Hans Tietze: Sozialismus und moderne Kunst. 

Hans Tietze: Sozialismus und moderne Kunst (1926)

Schon in der Fürsorge, die eine Zeit forschend und konservierend, erwerbend und erläuternd den Werken der alten Kunst widmet, ist sehr deutlich ein Stück ihres eigenen Kunstgefühls lebendig. In noch höherem Maße muß ein Stück ihrer ganzen Kulturgesinnung und Weltanschauung an ihrem Verhältnis zu der künstlerischen Produktion der Gegenwart zur Geltung kommen, denn wer mit dem Ganzen seiner geistigen Persönlichkeit modern eingestellt ist, wird es auch in seinem Verhältnis zur Kunst sein. Und von diesem Standpunkt der geistigen Einheit gewinnt die Frage nach dem Zusammenhang politischen und kulturellen Bekenntnisses, die in der Regel von zwei Seiten her negativ zu werden pflegt, erneutes Interesse […]. Gibt es eine sozialistische Kunst? Ist ein Bildwerk, weil es einen sozialistischen Führer, einen Proletarier, einen Hungeraufstand, die Opfer eines kapitalistischen Übergriffs zeigt, deshalb sozialistisch? Oder gibt es gewisse Stilrichtungen – die expressionistische, die konstruktivistische oder die neue Sachlichkeit – die in höherem Grade als andere sozialistischem Denken entsprechen? 

Vom Standpunkt, von dem wir diese Frage zu behandeln versuchen, scheint sie einer doppelten Erwägung zu bedürfen: einerseits, wie sich politische und soziale Umwälzungen überhaupt auf künstlerischem Gebiete auswirken, und andererseits, wie speziell die künstlerischen Probleme unserer Zeit sich zum Sozialismus verhalten. 

Jeder gesellschaftlichen Struktur entspricht wie eine wissenschaftliche auch eine künstlerische Auffassung; eine die Herrschaft gewinnende neue Schicht setzt notwendig ihr eigene an Stelle der entthronten alten Auffassung. Aber diese // vollzieht sich nicht mit einem Schlage; die Kunst hat – unabhängig von den Bedingungen, denen ihre letzte Stilstufe entsprang – der uns seit Kant zum Axiom gewordenen Autonomie des Ästhetischen entsprechend, ihr eigenes, gleichsam objektives Dasein; ihre ursprünglich in einer früheren sozialen Stufe wurzelnden Formen leben weiter, um so mehr, als die neu zur Herrschaft gelangte Gruppe zunächst mit ihrer politischen und sozialen Einrichtung vollauf beschäftigt ist und erst später zur kulturellen Ausgestaltung ihres Daseins gelangen wird […]. Aber es liegt im Wesen der Kunst wie in dem aller anderen ideellen Errungenschaften, daß zunächst einzelne vorwegnehmen, was in der breiten Masse gelegen, ihr aber noch nicht zu Bewußtsein gekommen ist. Erst allmählich wird die neue maßgebend gewordene Schicht ihrer eigenen kulturellen Kraft inne und ihres neuen Ausdrucks fähig. 

In dieser Weise hat etwa das Bürgertum, der dritte Stand der Französischen Revolution, an der Wende vom achtzehnten zum neunzehnten Jahrhundert  die kulturelle Führung an sich genommen; dabei hat es sich zunächst mit einem schwächlichen Absud der Kirchen- und Adelskunst begnügt und erst allmählich daraus seine eigene Kunstform gebildet, deren charakteristische Erscheinung, der Impressionismus, den Zusammenhang mit dem Liberalismus in politischer, mit dem Individualismus in sozialer, mit dem Kapitalismus in wirtschaftlicher, mit dem Materialismus in philosophischer Beziehung deutlich genug erkennen läßt.

Heute, hundert Jahre später, sind wir abermals überzeugt, an einer Wende zu stehen; der vierte Stand übernimmt in dieser oder jener Form die Herrschaft und mit der Herrschaft die kultureller Verantwortung vom dritten. Ganz wie dieser damals findet auch das Proletariat vorläufig mit den übernommenen Kulturformen sein Auslangen; noch glaubt radikale politische Gesinnung mit Geschmack an richtiger Bourgeoiskunst – und zumeist mit deren schwächlichsten Ablegern – vereinbar zu sein. Die Revolutionäre des Lebens empfangen ihre Kunst soweit sie sich überhaupt für sie interessieren, aus den Händen der Reaktionäre; fast möchte man sagen, daß sie sich glücklicherweise meist wenig dafür interessieren, denn in diesem Nichtinteresse liegt doch irgendwie die Erkenntnis, daß diese abgetakelte Kunst von gestern und vorgestern sinnlos geworden ist, daß all diese schalen Kulturhansel, die den durstigen Lippen des Volkes kredenzt werden, ihm weder Nahrung noch Genuß bieten können. 

Dieser Zustand ist für einen Übergang charakteristisch, der sich hier nicht anders vollzieht wie auf anderen Gebieten; nicht von heute auf morgen wird eine neue Kunst da sein, sondern allmählich wird die neue Kulturschicht so weit erstarken, daß sie eine ihrem innersten Bedürfnis angemessene Kunst hervorbringen wird. Sind Keime und Ansätze zu dieser neuen Kunst bereits heute vorhanden? 

In negativer Hinsicht werden wir des Zusammenhangs zwischen künstlerischem und politischem Leben deutlich gewahr; es ist kein Zufall, daß zur gleichen Zeit, in der die Kaiser und Könige gestürzt werden und die Wirtschaft in Umwälzung begriffen ist, auch die Kunst in Revolution steht, jahrhundertelang Anerkanntes umgestoßen wird, überall an Stelle des Alten Neues, Gewagtes, Unerhörtes sich durchsetzen möchte. Da und dort Ausfluß der gleichen revolutionären Gesinnung, die nicht mehr an die Heiligkeit der morschen staubigen Theatermöbel glaubt, die so lange zu imponieren vermochten, die, wie in das soziale und wirtschaftliche Leben, auch ins geistige und künstlerische frische Luftströme einführen will. Revolution – ob auf diesem oder jenem Gebiet – ist Ausdruck der gleichen Überzeugung, daß der Augenblick gekommen ist, den veränderten Kräften das Übergewicht über die beharrenden zu schaffen. Immer sind die Umstürzler in der Kunst Arm in Arm mit den politischen Revolutionären gegangen; die jungen Künstler haben auf dem „Berg“ des französischen Nationalkonvents am radikalsten gewettert und der Todfeind der akademischen Zöpfe in der Kunst, Gustave Courbet, hat in der Pariser Commune von 1871 eine große Rolle gespielt. Die Sowjetrepubliken Rußlands haben den künstlerischen Radikalismus offiziell gemacht, die // sozialistischen Stadtverwaltungen Deutschlands fördern systematisch moderne Kunst und selbst im sanften märzlichen Wien von 1848 hat es im Rahmen der allgemeinen eine künstlerische Revolution gegeben, der die Stadt das damals bahnbrechende Monumentalwerk der Altlerchfelderkirche verdankt. 

Dieses Zusammenspiel der radikalen Kunst mit der radikalen Politik rührt nicht nur davon her, daß die Künstler, mehr von Empfindungen als von Erwägungen geleitet, sich leicht und widerstandslos jedem Enthusiasmus in die Arme werfen; es kommt in tieferem Sinne auch daher, daß diese Art von Künstlern – die jeweiligen Modernen ihrer Zeit – auf ihrem Gebiet ebenso am Weg zur Zukunft bauen wie die politischen Neugestalter auf dem ihren. Aus diesem Gefühl der Verwandtschaft heraus haben die genialen politischen Begabungen häufig den Instinkt für die Kunst besessen, begriffen, daß es wichtig ist, diesen Gärstoff so gut wie jeden anderen den eigenen Zwecken dienstbar zu machen. Die Solidarität der Zukunftsgestalter führt politischen und künstlerischen Radikalismus zusammen.

Aber wieder muß ich fragen: Welche unter den zahlreichen Richtungen unserer Zeit ist es, die diesen Keim der Zukunft in sich trägt, was ist im Chaos unserer Kunst Verwesung des Gestrigen, was ist Gewähr des Morgigen? Nach dem allgemeinen geistigen Entwicklungsgang möchte man dieses in die Zukunft Deutende dort suchen, wo der Anschluß  an kollektives Denken und Fühlen gesucht wird, wo die Kunst den auf die Spitze getriebenen Individualismus des neunzehnten Jahrhunderts preisgibt, um sich großen Gemeinschaften einzuordnen. In den Programmen vieler der neuesten Richtungen spielen seit Beginn des Jahrhunderts, also schon vor dem politischen Umsturz, Erwägungen dieser Art eine große, die größte Rolle; aller Konstruktivismus ist darauf aufgebaut, daß er die Willkür des Individuellen durch allgemeingültige Gesetzlichkeiten ersetzen will. Aber der Konstruktivismus läßt wie die anderen, sich überstürzenden und einander bekämpfenden Richtungen offensichtlich die breiten Massen ziemlich kalt; müßte nicht jener geniale Wurf, der den künstlerischen Messias verriete, blitzartig jeden Beschauer treffen; müßte nicht eine Richtung, die eine kollektivistische sein will, im Fühlen der Allgemeinheit unmittelbaren Widerhall finden? In einer Zeit des Übergangs und der Widersprüche, wie die unsere es ist, läßt sich auch in der Kunst eine solche Liebe auf den ersten Blick nicht erwarten; noch haben sich die jungen Künstler vom Gestern erst so weit gelöst, daß sie es verabscheuen und verleugnen, aber noch nicht, daß sie ihm Neues und Bleibendes entgegensetzen könnten. Gewiß empfinden die meisten und besten von ihnen tiefe Sehnsucht nach diesem Neuen; sie wollen heraus aus dem Individualismus, an dem sie leiden, aber er hängt unverlierbar an ihnen. Ja diese Gruppen und Grüppchen, in die sich die Kunst zerfasert, diese Schulen, die um einen einzigen Kaffeehaustisch gruppiert sind, diese „ismen“ für Genießer, Adepten und Eingeweihte, sind Blüten eines aufs äußerste gesteigerten Individualismus, sind letzte Raffinements einer absterbenden Schicht, Kunst für Modesalons und Snobisten. Aber jener Umwandlungsprozeß, von dem ich früher sprach, hat sich immer in dieser Weise vollzogen, daß die Dekadenten von gestern der Jugend von morgen den Weg bahnten! Voltaires und Rousseaus erstes Publikum waren Snobs, die in dieser ätzenden Zerstörung der eigenen Kulturessenz nur das witzige Raffinement wahrnahmen, aber nicht die positiven Zukunftswerte: Beaumarchais‘ Ausfälle gegen den Adel hat ein Parterre von Aristokraten bejubelt, und Goya ist als Hofmaler zum Revolutionär der europäischen Malerei des neunzehnten Jahrhunderts herangewachsen. Was Marx den Funktionswechsel nennt – daß der gleiche Prozeß, aus verschiedenem Gesichtswinkel gesehen, entgegengesetzte Bedeutung gewinnt – gilt auch hier: Verwesung ist Blüte, Tod ist Leben. Die modernen Richtungen zersetzen den Besitzstand der alten Kunst und bereiten die neue; vielleicht sind sie auch schon die neue, erst von dem Ziel aus, zu dem diese Entwicklung führen wird, können Wert und Bedeutung der ersten tastenden Schritte, einstmals beurteilt werden. Stehen wir an der Schwelle einer neuen Zeit, das heißt werden die Bewegungen, die heute in ihren Anfängen stecken, zum Siege führen, so werden auch die Revolutionäre in der Kunst dereinst zu jenen zählen, die zu der neuen Freiheit mitgewirkt haben, und die Enkel werden über unsere Blindheit staunen, die uns ihre Bedeutung verkennen und bezweifeln ließ. 

Die Frage der Qualität und des absoluten künstlerischen Wertes ist bei neuen Richtungen eine Sache der Zukunft; eine Sache der Gegenwart aber ist die all//gemeine Lebendigkeit, die revolutionäre Gesinnung. Sie zu fördern, sie als zu sich gehörig zu fühlen ist eine Pflicht eines Sozialismus, der mehr ist als eine parteipolitische Angelegenheit, der sich darüber hinaus immer wieder besinnt, daß er auch eine Weltanschauung ist. Dieser Weltanschauung ist Kunst eine Privatsache; gewiß – so gut wie die Religion. Aber so wie es trotzdem unvereinbar dünkt, daß einer, der ein überzeugter Sozialist ist, am Kirchenglauben festhielte, so unmöglich scheint es auch, daß ein echter Sozialist, sofern er überhaupt Sinn und Interesse für die Kunst hat, in seinem Verhältnis zu ihr konservativ wäre. Er kann nicht anders, als auch in der Kunst wie auf allen Gebieten den radikalsten Versuchen sympathisch gegenüberstehen.   

In: Der Kampf, H. 12/Dezember 1926, S. 545-548 (Auszüge).