen, sondern, trotz ihres programmatischen Lebens von Leidenschaften, nicht motorisch, sondern gewaltsam durch ihr Blut vorwärts getrieben. Ungezählte Figuren in schärfster Kontur, wie auf den Zeichnungen Krinskis, Kustodjews und Annenkows, der Graphiker dieses Bolschewismus. Die „Masse Mensch“, gebändigt von der Hand eines starken, nie im Parteiwortschaum verlorenen, durch sein sicheres Gefühl für das Bildnerische geleiteten Künstlers. Hat dieses seltsam aufwühlende Werk, was man früher Handlung nannte, die Geschlossenheit eines aufwärts steigenden Geschehens? Keineswegs. Es hat nur Figuren und Atmosphäre der Zeit, — eine Atmosphäre von Schweiß und Blut — tausend drohende, schwielige Arme, gestraffte Muskeln heben sich gegen den Betrachter wie auf manchen Plakaten. Diese Menschen, dumpf, trieb- und tierhaft, russische Menschen der Arbeit, nicht, wie bei Dostojewski und Gorki, des Sinnierens, Gott- und Sich-selbst Suchens. Sie gruppieren sich um den aus Kämpfen der Roten Armee siegreich in sein Städtchen und seinen Betrieb heimgekehrten Werkmeister Gleb. Er will das große, durch die Planlosigkeit der als Organisatoren versagenden Führer zum Stillstand gebrachte Werk wieder in Gang bringen, die Schlote blau wie Gaszylinder sehen, das Herz, nach dessen Pochen er sich – die russische Romantik des Maschinellen – sehnt, wieder vernehmen. Wie ihm dies zuletzt gelingt, trotz des Widerstandes der kommunistischen Bureaukratie, die Gladkow mit ingrimmiger Laune schildert: dies ist der ganze Roman. Er kling in einen Päan der Arbeit aus. Dieser Ton ist der russisch-zeitdokumentarische. Aber Gladkows Werk birgt einen gewichtig menschlich-künstlerischen. Es sind Episoden in diesem Buche, die man nicht vergißt: Das Sterben des Töchterchens Glebs Njurka, das, fremder Obhut überlassen, weil Dascha, die Mutter, sich der Parteipropaganda hingegeben, buchstäblich an mangelnder Liebe verhungert. Es sind Figuren, die sich wie aus dem ›Germinal‹ einprägen, wie der Vorsteher-Genosse Badjin mit dem metallenen, harten Gesicht. Es gibt hier Gesichte des Schreckens, Szenen aus den Kämpfen zwischen den ›Roten‹, ›Weißen‹ und ›Grünen‹, Schilderungen des entfesselten Trieblebens wieder von Zolascher Wucht, so abschreckend sie auch, vielleicht gegen die Intention des Dichters wirken mögen. Die Landschaftsbilder, Stimmungen der russischen Haide, der weißen Kalkfelsen, des Sommers, der Sonntagmorgen, aufblühend zwischen Blut und Grauen – ein Dichter hat sie mit solcher Zartheit gefühlt. Kein Zweifel: der Sturm, der über dieses, uns noch immer halb sagenhafte Land getobt, ist hier nicht zu einem Säuseln abgedämpft, doch es sind auch leisere Stimmen darin, die seinen Schrecken mildern.

In: NFP, 10.6.1928, S. 28.

Ernst Decsey: Der „Blaue Vogel“

Das russische Kabarett in den Kammerspielen

            Der ›Blaue Vogel‹ bedeutet: das fröhliche Rußland. Es gibt nicht nur ein Rußland der Hungernden, Frierenden und Verzweifelten, nicht nur eines der legendären Talglichtesser, sondern auch eines, das lacht, trotzdem und trotzdem. Man denkt bei den Drolligkeiten dieser Kleinkunst fortwährend an finstere Volkskommissäre, Sowjet, Bolschewistengreuel, glaubt, das Lachen sei den Leuten dort längst vergangen, sieht aber die triumphierende, ›breite Natur‹ der Russen, und freut sich: Lachenkönnen bedeutet Lebenskraft.

            Einreiseschwierigkeiten haben dem ›Blauen Vogel‹ Reklame gemacht, und man sieht überrascht: es gibt Reklame sogar für reizende, anständige, eigenartige Dinge sowie es Protektion bei wirklichen Talenten geben soll.

            Schon die erste Nummer des russischen Kabaretts ›Der Tanz der holländischen Fayence‹ bestätigt es, denn er schlägt ein – jedoch die allererste Nummer des Kabaretts ist jemand andrer: der Direktor J. Jushnij. Ein sehr eleganter Herr tritt vor den braunen Vorhang, sagt in russischer Belautung barocke Dinge, die man in Berlin, wo er damit Furore machte, ›Dalbern‹ nennt – kurz, er zeichnet sich durch schlechte Witze und einen prachtvoll sitzenden Frack aus, was den Ausschlag gibt, denn schon, schon hat er die Damen am Bändel…

            Der Conférencier und Direktor soll dem Publikum die Einstellung geben, das pointenlose Volkskabarett erklären: aber Jushnij, ein gelehrter Schüler Mephistos, weiß, worauf es ankommt: „vor allem lernt die Weiber führen!“ Und er führt sie. Am Schluß klatschen sie nach seinem Kommando, hören nach seinem Kommando auf, singen auf Befehl russische Lieder mit, sprechen ihm russische Worte „toddellos“ nach, obwohl nach Jushnijs Versicherung Russisch nur in den ersten zehn Jahren schwer zu lernen ist. Humorlose Männer wehren Herrn Jushnij zuerst innerlich ab – sprechen dann aber auch Russisch und finden sein Deutsch, die angekündigten „Kostjume“ der „Dammen“, entworfen vom unausprechlichen Chudjakow, klassisch. Das ist die erste Nummer des Kabaretts: Herr Jushnij persönlich, der wahrscheinlich die deutsche Muttersprache trefflich beherrscht…

            Um auf die tanzenden Fayencen zurückzukommen: man sieht einen blauen Riesenteller mit zwei Delfter Figuren, die zum Leben erwachen und auf malerische Art tanzen. Das ist sehr nett, allein deshalb brauchte es noch keine Paßschwierigkeiten zu geben. Ebensowenig der „Abendglocken“ wegen: ein Mönch, an einem Baumstamm gelehnt, sieht ein erleuchtetes Kloster in der Ferne und singt ins melancholische Geläut der Glocken eine melancholische Romanze. Nun?

            Da, beim „Streletschek“ bekommt man die Einstellung. Der „Streletschek“ (Jägerlein) ist ein froschgrün gekleideter, märchenblonder, bauchiger, safranbärtiger Jägersmann, der auf drei russische Mädel Jagd macht, hinter ihren sehr roten, sehr blauen, sehr gelben Schürzen her ist, augenzwinkernd, schwerenöterig, siegesgewiß, bis er das Unglück hat, bei einer davon zu „siegen“. Mit bedauernder Geste segnet den Verlorenen der  Conférencier…Dann sieht man, was man noch nie gesehen hat: die deutsche und die russische Kneipe. Ein tollfarbiges Tableau zeigt ein expressionistisches Wirtshaus, Tisch, Bänke, Würste, Krüge, Gäste und deren Köpfe, in der Fläche verteilt, beginnen die Augen zu drehen, die Münder gehen auf, und in kräftigem Unisono erschallt: „Mädel, ruck-ruck-ruck an meine grüne Sei-ei-te, i hab‘ di gar so gern, i kann di leide…“ Die Künstler stehen hinter dem Tableau, stecken durch Oeffnungen die Gesichter ins Bild, lustige Fratzen mit einem rotumalten Aug‘, einer schachbrettgemusterten Backe, einem grün geränderten Mund. Und nun wird das Ganze ins Russische übersetzt, ein russisches „Madel  ruck-ruck-ruck“ gesungen. Ein Hallo des Publikums folgt: es hat verstanden, hat eingeschnappt.

            Das scheint sehr primitiv, und ist es auch: nichts als ein dramatisches Volkslied.  Ein Gassenhauer, von Farben umkränzt. Aber derlei primitive Angelegenheit sucht der Russe eben im Kabarett. Der Pariser späht nach gespitzten Bosheiten, sättigt sich an graziösen Verhöhnungen des öffentlichen Lebens. Der Münchner Kabarettgeist trachtete den Philister durch Exzentrik  zu bluffen, die dem Leben ausgetrieben war. Der Russe will sich einlullen. Das Leben vergessen. Durch holde kleine Thorheiten. Es genügt ihm, das Lied der Kathinka auf der Bühne zu sehen. Rechts sitzt der Vater mit dem großrussischen Portiersbart, links die Mutter mit dem bäuerlichen Riesenkopftuch, in der Mitte sitzt die strohblonde Kathinka  mit den bastumwickelten Beinen und singt ihre Polka: Sie verkehrt mit Offizieren, hat jetzt Manieren, will deshalb heiraten, biegt die elterlichen Vorwürfe um, versichert augenblicklich zu sterben, bis sie Segen und Einwilligung erhält und alle drei anstimmen:  Seht mal her, seht mal her, ach wie ist das Leben schwer, alles muß sich, wie Sie sehen, jetzt im Polkatakte drehen…

Einfach, nicht wahr? Aber immer ist die russische Kunst volkhaft. Man hört eine Symphonie von Tschaikowsky, westliche Kultur in drei Sätzen, sogar Salon; aber das Scherzo ist Volk, ist russische Erde. Und der ›Blaue Vogel‹ ist das Scherzo des russischen Lebens.

Nur wurde das Primitivste in die radikalste Formen- und Farbenkunst gestellt – die Kostjume von Chudjakow zierten jedes expressionistisches Bilderbuch – und sie akzentuieren, gerade mit ihrem Raffinement, wieder das allerprimitivste: wie ein blühender Acker im Frühjahre mit Mohnblume, Wicke und Kornblume wirren die farbigen und beborteten Kleider der Frauen Kommissarshewskaja, Torkaskaja und der anderen Künstlerinnen mit und ohne Kaja.

Für Damen ein weites Beobachtungsfeld. Um so mehr, als an dessen Rand niemals die Zote auftaucht. Niemals, auch nur von fern, die gewisse Glocke läutet. Keinerlei Anspielung über die keuschen Ohren gleiten: es geht auch so, sogar ohne aufgeschlagenes Bett.

Einmal sieht man einen mit Trauben beladenen Esel, auf dem ein Tatar sitzt und von einer Kamelkarawane phantasiert: „ein Kamel, zwei Kamele, drei Kamele, vier Kamele, fünf Kamele…“ Zierlich erscheinen auf einem Fenster der Hinterwand die Umrisse von Miniaturkamelen im Gänsemarsch: ein Kamel, zwei Kamele…, sechs Kamele. Man ergötzt sich, weiß nicht warum, lacht mit und rechnet sich zum siebenten Kamel. Man sagt: Blödsinn. Ja, im ›Blauen Vogel‹ wird man naiv wie ein Muschik.

Einmal sieht man dramatisierte alte Romanzen, ein Rokokopaar, das einem Rokokospieler am Spinett zuhört, findet es nichtssagend und hält es für ein Werk Kitschikows… dann entzückt man sich an den adretten Zinnsoldaten, ihren gepluderten linnenweißen Hosen, den Marionettenrucken ihrer Füße, den violetten Kinderflinten, den Naturlauten des kommandierenden Leutnants und ist betört: „O selig, o selig, ein Kind noch zu sein…!“

Dann verulkt russische Naivität den amerikanischen Merkantilismus. „Sie“ ist Besitzerin eines Wäschestores, „er“ Inhaber eines Makkaroni-Imports. Er droht, sich mit dem Revolver zu töööten, wenn sie ihn verschmääääht, worauf sie die Situation und die Geschäfte rettet, ja sagt und eine Kompagniefirma gründet. Drei Boys, Chor rechts, drei Mannequins, Chor links, wandelnde Annoncen plappern dazu unaufhörlich die Reklame: Firma, Straßennamen, Hausnummer, Telephon. Der Selbstmord und die Hochzeit als Geschäftstrick. Amerika auf die einfachste Formel gebracht. Triumph der russischen Kinderaugen, die der Welt verborgenste Dynamik durchschauen.

So steht Szene an Szene, ohne Zusammenhang, was dem Denkapparat willkommen ist. Es gibt nichts zu verstehen, nichts mißzuverstehen, man sieht Farben, Kostüme, Blödsinn, Exoten wie Spielzeug, das ganze Leben scheint Spielzeug, und nie sieht man einen Versager: die Regie arbeitet sicher und heimlich wie die russische Justiz, und immer ist die Musik, die Golgotzy am Flügel spielt, von Jushnij. Immer von ihm, Jushnij macht alles. Macht auch die große Stimmung, bis das Publikum ohne Gage mitspielt, worauf es bekanntlich beim Kabarett ankommt.

Ihm muß auch ein großrussischer Schnapstrinker mit Zigeunern im lieben alten Moskau Spaß machen. Wir wußten damit nichts Rechtes anzufangen, dachten an Figuren aus Raskolnikow und an Väterchens sehr unromantisches Alkoholverbot. Jushnij tut entzückt. Er vergoß eine heimliche Träne beim Namen des „alten lieben Moskau“, wie Wiener beim Namen des alten lieben Wien, und zeigt sich auf stürmisches Verlangen bereit, die Sache zu wiederholen: „Morgen nämlich, meine Cherrschaften, morgen…bei nechste Vorstellung.“ Womit man zugleich eine Probe vom Witz des ›Blauen Vogel‹ hat, dessen Geheimnis die raffinierteste Primitivität ist, sozusagen: die Simplicitas russkaja.

In: Neues Wiener Tagblatt, 2.12.1922, S. 2-3.

Joseph Gregor: Mayerhold

Die Erscheinung des Theaters von Mayerhold – zweifellos die bedeutendste des ganzen modernen russischen und vielleicht europäischen Theaters – ist nicht frei von Ironie. Mayerholds Vorstoß, um zu den reinen Elementen des Theaters zu gelangen, ist noch weit energischer: führte der Tairoffs ins Barocktheater zurück, der Wachtangoffs ins Shakespeare-Theater, so befinden wir uns bei dem Mayerhold in der Gegend des klassischen Theaters und des Mimus. Seine Räumigkeit des Theaters ist die größtmöglichste: für ihn ist jedenfalls auch Tairoffs Raumkonstruktion nur Kulisse und so spielt er ohne Vorhang vor dem leeren Bühnenhause. Man denke aber nicht, daß damit auf die verschiedenen Raumwertigkeiten, wie sie die Bühne gewährt, verzichtet sei: Ausgangsebene ist meist eine kreisförmige oder oblonge Orchestra („Der Lehrer Bubus“, „Mandat“, „Der Revisor“), die eine Rückwand besitzt (im ersten aus Stäben, im zweiten und dritten aus politierten* Flächen). Durch diese Maßnahme wird endlich erreicht, den Schauspieler tatsächlich räumlicher, von verschiedenen Seiten beschaubar zu machen. In der Tat erlauben sogar schon die hier beigebrachten Figuren, sich von der großen Plastik der menschlichen Erscheinungen und Gruppen jedenfalls der größten, die je auf einer Bühne erreicht würde, zu überzeugen. Wird nur das Bühnenhaus mit seinen Rohwänden verwendet („Der Wald“, „Die Erde bäumt sich“, „Tarelkins Tod“, „Die Morgenröte“), so dient ein konstruktiver Aufbau auf der Bühne dazu, die in Gefahr stehenden Raumwertigkeiten wieder zu gewinnen. Öfters so deutlich, daß er in einem Anlauf vom Proszenium bis hoch über die Bühne führt („Der Wald“) oder daß praktikable Gerüstaufbauten errichtet werden („Die Erde bäumt sich“), auf denen sich Vorgänge abspielen können. Es ist also in jedem Falle vorgesorgt, keinen Teil des an sich leeren Bühnenraums unbeschäftigt, ungespielt zu lassen. Doch mehr als das. Die von Mayerhold angewandten Konstruktionen sind im Gegensatze zu den in dieser Untersuchung mehrfach genannten nicht fix, sondern beweglich. Die ganze Fallenkonstruktion in „Taraelkins Tod“ ist fahrbar, die Maschinerie in „Der großmütige Hahnrei“ ist in Gang zu setzen, im „Revisor“ fährt die ganze geneigte Spielfläche mehrmals auf die Bühne hinaus und verschwindet wieder. Bewegliche Wände, („Trust D. E.“), Flächen, die eigentlich Drehtüren sind, die Verwendung allerlei wie immer gearteten Vehikels ist keine Seltenheit. Zu dieser außerordentlichen Beweglichkeit und turnerischen Grazie seiner Schauspieler ­– was nicht wundernehmen kann, da sie so stark im Blicke stehen – gesellt sich die bewegte Dekoration. Es herrscht ein wahrer horror quietatis, ein Abscheu vor der Ruhe, das Theater in Bewegung.

Man kann nicht annehmen, daß dieses System nur zufällig sei oder einer billigen Sensation entsprechen würde. Dagegen spricht seine ganz außerordentliche starke Wirkung und der hohe Ernst seines Autors. Es ist vielmehr nichts Geringeres beabsichtigt, als den Ausdruck des Spiels statt im Bilde und in der Stimmung, statt in der Rede und in der Beleuchtung in der Bewegung zu finden, motorischer Symbolismus. Für dieses Theater wäre beispielsweise eine Abendstimmung nicht in den üblichen Beleuchtungsszenarien zu suchen, sondern in den Reihen der müde aus den Fabriken heimgehenden Arbeiter, eine Morgenstimmung im machtvollen Ausschreiten eines zuversichtlichen, erwartungsvollen Chores. Tatsächlich ist beides bei der Inszenierung der „Morgenröte“ Verhaerens in dieser Weise aufgefasst worden. Chorischer Ausdruck ist also die notwendige Ergänzung des tänzerisch-turnerischen des Schauspielers, wird in dieser ein Prinzip des Minus, so in jener gewiß eines der leider verloren gegangenen mimischen Anweisungen des antiken Chores erreicht.

Es wird sich lohnen, eine ganze Inszenierung Mayerholds auf diese Prinzipien zu untersuchen, um deren wechselweise Anwendung und Anschaulichkeit kenntlich zu machen. Wir wählen einen Fall, von dem als einer Art, Gradmesser der russischen Bühne schon mehrfach die Rede war, den „Revisor“, und gehen das Stück analytisch auf die eben genannten Elemente ebenso durch, wie sie nacheinander zum Bewußtsein des Beschauers treten.

Mayerhold spielt den „Revisor“ vor der genannten Wand hochglanzpolitierter Türen. An Stelle des eliminierten Vorhangs tritt das Licht; nach akustischen Anfangszeichen erfolgt das Aufleuchten der meist ungedeckten Scheinwerfer, es erscheint, auf Rollen hereingeschoben, die kleine, geneigte Spielfläche, mit der für alle im Interieur spielenden Szenen das Auslangen gefunden wird. Einige Möbelstücke, Kasten, Chaiselongue, Fußschemel, stellen auf dieser Spielfläche für diesen Fall den Eindruck eines Zimmers der gewünschten Zeit her. Die außerordentliche Enge, die insbesondere bei der Verwendung größerer Gruppen entsteht, ist deutlicher räumlicher Symbolismus, in ihr findet die Begriffsenge des Milieus ihren, wenn auch sehr naiven, immerhin aber für die große Masse schlagkräftigen Ausdruck. Aus dieser Kleinformung der Szene ergreift aber der Regisseur jeden sich bietenden Anlaß, um zu der gewohnten Großformung zu greifen; als erster bietet sich die Heimkehr Chlestakoffs nach dem Frühstück dar, die als Freilichtszenerie, über die ganze Breite der Szene, längs einer hereingeschobenen Barrière gespielt wird, auf deren einer Seite der falsche Revisor, auf deren anderen die devoten Begleiter in fortwährendem Auf und Nieder begriffen sind. Natürlich liegt der Ton auf diesem motorischen Moment. Desgleichen wird, im fortwährenden Alterieren mit der engen Interieurszene – ein Motiv besonderer Wirkung – natürlich auch die Übergabe der Gesuche und das Vertreiben der Bittsteller des Städtchens sehr breit motorisch durchgeführt. Schließlich sogar die Bestechungsszene, mit dem gespensterhaften Motiv der vielen Türen, aus denen immer wieder Personen sichtbar sind, Hände mit zerknüllten Banknoten greifen usw. Damit übergeht für Mayerhold das Stück schon von dieser Szene an in die pathologische Atmosphäre, die für den Schluß auch dem Autor nicht unerwünscht war. Nach der Schlußrede des Polizeimeisters an das Publikum beginnen die Figuren des Stückes Hand in Hand, in langer Reihe, von der Szene hinab ins Publikum zu schwirren, umkreisen turbulent das ganze Haus, bis der Zuschauer gewahr wird, daß sie verschwunden und auf der Szene eine Reihe von Wachspuppen übrig geblieben sind, verfallen, abgetötet, aber genau im Kostüm und den Haltungen der Darsteller.

Wir leugnen nicht, daß sich die hier verbergende Symbolik, die für den Leser unserer Untersuchungen jetzt schon bereits Schritt für Schritt erkannt werden wird – bildlicher, räumlicher, motorischer Symbolismus – recht naiv ist, daß sie gar keinen Vergleich aushält mit hohen optischen oder akustischen Symbolismus einer Aufführung Stanislawskis; sie ist aber, insbesondere wenn an ein Massenpublikum gedacht wird, wirksam und theatralisch richtig. Auch die Symbolik des antiken Theaters war naiv, auch bei diesem der Wunsch, auf eine zu Tausenden zählende Zuhörerschaft zu wirken, für die jede andere als eine deutliche, gegenständliche Aktion unverstanden geblieben wäre. Naiv und motorisch ist ferner der Symbolismus der ganzen simultanen Spielweise des Mittelalters, wo an einer Spielstraße, an Häusern, denen bescheidener Raumsymbolismus anhaftet, – Haus des Kaiphas, Ort der Dornenkrönung usw. – in fortdauernder Bewegung gespielt worden ist.

Diese Bemerkung müssen leider genügen, um die fortschreitende Analyse erkennen zu lassen, die auch das Theater Mayerholds bietet. Mit dem Wegfall der Bühne ergab sich die Notwendigkeit des Aufsuchens anderer symbolischer Kategorien, die geschichtlich ganz folgerichtig in einer Zeit gefunden worden sind, die gleichfalls keinen dreiseitig begrenzten Bühnenraum kannte. Die Rückkehr Mayerholds zum Mimus, also einer Theaterform der hellenistischen Zeit, ist oft bemerkt worden, es führt jedoch nur ein Schritt zur Rückkehr zu den Tänzen und Bewegungen des Chors, also zu einem Element der klassischen Zeit selbst. Ebenso sind die Aufbauten der Bühne beweglich gestaltet – man vergleiche im Gegenteil die fixen Aufbauten Tairoffs, zum Beispiel des „Gewitter“ – um auch darin keinen „toten Punkt“ und die weitestgehende Möglichkeit der Raumausnützung zuzulassen. Auch werden diese Aufbauten technisch einfacher gehalten, Räder, Anläufe, Kreisel, Gitter, durchbrochene Treppen, um überall ihren symbolischen, flüchtigen Charakter zu betonen und nirgends eine die motorische Freiheit der Szene sperrende Verbauung zuzulassen. Das räumliche Symbol wird also als gefährlich befunden und in strenger Antithese zu Tairoff abgelehnt, die Bühnenumrahmung, der „Guckkasten“, nach mehr als vielhundertjähriger Geltung vom offenen Theaterraum wieder abgelöst.

Aus dem im Amalthea-Verlag erscheinenden Werk über die russische Theaterkunst von Joseph Gregor und Renée Fülöp-Miller.

In: Die Bühne (1927), H. 163, S. 24ff.

Karl Leuthner: Halbasien

Die emsige Forschung des wissenschaftlichen Spezialisten, die peinlich genaue Tätigkeit des an Hochschulen gebildeten Fachmannes, die sorgfältige und verständnisvolle Mühe des Arbeiters und des Bauern sind die Grundpfeiler der modernen Kultur. Man hat vor dem Kriege gern über die zeitausladende Rastlosigkeit neuzeitlicher Arbeit gemault; und lange bevor die Entente daraus ein politisches Schlagwort machte, die angebliche epische Ruhe großer Kulturzeitalter, des Zeitalters Goethes, zu dem betriebsamen, aber an Genieleistungen armen Tageslauf der Enkel ins Widerspiel gesetzt. Doch das war das Geschwätz der Kulturschmöcke, Weltanschauung aus dem Kaffeehauswinkel lungernder Bohème. Alle großen Künstler waren Schwerarbeiter in ihrer Kunst, und Goethe war es sogar außerhalb seiner Kunst, als Staatsbeamter, oft selbst zum Schaden seiner schöpferischen Muse, als Naturforscher, der das ganze Wissen seiner Zeit zu umspannen suchte. Den Dichter des Faust, den Propheten des Suezkanals, den freudigen Empfänger jeder naturwissenschaftlichen und technischen Errungenschaft zu dem planmäßigen Fortschritt wissenschaftlicher und technischer Naturbewältigung unserer Tage in Gegensatz zu bringen, heißt, weder von Goethes noch von unserer Kultur Wesensart mehr als leeren Wortschall vernommen haben. Die moderne Kultur, die sachlich auf genau arbeitenden Maschinen, auf wohlersonnenen Ersatz von Menschenkraft durch gebändigte Naturkraft und auf rationellster Ausnützung aller in der Erde und unter der Erde ruhenden Kräfte faßt, konnte nicht anders erbaut werden als durch Arbeit und wiederum durch Arbeit und noch einmal durch Arbeit. Die Kraft und Zeit auspressende Gewinngier des Kapitalismus hat bloß zu Sondervorteil mißbraucht und ins Gemeinhändlerische entstellt, was doch der Lebensatem unserer Zeit war: äußerste Kraft und Zeitökonomie und die ihr entsprechende Besinnung der Menschen, sorgfältigster, stets von Wissen, Ueberlegung und Pflichtgefühl geleisteter Fleiß.

Nachdem aber einmal diese gegenständlichen Voraussetzungen und sittlich-geistlichen Kräfte die neue Kulturwelt emporgehoben, die ihr entsprechende Lebensform gestaltet hatten, war in unserem Europa, der menschenwimmelnden Städte, des überbesiedelten Landes bis mehrere Arbeitsgesinnung aus einer Bedingung höherer Gesittung zu einer bloßen und baren Notdurft geworden. Der deutsche Adler des achtzehnten Jahrhunderts, nach Urväterart bestellt, vermochte kaum von den 30 Millionen, die Deutschland damals bewohnten, den Mangel fernzuhalten; die rationelle Landwirtschaft des neuen Deutschlands ernährte fünf Sechstel der 67 Millionen Einwohner, die knapp vor dem Kriege das Reich bevölkerten. Mit dem Kohlenertrag aus der ersten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts wären die Städte des beginnenden zwanzigsten Jahrhunderts dem elendsten Erfrieren ausgeliefert gewesen. Es führt zu der schleudernd bedächtigen Lebensweise der Väter kein Weg zurück, außer dem, der in den Friedhof mündet. Das Nebeneinander altväterlicher Schlamperei und Bummelei und der Vorteile moderner Kultur ist nur denkbar in jenen halbeuropäischen Ländern, in denen die moderne Kultur eben nicht Ergebnis und Ertrag eigener Geistesanstrengung und eigener Mühe, sondern Einfuhr aus Freude ist.

Hier in Rußland und in den Balkanländern, mit grellstem Widerspruch in der Türkei, hatten oder haben noch gleichzeitig ihren Platz die Riesenfabrik mit den neuesten aus England oder Deutschland hergeholten Rohstoffen, das Prunkhotel mit allen Wundern neuzeitlicher Bequemlichkeit und neuzeitlicher Hygiene, und das Dorf mit seinen verlausten Insassen, die mit dem Holzpflug der Vorzeit den Ackerboden mehr ritzten als aufwühlten. Doch in den Städten selbst bilden die meist aus der Fremde eingewanderten oder in der Fremde geschulten Ingenieure und die Schar von Arbeitern, die sie sich abgerichtet, nur Inseln des neuen Arbeiterbodens mitten im Schlammmeer mittelalterlicher Trägheit, mittelalterlichen Schmutzes. Den Grundstock der Bevölkerung der halbasiatischen Bevölkerung stellt eine wirre Menge von Lumpenproletariern und Händlern dar, von denen niemand genau sagen kann, wovon sie eigentlich ihr Leben fristen. Sie erzeugen allzumal nichts, sie schaffen keine Werte, sie bilden nur eine unendliche Kette von Krämern, Schleichhändlern und Wucherern, die sich zwischen den Verbraucher und Erzeuger drängt. Und diese lange Kette des Handels ist eine ebensolange Kette des Betruges, denn wie der Weltverkehr zu seiner technischen Kreditvoraussetzung die Zuverlässigkeit hat, so sind hier, wo hunderte Händler, gleich dem Ungeziefer, auf derselben Ware sitzen und sie benagen, Uebervorteilung und List Daseinsbedingungen. Doch mag sich einer aus dieser Reihe zu Millionenreichtum emporschwingen, mag er sich in Schmutz und Not weiterschleppen, alle erfüllt die gleiche Gesinnung: sie wollen feilschen und mogeln, hökern und wuchern, um nur den Schweiß ehrlicher Arbeit fliehen zu können. Und dieser Geist der Korruption durchzieht die ganze Gesellschaft. Das Händlervolk kauft sich von Gesetzen los, das der schlechtentlohnte, aber zahllos die Kanzleien bevölkernde und faulenzende Beamte verkauft, um besser leben, um vielleicht überhaupt leben zu können. Das gibt der oberflächlichen Beobachtung den angenehmen Eindruck völliger Freiheit von Pedanterie, von der Pflicht- und Paragraphenstrenge; und dient keinem besser als dem Reichtum, der hier am vollsten prassen darf, weil das Aufeinanderstoßen moderner Fabriken und alter Wirtschaftsformen und die erste, märchenhafte Ergiebigkeit unausgeschöpfter Bodenschätze unendliche Gewinne abwirft.

Nur scheinbar steht die Intelligenz zu diesem Sein und Treiben in einem Widerspruch, den man gern bei ungenügender Prüfung der ursächlichen Zusammenhänge sogar zu einem idealen Gegensatz aufgehöht hat. Im Grunde sind diese Intellektuellen des Ostens nicht anders wie die Fabriken des Ostens vollgepfropft mit den fertigen Erzeugnissen des Auslands. Sie handhaben die abgeschlossenen Ergebnisse eines fremden Denkens, das in ihrem Lande keine Entwicklung hatte oder nur in einer Aufeinanderfolge von Gedankenreflexen aus dem Ausland sich entfaltete. Sie handhaben aber dieses überkommene Geistesgut desto kühner, schreiten um so leichter zu den radikalsten Schlußfolgerungen fort, als ihnen eben die Mühe des Erwerbens nie recht anschaulich geworden ist. Sie bilden die unabhängige Jugend, denn sie hemmt nicht der ehrfurchtgebietende Anblick fruchtbarer Arbeit der Väter. Und sie erscheinen ideal allein auf das Gedankliche gerichtete, von der Enge des Brotstudiums weniger begrenzt weil ringsum nirgends das Beispiel strenger Berufsarbeit den Beruf, die gesellschaftlich notwenige Teiltätigkeit als Lebensaufgabe erscheinen läßt. Und wovon leben sie am Ende? Nicht anders als die Fürsten-, Beamten- und Lakaienstädte des achtzehnten Jahrhunderts von dem Ueberschuß des Ackerertrages im dünn besiedelten Lande, einem Ueberschuß, den der Staat für die handeltreibende und in Kanzleien faulenzende Stadtbevölkerung mit allen seinen Steuerschrauben herauspreßt.

So durften wir einst über den Osten reden. Dürfen wir es noch? Ist der Osten nicht unter uns selbst leibhaftig aufgestanden, seitdem der Krieg die Werke unserer westlichen Gesittung verwüstet und den Menschen dieser Gesittung das Herz versehrt hat? „Die Wüste wächst, weh dem, der Wüsten birgt.“ Um uns herum ist es russische Steppe geworden, Steppe eingeebneter Kultur, in unseren ehrwürdigen Kultur- und Arbeitsstädten wimmelt und wuselt die untätige Geschäftigkeit von Warschau und Berdiczew. Und es sind nicht nur Städte aus dem Osten, die ihr altehrwürdiges Handwerk in modernen Schleichhandel umgemodelt haben. Zu ihnen gesellen sich gelehrige Schüler, alles, was im Hungerleben des Krieges die Arbeit hat meiden lernen. Ein neues Lebensideal steigt auf, nicht öffentlich anerkannt, desto eifriger befolgt: zu leben ohne produktiv tätig zu sein, zu leben, indem man eine Ware, wo immer erzeugt, zinsnehmend von Hand zu Hand schiebt. Und diesem Grund- und Haupttypus des östlichen Lebens schließen sich notwendig die abgeleisteten Typen und Gestalten an. Wo der Gewinn aus dem Nichts das Ziel bildet, dort muß wildes Spiel und roh wüstes Genießen unmittelbar daneben erwachsen. Doch wenn nun Habenichtse, denen der Schleichhandel Haufen von Banknoten zugeschoben, an eine Karte, an ein Weib, an eine Flasche Sekt Summen wagen, die einst selbst die goldene Jugend auszugeben sich scheute, so gebührt es sich, daß wir zugleich in Eisenbahnzügen fahren, die von Ungeziefer fast so dicht wie von Fahrgästen überfüllt sind, und der Schmutz überall frech am hellen Tage wächst. Die gute alte Zeit kehrt wieder, wo jeder eine Nase voll nahm und sich weiter an den Stank nicht sonderlich kehrte, die gute alte Zeit zu der unsere täglich sinkende Arbeitsleistung herabzugleiten beginnt, die gute alte Zeit der Dreifelderwirtschaft, zu deren Ertraglosigkeit unsere Äcker fast schon herabgestürzt sind, Wir haben Beamte und Studierende, mit denen wir einen Großstaat ausrüsten könnten, aber bloß für vier Monate Brot und kaum für anderthalb Monate Kohle.

Wir haben alles in Ueberfluß, bloß das nicht, was wir brauchen, was zum Leben unabweislich notwendig ist. Wir stehen auf kargem Boden, in der Steinwüste einer Riesenstadt und haben keine Schätze als welche die Hand und der Geist hervorzaubern. Mit unserem Arbeitsrhythmus schwingt gleichmäßig der Rhythmus unseres Lebens. Wir können nicht feilschen, nicht hazardieren, auch nicht beim Samowar endlose kluge Gespräche führen, wir müssen erfinden und schaffen. Erfinden und Schaffen, das ist die Religion der neuen Zeit. Forschen und erfinden, schaffen und wirken, daraus erfließt auch ihr dreifacher Segen: Freiheit, Demokratie und Sozialismus.

In: Arbeiter-Zeitung, 13.8.1919, S. 1-2.

Hans Liebstoeckl: Das Theater in der Republik

Für das Theater ist die Festlegung der republikanischen Staatsform von einiger Bedeutung gewesen. Ohne politische Dinge erörtern zu wollen, kann man hier wohl davon sprechen, denn der republikanische Gedanke einhält ja gleichsam den Begriff der Meinungsfreiheit in sich, und es ist gewiß, daß Presse und Bühne ohne ein weitgehendes Maß von Freiheit nicht existieren können. Auch die Monarchie hat eine bestimmte Dosis von Freiheit besessen, sie ging manchmal weiter, als man erwarten durfte, aber sie blieb natürlich schwerhörig in allen Dingen, die den Hof und die zum Hofe gehörige Gesellschaft betraten. Ich selbst konnte ein Lied davon singen.

            Als Maria Jeritza seinerzeit ihren Übergang von der Volksoper n die Wiener Hofoper vollzog, schrieb ich eigens eine Oper für sie, zu der Max Oberleitner die Musik gemacht hat. In dieser Oper, „Aphrodite“ (mit Benützung des Romanes von Pierre Louys), gab die Jeritza die Chrysis (Aphrodite). Das Buch, im Laufe von 14 Tagen in Stockholm von mir niedergeschrieben, ward an der Hofoper sofort angenommen und die Musik, gleichfalls rasch entstanden, wurde kurz darauf geprobt. Die maßgebenden Faktoren der Hofoper verhehlten sich nicht, daß der Stoff für die damaligen Verhältnisse ein bißchen kitzlig war. Meine Oper schilderte Aufstieg und Fall einer Buhlerin, aber man hoffte, die unglückliche Chrysis ungefährdet in die Oper bringen zu können, denn damals war ja die Glanzzeit der „Salome“ und der „Elektra“ von Strauß, zweier Opern, die sicherlich das Normalmaß der Keuschheit, das sich die Monarchie setzte, überschritten. Die berühmte Affäre der „Salome“ mit ihren sieben Schleiern kam glatt unter Dach. Bei meiner „Aphrodite“ konnte es insofern Bedenken geben, als der Höhepunkt der Handlung darin bestand, daß die Buhlerin ein Standbild der Aphrodite zertrümmert und sich selbst in ihrer strahlenden Schönheit n deren Stelle setzt. Da das Bild der Aphrodite gänzlich unbekleidet war, sollte für die Inszenierung in der Hofoper eine Art durchsichtigen Schleiergewandes gewählt werden, das die schöne Gestalt der Jeritza ziemlich aufrichtig erraten ließ. Die Proben waren schon im Gange, aber es sprach sich herum, daß Mitzi Jeritza in dieser Partie nahezu unbekleidet vor den Augen des Publikums erscheine. Nun bekam der Hof Wind davon, und insbesondere eine der Erzherzoginnen nahm Anstoß an dieser Szene. Man debattierte hin und her, doch kam schließlich ein Kompromiß zustande: der Schleier blieb, aber er mußte durch dickere Gewänder ersetzt werden! …

            In diesem Punkt hat die Republik volle Freiheit geübt. Obschon die lokale Zensur in Wien mancherlei Schwierigkeiten machte, blieb die Tendenz doch sichtbar: die Schaustellung des menschlichen Körpers nicht als Ärgernis zu betrachten. Eine Zeitlang überwogen die erotischen Stücke und die Nacktheit auf der Bühne. Ich erinnere bloß an die „Lysistrata“, an manche Novität der Kammerspiele, an Wedekind und Kaisers „Sorina“ und Sternheims „Kasette“, die, obgleich ein außerordentlich schlüpfriges Stück, sogar im Burgtheater Aufnahme fand, von den Freudkomplexen, wie Unruhs „Geschlecht“ und manchen Anstößigkeiten in Wildgans „Kain und Abel“, gar nicht zu sprechen. In den heikelsten Fällen half sich die Wiener Zensur mit Aufführungen vor einem geladenen Publikum, die dann en suite weitergespielt wurden. Der Kampf um Schnitzlers „Reigen“ ist wohl noch in Erinnerung. Noch liberaler verhielt sich die republikanische Regierung zu Stücken mit politischem Hintergrunde. Man spielte Toller und machte in dem einen wie in dem anderen Fall die Erfahrung, daß die „Gefährlichkeit“ aller dieser Dinge von selbst abstumpft. Es gab sogar einen Augenblick, da sich die Abneigung des Publikums gegen reine Schaustellungen und allzu frivole Bühnenkunst darin kundgab, daß die Leute anfingen, aufzuhören; sie hatten die Nacktheit satt. und das kann man verstehen.

            Heute liegen die Dinge so, daß ein Stück mehrere Zensurstellen passiert. Die erste natürliche Zensurstelle sind der Lektor und der Dramaturg, die zweite der Direktor. Dann erst kommt die Behörde, und die Fälle, in denen sie einschreitet, sind immer seltener geworden. Hie und da wird ein allzu gewagtes Wort gestrichen, eine allzu verfängliche Situation gemildert, und es geschieht bisweilen, daß sie auch, bei Schlüsselstücken und Schlüsselfilmen, Rücksicht auf jene Kreise nimmt, die davon betroffen werden. Jedenfalls haben die Zeiten aufgehört, da die Theaterdirektoren wünschen, daß ein eingereichtes Stück verboten werde. Das war ein beliebter Trick, ein solches Verbot wirkte wie Reklame und die Direktion kam mitunter auf ihre Rechnung, mitunter auch nicht.

            Der heutige Zustand lebt also von einem Minimum an Zensur, und es zeigt sich, das möglichst weitgehende Freiheit zur Läuterung des Geschmackes beiträgt, daß sich also gleichsam von selbst ein Regulativ gegen allzu große Üppigkeit einstellt. Das Publikum hat eine viel feinere Nase, als man glaubt, und nichts wäre verkehrter, als die Annahme, die Leute kämen nur deshalb ins Theater, um ihre Sinne und ihre Schaulust zu befriedigen. Die reine Pornographie auf der Bühne hat sichtlich abgewirtschaftet, man läßt sich sie von keinem anderen als von einem wirklichen Dichter gefallen. Nur so scheint es wieder möglich geworden zu sein, daß Dichter wieder zu Worte kommen, die man für erledigt hielt. Die „Wallenstein-Trilogie“ mit Bassermann ist jedesmal bis auf das letzte Plätzchen besetzt. Das ist wahrhaftig kein schlimmes Zeichen, und es macht der Republik alle Ehre. Nach wie vor kann man nur wünschen, daß es so bleibe und daß der Staat seine Oberaufsicht über die von Steuern schier erdrückten Bürger so zahm und linde als möglich ausübe. Er soll da sein, aber je weniger man von ihm weiß, desto besser. Sonst kommen wir eines Tages in die schrecklichen Verkehrtheiten, unter denen heute die russische Kunst leidet, und deren Widersinn nicht nur außerhalb Rußlands, sondern auch in Rußland selbst als lächerlich empfunden wird.

            Es zeigt sich, daß in der Freiheit allein die Kunst gedeiht und daß die Willkür und Ausschweifung sich selbst ein Ende setzen. Das ist menschlicher Gewinn genug, und indem wir davon sprechen, bringen auch wir der jungen Republik Österreich unseren Glückwunsch dar.

In: Die Bühne, H. 53, 12.11.1925, S. 4.

Leo Lania: Der Feldherr als Aesthet

In einem kleinen Hotel im Berliner Westen machte ich seine Bekanntschaft. Ganz zufällig. Der Mann fiel mir auf: Ein Hüne. Scharf geschnitztes Gesicht, vorspringende Backenknochen, breiter Mund mit vollen Lippen – der Typus eines slawischen Bauern. Doch der runde, kahlgeschorene Schädel, ein gewisser lauernder Ausdruck in den harten Augen, die sich plötzlich verschleiern und dann so rührend träumerisch ins Leere blicken, unbeherrschte, hastige Bewegungen, vor allem dies eigentümlich Gespannte in seinem Wesen – er sieht wie ein entlaufener Sträfling aus, dachte ich unwillkürlich. Das ist Majakowski, der bedeutendste Vertreter des russischen Futurismus, einer der Großen der jüngsten russischen Dichtkunst, „das gewaltige Talent“, wie ihn Alexander Block genannt hat. Wir kommen ins Gespräch. Und dann sitzen wir oben in seinem Hotelzimmer und debattieren über die neue Kunst, über Rußland und die Revolution.

„Haben Sie Trotzkis letztes Werk über die russische Literatur gelesen?“ Majakowski weist auf ein dickes, zerlesenes Buch, das auf dem Tische liegt.

„Ich habe es gelesen. Allerdings nur einen Auszug, der vor kurzem in deutscher Uebersetzung erschienen ist. (Trotzki: Literatur und Revolution. Verlag für Literatur und Politik, Wien.) Ein ganz eigenartiges, ein erstaunliches Buch. Erstaunlich in doppelter Hinsicht: Wegen der Person des Verfassers und wegen des Stoffes, der hier in einer neuen Art behandelt wird.

                                               *

Trotzki, der Schöpfer der Roten Armee, als Aesthet? Manch einer wird wohl mit gemischten Gefühlen dies Büchlein in die Hand nehmen. Und wird nach wenigen Seiten völlig im Banne dieser einzigartigen Persönlichkeit stehen. Denn in keiner seiner zahlreichen historischen und nationalökonomischen, seiner militärischen und marxistisch theoretischen Schriften tritt uns das innerste Wesen Trotzkis so klar entgegen. Welche Energie, welche Arbeitskraft muß diesen Menschen auszeichnen, der auf einem der exponiertesten Posten der russischen Revolution, im Drang der Politik und der auftreibenden Tagesarbeit, die schon an die physischen Kräfte der Führer übermenschliche Anforderungen gestellt hat, noch Zeit und die innere Bereitschaft findet, um sich so völlig in kulturelle und literarische Probleme zu vertiefen. Trotzkis Buch räumt mit den Thesen und Edikten der zünftlerischen revolutionären Literaturhistoriker auf. „Das Proletariat wird die Schaffung einer neuen, das heißt sozialistischen Kultur und Literatur in Angriff nehmen können, nicht mit Laboratoriumsmethoden auf der Grundlage unserer jetzigen Armut, Knappheit und Unwissenheit, sondern durch weit ausholende, gesellschaftlich wirtschaftliche und kulturfördernde Methoden. Die Kunst braucht Wohlleben, bedarf des Ueberflusses. Dazu gehört, daß die Hochöfen heißer glühen, die Räder rascher surren, die Schiffchen flinker tanzen, die Schulen besser arbeiten… Es ist grundfalsch, der bürgerlichen Kultur und der bürgerlichen Kunst die proletarische Kultur und die proletarische Kunst entgegenzustellen…

Denen, die das Ultraradikale, den Appell zum Bruch mit der Vergangenheit und zur Liquidation der Tradition erschallen lassen, antwortet Trotzki sehr fein: „Die Arbeiterklasse hat es nicht nötig und kann mit der literarischen Tradition brechen, denn sie schmachtet nicht in den Fesseln der Tradition. Sie kennt die alte Literatur nicht, die muß sie erst kennen lernen, sie muß erst Puschkin noch erfassen, ihn aufsaugen und ihn dann auch überwinden. In der übertriebenen futuristischen Ablehnung der Vergangenheit steckt ein Nihilismus der Boheme, aber kein proletarischer Revolutionalismus.“

Aus dieser Einstellung der wahren Achtung vor jeder schöpferischen Kulturleistung kommt dann Trotzki zu seiner Forderung der Duldsamkeit: „Das Gebiet der Kunst ist nicht das Feld, wo die Partei zu kommandieren berufen ist.“ Das soll nun nicht heißen, daß Trotzki der Ansicht ist, die Regierung, bzw. die regierende Partei der Bolschewiki habe sich jeder Einmischung und jeder kritischen Stellungnahme in Fragen der Kunst zu enthalten und dürfe keine Kulturpolitik treiben: „Es ist vollkommen klar, daß auch auf dem Gebiete der Kunst die Partei nicht einen einzigen Tag dem liberalen Prinzip: laisser faire – laisser passer, frönen darf. Die ganze Frage besteht nur darin, in welchem Punkte die Einmischung beginnen soll und wo ihre Grenzen sind. Trotzki sieht viel klarer und schärfer als so manche ‚Berufenen’ die Schwierigkeiten, die Kompliziertheit der Probleme. Dieser Dogmatiker verleugnet nie, daß er ein Realpolitiker ist. Er ist nicht nur ein Meister im dialektischen Denken, sondern auch ein Beobachter von verblüffender Schärfe […] Mit leichter Ironie, mit einer milden Skepsis lächelt er über jene, die da glauben, die neue kommunistische Kunst gebrauchsfertig in einer Retorte erzeugen zu können. Er blickt um sich und sieht Ansätze, tastende Versuche, mehr oder weniger gelungene Experimente – keine Erfüllung. Und was den ‚Proletkult’ betrifft, so sind solche Ausdrücke wie ‚proletarische Kultur’ und ‚proletarische Literatur’ gefährlich, weil sie die Zukunft der Kultur fiktiv in den engen Rahmen des Heute hineinzwängen, die Perspektiven verfälschen, – den sehr gefährlichen Dünkel kleiner Kreise kultivieren. Wir wollen vereinbaren, daß ‚Proletkult’ soviel bedeutet wie ‚proletarischer Kulturismus’, das heißt, den zähen Kampf um die Hebung des kulturellen Niveaus der Arbeiterklasse.

[…]

            Was aber diese proletarische Literatur betrifft – so sind das literarische Werke begabter oder talentierter Proletarier, aber keineswegs proletarische Literatur. Und Trotzki warnt davor, „mit großen Worten zu spielen. Es ist nicht wahr, daß es einen proletarischen Stil gibt. Wo ist er? Zweifellos, selbst farblose und schwache, sprachlich unbeholfene Gedichte können den Weg des politischen Wachstums eines Dichters und einer Klasse markieren und dadurch eine unermeßliche kultursymptomatische Bedeutung haben. Aber schwache Gedichte – bilden noch keine proletarische Dichtung, denn sie sind überhaupt noch keine Dichtkunst. Auf dem Gebiete der Kunst hat eben das Proletariat noch kein Kulturmilieu geschaffen, während die bürgerliche Intelligenz ein solches Milieu – ein gutes oder schlechtes – besitzt. Also? Lernen! Man muß lernen, wenn auch die Lehrzeit – notgedrungen beim Feind – nicht ganz ungefährlich ist. Man muß lernen!“

                                                           *

Und Majakowski? Er lächelt: „O, er hat mit vielem recht, der gute Trotzki. Obwohl er ein gefährlicher ‚Rechtler’ ist.“

In: Prager Tagblatt, 9.7.1924, S. 3.

Emil Reich : Die Revolutionäre des russischen Theaters

Aus einer Unterredung mit dem Bevollmächtigten der Moskauer Schauspieler Iwan Nikolajewitsch Bersenow.

Der Bolschewismus hat das Aussehen Rußlands vollkommen verändert. Er hat das Unterste zu oberst gelehrt, er hat manche Erscheinungsformen des menschlichen Daseins vernichtet, andere so gewandelt, daß sie nicht wieder zu erkennen sind. Aber eine Säule ragt heute noch ungebrochen und selbst ohne den mindesten Sprung weit über das Trümmerfeld hinaus: die wahre, echte Kunst, zu der Stanislawski und Nemirowitsch-Dantschenko auf dem Boden Moskaus den Grund gelegt und, mit nie ermüdender leidenschaftlicher Hingebung weiterbauend, diese bis zur Höhe einer stolzen Siegessäule emporgehoben haben. Wer hier in Wien die künstlerischen Leistungen der Truppe des Moskauer Künstlertheaters sieht, wer hier mit den Mitgliedern dieser Schar spricht, deren helle Begeisterung für die Sache, der sie ihr Leben geweiht haben, jedem ihrer Worte Schwung verleiht, der muß die Gewißheit mitnehmen, daß diese Kunst auch nicht durch die wildesten politischen Stürme und ebensowenig durch den härtesten wirtschaftlichen Druck zu Fall gebracht werden kann, der weiß, daß das Haus „Tschechows“ den Bolschewismus und andere Formen des staatlichen und gesellschaftlichen Lebens überdauern wird.

Die Volkskommissäre haben natürlich auch das Moskauer Künstlertheater „sozialisiert“. Aber war es denn nötig, diese Bühne zu sozialisieren? Mit der Sozialisierung wollen die Bolschewiken den größtmöglichen Leistungseffekt und eine gerechte und würdige Beteiligung der diesen Effekt Schaffenden am Erfolg erzielen. Sie haben diese Absicht – wenigstens mit den Methoden, die sie anzuwenden beliebten – nicht zu verwirklichen vermocht und sind von ihren in den heutigen Verhältnissen wertlosen Nationalisierungsprojekten bereits abgekommen. Das, was sie vergeblich anstrebten, haben jedoch die Moskauer Künstler in eigenem Kreise ohne Gewaltmaßnahmen, sondern aus freien Stücken und mit ihrer reinen Kunstbegeisterung von allem Anfang erreicht und – man muß schon sagen – trotz der bolschewistischen Sozialisierung zu bewahren gewußt. Die höchste, vorbildlichste Kunstleistung ist zur Tatsache geworden, die weitesten Volkskreise sind in der Lage, sie zu genießen und die am Werke Tätigen können ihres Lebens auch in irdischer Hinsicht froh werden. Man lasse sich von Iwan Nikolajewitsch Bersenew, dem Bevollmächtigten der Schauspieler, die jetzt in Wien gastieren, die Geschichte des Moskauer Künstlertheaters erzählen und seine innere Struktur schildern, und man wird zugeben müssen, daß nicht nur die schauspielerischen Darbietungen der Moskauer, sondern auch die von Ihnen aufgebaute Organisation mustergültig ist.

In den Neunziger Jahren des vorigen Jahrhunderts faßte ein kleiner Kreis von acht Personen, mit Stanislaswki und Nemirowitsch-Dantschenko, den kühnen Plan, das russische Theater zu modernisieren. Sie gründeten mit Hilfe des Mäcens Morosow, eines der größten Fabrikanten Rußlands, eine dramatische Schule und ein Liebhabertheater. Die Idee fand solchen Anklang und die ersten Erfolge waren so vielversprechend, daß nicht lange hernach der Lieblingsgedanke der Gründer, ein gegen sehr mäßige, man kann sagen volkstümliche Preise zugängliches öffentliches Theater zu errichten, in die Tat umgesetzt werden konnte. Wieder war es Morosow, der die Künstler mit Feuereifer unterstützte, reichliche Geldmittel zur Verfügung stellte – der für das Theater auserwählte, bereits vorhandene Saal mußte unter großen materiellen Opfern umgebaut werden – und mit Rat zur Seite stand, oft ganze Tage mit den Künstlern und beim Bau verbringend. Am 14. November 1898 wurde die neue Bühne mit Alexej Tolstois „Zar Fjodor Ioanitsch“ eröffnet. Es war ein sensationelles Ereignis, ein Riesenerfolg auf dem Gebiete der Darstellung und der Ausstattung sowie in materieller Beziehung. Moskwin, der die Rolle des Zaren gab, wurde über Nacht mit einem Schlage aus einem Schüler der dramatischen Kunst ein großer gefeierter Schauspieler und der Herold einer neuartigen Bühnenkunst, jener großen Kunst, die wir heute an den Moskauer Gästen bewundern. Schon nach zwei Jahren war die Gesellschaft so erstarkt, daß sie sich um ein größeres Haus umschauen mußte. Sie übersiedelte in das Theater in der Straße Komergerski Pereulok, das nach den Plänen der Künstler mit den modernsten technischen Hilfsmitteln, darunter auch mit einer Drehbühne, ausgestattet wurde. Mit der Premiere von Tolstois Zarenstück im alten Hause hatte die Revolutionierung der russischen Theaterwelt begonnen, mit den Aufführungen von Tschechows Werken wurde sie kräftig und erfolgreich fortgesetzt. Die in Petersburg so gar nicht verstandene und in der dortigen Darstellung zum Mißerfolg verurteilte Erstlingsarbeit Tschechows „Die Möwe“ erlangte in Moskau die richtige Würdigung und verhalf den Schülern Stanislawskis zu einem neuen glanzvollen Siege. Zur Erinnerung an dieses denkwürdige Ereignis führt das Moskauer Künstlertheater in seinem Emblem die Möwe und auch auf dem Bühnenvorhang des Moskauer Hauses ist dieser Vogel abgebildet. Die Aufführungen der anderen Dramen Tschechows fanden denselben, wenn nicht noch größeren Beifall der Kritik, des Publikums und der Kollegen der übrigen Bühnen Rußlands und da dieses Dichters Worte nirgends so allgemein verständlich interpretiert, das in seinen Werken sich widerspiegelnde russische Leben so wahrheitsgetreu vorgeführt wurde, hieß das Moskauer Künstlertheater nicht bloß im Volksmund der Kremlstadt, sondern auch im ganzen weiten Zarenreich bald nicht mehr anders als das „Haus Tschechows“.

So war das große Ziel, das Stanislaswki und Nemirowitsch-Dantschenko sich gesteckt hatten, erreicht. Doch es konnte nur erreicht werden, weil die Schauspieler und alle übrigen an diesem Theater künstlerisch beteiligten Personen sich mit ganzem Herzen und bedenkenlos der hohen Aufgabe widmeten. Das war zum großen Teile wieder bloß möglich, weil die Organisation und Einrichtungen dieses kleinen Bühnenstaates die Verantwortung auf die Schultern aller verteilten und jedem einen würdigen Anteil am Ertrag sicherten. Von allem Anfang an gab es keinen Unternehmer und keinen Direktor. Ein selbstgewähltes Kollegium trifft die Auswahl der Stücke, verteilt die Rollen und führt die Regie. Jeder einzelne Kollege weiß, daß von seiner ernsten, hingebungsvollen Mitarbeit der Erfolg abhängt. Jeder hat eine bestimmte Monatsgage, aber am Ende des Jahres wird der Reingewinn auf alle aufgeteilt. Zweieinhalb Monate im Jahre werden Ferien gehalten, während der keiner der Schauspieler etwa wie bei uns Sommergastspielfahrten unternimmt. Diese Zeit ist der Ruhe gegönnt. Es werden nur Ensemblegastspiele veranstaltet; indessen bleibt die Moskauer Bühne geschlossen. Die trostlosen Verhältnisse unter der Bolschewikenherrschaft haben jedoch einen Teil der Angehörigen dieser Republik gezwungen, mit dieser Tradition zu brechen, um ihr Heil außerhalb Moskaus zu suchen, obwohl das „Haus Tschechows“ weiterspielt. Dieses wurde in der letzten Zeit sozialisiert – die Schauspieler wurden vom Staat entlohnt und der Eintritt ins Theater war unentgeltlich -, aber jetzt ist es wieder freigegeben worden und führt den Betrieb wie in den früheren Zeiten fort. Der Zufall wollte es, daß der größere Teil des Ensembles der Moskauer sich zu einem „Erholungsgastspiel“ im Sommer 1919 in Charkow zusammenfand. Vierzehn Tage wurde gespielt, dann zwei Monate auf dem Land der so notwendigen körperlichen Kräftigung gewidmet. An eine Rückkehr nach Moskau, wo die Verhältnisse immer entsetzlicher wurden, war jedoch nicht zu denken. Da überdies die Zustände auch in Südrußland unleidlich wurden, ging die Truppe auf die Wanderschaft ins Ausland.

Auf der Wanderschaft fühlten sich die Moskauer Künstler wie daheim als eine einzige Familie. Es herrscht dieselbe Eintracht und dasselbe Pflichtgefühl, sich den hehren Kunstzwecken unterzuordnen, wie im Hause Tschechows. Ein Komitee, aus zwei Regisseuren und zwei bis drei älteren Schauspielern bestehend, lenkt die Schar in künstlerischen Fragen und der materielle Ertrag wird brüderlich geteilt. Die sogenannten Größen der Truppe – soweit man bei der künstlerischen Reife jedes einzelnen von Größen sprechen kann – bringen hiebei ein nicht gering zu veranschlagendes Opfer, weil sie, wenn sie Einzelgastspiele absolvierten, mehr verdienen würden, als in der Gemeinschaft auf sie kommt. Aber sie legen höheren Wert auf die Einheit der Truppe und das Ansehen des Künstlertheaters als auf reichen materiellen Gewinn. Glücklicherweise erweckt das Auftreten der Moskauer überall so viel Interesse, daß die Solidarität gute Früchte trägt und die Mittel abwirft für gediegene Ausstattungen und ein auskömmliches Leben der Mitglieder der Truppe.

Das Moskauer Künstlertheater hat sich zu einer Stellung in seinem Lande emporgeschwungen, die der des Théâtre Francais in Frankreich entspricht. Wie das Haus Molières die Stürme der großen Revolution glücklich überstanden hat, so rettet auch das Haus Tschechows reinste Bühnenkunst über den bolschewikischen Zusammenbruch hinweg in eine bessere Zukunft.

In: Neues Wiener Journal, 26.10.1921, S. 5.