Max Ermers: Die Stadt der Gesundheit und Freude (1926)

Ein trockener Amtsbericht an den Bauaus­schuß des Gemeinderates wird diesmal zum Kulturdokument ersten Ranges, zu einem Dokument, dessen Studium uns alle mit Stolz, ja mit Begeisterung erfüllen kann. Der Bericht, über den in so hohen Tönen gesprochen werden darf und muß, ist der des Badedirektors der Stadt Wien.

Ohne modehaft anmutende Sprunghaftig­keit, stetig und konsequent vollzieht sich der Aufstieg Wiens zur Stadt der Körperkultur. Aus dem Ausflug zum Heurigen oder in den Wurstelprater wird der Ausflug aufs Gänse­häufel oder ins Sonnenbad am Krapfenwaldl. Und wenn Baden, Schwimmen, Liegen in der Sonne und an der Luft auch noch keine vollendete Körperkultur bedeutet und der Weg zu einem nordischen Hellenentum noch ein weiter ist, der Anfang ist jedenfalls gemacht, und keine dunkle und naturfeindliche Gewalt der Erde, kein Hirtenbrief und kein erzbischöf­licher Erlaß wird das Rad der Weltgeschichte jemals wieder zurückdrehen können. Und wer sein Wien, besonders sein Vorkriegs-Wien kennt, der wird auch fühlen: diese Stadt der finsteren, übel gelüfteten Höfe, diese Stadt der spekulativen Zinskasernen, der Einzimmer- und Kellerwohnungen, der Tuberkulose und Rachitis, sie hat den endlichen Ruck nach vor­wärts am allerdringendsten notwendig gehabt.

Sechs Millionen viermalhunderttausend Männer und Frauen haben im Vorjahre die kommunalen Badeanstalten frequentiert, über 700.000 Kinder durften sie unentgeltlich benützen. Unsere Bevölkerung ist seit 1914 um 10 Prozent zurückgegangen, aber unsere Bade­freudigkeit hat sich um 57 Prozent gehoben.

Das sind hoffnungsreiche, beglückende, ja unerhörte Zahlen. Badeanstalt um Bade­anstalt entsteht: Schwimmbäder, Brausebäder, Wannenbäder, Sonnenbäder, Luftbäder… Fünf Kinderfreibäder sind bereits errichtet: 140.000 Kinder baden allein alljährlich im proletarischen Ottakring. In das Bad der Hernalser, ins Jörgerbad, kamen 1925 665.000 Besucher. Als 18. Bad der Gemeinde wird in vier Wochen das Amalien-Bad eröffnet werden, im ärmsten Bezirke Wiens, das luxuriöseste Volksbad Europas.

Immer mehr kommt es den Wienern zum Bewußtsein, daß sie an der Donau, an der alten wie an der neuen, einen ungeheuren Schatz der Gesundung, der Kraftgewinnung, der Erholung und der Freude haben. Gänsehäufel und Kritzendorf, Klosterneuburg und Greifenstein sind die Kathedralen der Zukunft. Noch sind sie nicht völlig das geworden, was sie uns sein könnten. Aber auch hier ist der Anfang gemacht, wir sind auf gutem Wege, und das Ausland blickt auf uns. Das fröhliche, spiele­rische Treiben am sonntäglichen Donaustrand und in den Auen – und die verlogene Alt-Wiener Duljäh-Sentimentalität beim Heurigen: eine Welt liegt zwischen ihnen. Ein neues Verhältnis zur Natur, zum Körperrhythmus, zur Gesundheit und zwischen Geschlechtern bahnt sich an. An Stelle des Rauch- und Disku­tierklubs des Proletariers tritt das Arbeiter­strandbad. Und was früher nur den Reichen und Besitzenden gegeben war, wird nun dem ganzen Volke zugeteilt.

Wenn man das Gute und Schöne sieht, das hier geschaffen wird, denkt man unwillkürlich an das Bessere und Schönere, das noch ge­schaffen werden kann – und sicherlich geschaffen werden wird. Noch gibt es in Wien Architekten, die es wagen, riesige VolkswohnHäuser zu errichten, ohne an sonnige Plansch­becken für die Kinder zu denken. Möge sie der amtsführende Stadtrat für Gesundheitswesen und Jugend­fürsorge zur Ordnung rufen. Noch gibt es Architekten und Wohnungsreformer, die vermeinen, es sei im 20. Jahrhundert möglich, eine Volkswohnung ohne zugehörige Badevorrichtung zu projektieren. Möge ihnen der amtsführende Stadt­rat für das Wohnungswesen den // notwendigen Kursus lesen. Noch gibt es Entwerfer von Volksparkanlagen, die vergessen, daß Kindern und Erwachsenen an jeder größeren grünen Stelle Gelegenheit zu wirklicher Erholung, zum Sonnenbad, zum Turnen, zum Rhythmen gegeben sein muß. Möge der Stadtbaudirektor sie an die neuesten Fortschritte er­innern. Noch gibt es Architekten, die ver­gessen, daß die bildende Kunst, die gute Plastik, die plastische Marmor- oder Sandsteinfigur im Strandbad, im Luftbad, im Volksbad, erst das hinreißende Mittel ist, um das, was vor­läufig erst unbewußter Drang zu Hygiene und Körperkultur in uns Bresthaften und Schwäch­lichen ist, durch das verführerische Mittel der Kunst erst in das Helle, steigernde und erziehe­rische Licht des Bewußtseins gehoben und da­durch zur dauernden, bedeutsamen Volks­institution und Kultur umgeschaffen wird. Möge der amtsführende Stadtrat für Kunstfürsorge sie an diese große Möglichkeit und Notwen­digkeit erinnern. Wir sind auf gutem Wege. Gewiß. Wir wollen aber allezeit auf noch besserem sein.

In: Der Tag, 12.6.1926, S. 1-2.

Hans Tietze: Sozialismus und moderne Kunst (1926)

Schon in der Fürsorge, die eine Zeit forschend und konservierend, erwerbend und erläuternd den Werken der alten Kunst widmet, ist sehr deutlich ein Stück ihres eigenen Kunstgefühls lebendig. In noch höherem Maße muß ein Stück ihrer ganzen Kulturgesinnung und Weltanschauung an ihrem Verhältnis zu der künstlerischen Produktion der Gegenwart zur Geltung kommen, denn wer mit dem Ganzen seiner geistigen Persönlichkeit modern eingestellt ist, wird es auch in seinem Verhältnis zur Kunst sein. Und von diesem Standpunkt der geistigen Einheit gewinnt die Frage nach dem Zusammenhang politischen und kulturellen Bekenntnisses, die in der Regel von zwei Seiten her negativ zu werden pflegt, erneutes Interesse […]. Gibt es eine sozialistische Kunst? Ist ein Bildwerk, weil es einen sozialistischen Führer, einen Proletarier, einen Hungeraufstand, die Opfer eines kapitalistischen Übergriffs zeigt, deshalb sozialistisch? Oder gibt es gewisse Stilrichtungen – die expressionistische, die konstruktivistische oder die neue Sachlichkeit – die in höherem Grade als andere sozialistischem Denken entsprechen? 

Vom Standpunkt, von dem wir diese Frage zu behandeln versuchen, scheint sie einer doppelten Erwägung zu bedürfen: einerseits, wie sich politische und soziale Umwälzungen überhaupt auf künstlerischem Gebiete auswirken, und andererseits, wie speziell die künstlerischen Probleme unserer Zeit sich zum Sozialismus verhalten. 

Jeder gesellschaftlichen Struktur entspricht wie eine wissenschaftliche auch eine künstlerische Auffassung; eine die Herrschaft gewinnende neue Schicht setzt notwendig ihr eigene an Stelle der entthronten alten Auffassung. Aber diese // vollzieht sich nicht mit einem Schlage; die Kunst hat – unabhängig von den Bedingungen, denen ihre letzte Stilstufe entsprang – der uns seit Kant zum Axiom gewordenen Autonomie des Ästhetischen entsprechend, ihr eigenes, gleichsam objektives Dasein; ihre ursprünglich in einer früheren sozialen Stufe wurzelnden Formen leben weiter, um so mehr, als die neu zur Herrschaft gelangte Gruppe zunächst mit ihrer politischen und sozialen Einrichtung vollauf beschäftigt ist und erst später zur kulturellen Ausgestaltung ihres Daseins gelangen wird […]. Aber es liegt im Wesen der Kunst wie in dem aller anderen ideellen Errungenschaften, daß zunächst einzelne vorwegnehmen, was in der breiten Masse gelegen, ihr aber noch nicht zu Bewußtsein gekommen ist. Erst allmählich wird die neue maßgebend gewordene Schicht ihrer eigenen kulturellen Kraft inne und ihres neuen Ausdrucks fähig. 

In dieser Weise hat etwa das Bürgertum, der dritte Stand der Französischen Revolution, an der Wende vom achtzehnten zum neunzehnten Jahrhundert  die kulturelle Führung an sich genommen; dabei hat es sich zunächst mit einem schwächlichen Absud der Kirchen- und Adelskunst begnügt und erst allmählich daraus seine eigene Kunstform gebildet, deren charakteristische Erscheinung, der Impressionismus, den Zusammenhang mit dem Liberalismus in politischer, mit dem Individualismus in sozialer, mit dem Kapitalismus in wirtschaftlicher, mit dem Materialismus in philosophischer Beziehung deutlich genug erkennen läßt.

Heute, hundert Jahre später, sind wir abermals überzeugt, an einer Wende zu stehen; der vierte Stand übernimmt in dieser oder jener Form die Herrschaft und mit der Herrschaft die kultureller Verantwortung vom dritten. Ganz wie dieser damals findet auch das Proletariat vorläufig mit den übernommenen Kulturformen sein Auslangen; noch glaubt radikale politische Gesinnung mit Geschmack an richtiger Bourgeoiskunst – und zumeist mit deren schwächlichsten Ablegern – vereinbar zu sein. Die Revolutionäre des Lebens empfangen ihre Kunst soweit sie sich überhaupt für sie interessieren, aus den Händen der Reaktionäre; fast möchte man sagen, daß sie sich glücklicherweise meist wenig dafür interessieren, denn in diesem Nichtinteresse liegt doch irgendwie die Erkenntnis, daß diese abgetakelte Kunst von gestern und vorgestern sinnlos geworden ist, daß all diese schalen Kulturhansel, die den durstigen Lippen des Volkes kredenzt werden, ihm weder Nahrung noch Genuß bieten können. 

Dieser Zustand ist für einen Übergang charakteristisch, der sich hier nicht anders vollzieht wie auf anderen Gebieten; nicht von heute auf morgen wird eine neue Kunst da sein, sondern allmählich wird die neue Kulturschicht so weit erstarken, daß sie eine ihrem innersten Bedürfnis angemessene Kunst hervorbringen wird. Sind Keime und Ansätze zu dieser neuen Kunst bereits heute vorhanden? 

In negativer Hinsicht werden wir des Zusammenhangs zwischen künstlerischem und politischem Leben deutlich gewahr; es ist kein Zufall, daß zur gleichen Zeit, in der die Kaiser und Könige gestürzt werden und die Wirtschaft in Umwälzung begriffen ist, auch die Kunst in Revolution steht, jahrhundertelang Anerkanntes umgestoßen wird, überall an Stelle des Alten Neues, Gewagtes, Unerhörtes sich durchsetzen möchte. Da und dort Ausfluß der gleichen revolutionären Gesinnung, die nicht mehr an die Heiligkeit der morschen staubigen Theatermöbel glaubt, die so lange zu imponieren vermochten, die, wie in das soziale und wirtschaftliche Leben, auch ins geistige und künstlerische frische Luftströme einführen will. Revolution – ob auf diesem oder jenem Gebiet – ist Ausdruck der gleichen Überzeugung, daß der Augenblick gekommen ist, den veränderten Kräften das Übergewicht über die beharrenden zu schaffen. Immer sind die Umstürzler in der Kunst Arm in Arm mit den politischen Revolutionären gegangen; die jungen Künstler haben auf dem „Berg“ des französischen Nationalkonvents am radikalsten gewettert und der Todfeind der akademischen Zöpfe in der Kunst, Gustave Courbet, hat in der Pariser Commune von 1871 eine große Rolle gespielt. Die Sowjetrepubliken Rußlands haben den künstlerischen Radikalismus offiziell gemacht, die // sozialistischen Stadtverwaltungen Deutschlands fördern systematisch moderne Kunst und selbst im sanften märzlichen Wien von 1848 hat es im Rahmen der allgemeinen eine künstlerische Revolution gegeben, der die Stadt das damals bahnbrechende Monumentalwerk der Altlerchfelderkirche verdankt. 

Dieses Zusammenspiel der radikalen Kunst mit der radikalen Politik rührt nicht nur davon her, daß die Künstler, mehr von Empfindungen als von Erwägungen geleitet, sich leicht und widerstandslos jedem Enthusiasmus in die Arme werfen; es kommt in tieferem Sinne auch daher, daß diese Art von Künstlern – die jeweiligen Modernen ihrer Zeit – auf ihrem Gebiet ebenso am Weg zur Zukunft bauen wie die politischen Neugestalter auf dem ihren. Aus diesem Gefühl der Verwandtschaft heraus haben die genialen politischen Begabungen häufig den Instinkt für die Kunst besessen, begriffen, daß es wichtig ist, diesen Gärstoff so gut wie jeden anderen den eigenen Zwecken dienstbar zu machen. Die Solidarität der Zukunftsgestalter führt politischen und künstlerischen Radikalismus zusammen.

Aber wieder muß ich fragen: Welche unter den zahlreichen Richtungen unserer Zeit ist es, die diesen Keim der Zukunft in sich trägt, was ist im Chaos unserer Kunst Verwesung des Gestrigen, was ist Gewähr des Morgigen? Nach dem allgemeinen geistigen Entwicklungsgang möchte man dieses in die Zukunft Deutende dort suchen, wo der Anschluß  an kollektives Denken und Fühlen gesucht wird, wo die Kunst den auf die Spitze getriebenen Individualismus des neunzehnten Jahrhunderts preisgibt, um sich großen Gemeinschaften einzuordnen. In den Programmen vieler der neuesten Richtungen spielen seit Beginn des Jahrhunderts, also schon vor dem politischen Umsturz, Erwägungen dieser Art eine große, die größte Rolle; aller Konstruktivismus ist darauf aufgebaut, daß er die Willkür des Individuellen durch allgemeingültige Gesetzlichkeiten ersetzen will. Aber der Konstruktivismus läßt wie die anderen, sich überstürzenden und einander bekämpfenden Richtungen offensichtlich die breiten Massen ziemlich kalt; müßte nicht jener geniale Wurf, der den künstlerischen Messias verriete, blitzartig jeden Beschauer treffen; müßte nicht eine Richtung, die eine kollektivistische sein will, im Fühlen der Allgemeinheit unmittelbaren Widerhall finden? In einer Zeit des Übergangs und der Widersprüche, wie die unsere es ist, läßt sich auch in der Kunst eine solche Liebe auf den ersten Blick nicht erwarten; noch haben sich die jungen Künstler vom Gestern erst so weit gelöst, daß sie es verabscheuen und verleugnen, aber noch nicht, daß sie ihm Neues und Bleibendes entgegensetzen könnten. Gewiß empfinden die meisten und besten von ihnen tiefe Sehnsucht nach diesem Neuen; sie wollen heraus aus dem Individualismus, an dem sie leiden, aber er hängt unverlierbar an ihnen. Ja diese Gruppen und Grüppchen, in die sich die Kunst zerfasert, diese Schulen, die um einen einzigen Kaffeehaustisch gruppiert sind, diese „ismen“ für Genießer, Adepten und Eingeweihte, sind Blüten eines aufs äußerste gesteigerten Individualismus, sind letzte Raffinements einer absterbenden Schicht, Kunst für Modesalons und Snobisten. Aber jener Umwandlungsprozeß, von dem ich früher sprach, hat sich immer in dieser Weise vollzogen, daß die Dekadenten von gestern der Jugend von morgen den Weg bahnten! Voltaires und Rousseaus erstes Publikum waren Snobs, die in dieser ätzenden Zerstörung der eigenen Kulturessenz nur das witzige Raffinement wahrnahmen, aber nicht die positiven Zukunftswerte: Beaumarchais‘ Ausfälle gegen den Adel hat ein Parterre von Aristokraten bejubelt, und Goya ist als Hofmaler zum Revolutionär der europäischen Malerei des neunzehnten Jahrhunderts herangewachsen. Was Marx den Funktionswechsel nennt – daß der gleiche Prozeß, aus verschiedenem Gesichtswinkel gesehen, entgegengesetzte Bedeutung gewinnt – gilt auch hier: Verwesung ist Blüte, Tod ist Leben. Die modernen Richtungen zersetzen den Besitzstand der alten Kunst und bereiten die neue; vielleicht sind sie auch schon die neue, erst von dem Ziel aus, zu dem diese Entwicklung führen wird, können Wert und Bedeutung der ersten tastenden Schritte, einstmals beurteilt werden. Stehen wir an der Schwelle einer neuen Zeit, das heißt werden die Bewegungen, die heute in ihren Anfängen stecken, zum Siege führen, so werden auch die Revolutionäre in der Kunst dereinst zu jenen zählen, die zu der neuen Freiheit mitgewirkt haben, und die Enkel werden über unsere Blindheit staunen, die uns ihre Bedeutung verkennen und bezweifeln ließ. 

Die Frage der Qualität und des absoluten künstlerischen Wertes ist bei neuen Richtungen eine Sache der Zukunft; eine Sache der Gegenwart aber ist die all//gemeine Lebendigkeit, die revolutionäre Gesinnung. Sie zu fördern, sie als zu sich gehörig zu fühlen ist eine Pflicht eines Sozialismus, der mehr ist als eine parteipolitische Angelegenheit, der sich darüber hinaus immer wieder besinnt, daß er auch eine Weltanschauung ist. Dieser Weltanschauung ist Kunst eine Privatsache; gewiß – so gut wie die Religion. Aber so wie es trotzdem unvereinbar dünkt, daß einer, der ein überzeugter Sozialist ist, am Kirchenglauben festhielte, so unmöglich scheint es auch, daß ein echter Sozialist, sofern er überhaupt Sinn und Interesse für die Kunst hat, in seinem Verhältnis zu ihr konservativ wäre. Er kann nicht anders, als auch in der Kunst wie auf allen Gebieten den radikalsten Versuchen sympathisch gegenüberstehen.   

In: Der Kampf, H. 12/Dezember 1926, S. 545-548 (Auszüge).

Max Winter: Rundfahrt durchs rote Wien (1927)

Selbst dem, dem oft Gelegenheit gegeben war, in die einzelnen Gemeindebauten zu kommen und alle ihrer Einrichtungen kennenzulernen, selbst dem, der häufig bei Eröffnungen der neuen Bauwerke, die die Gemeinde Wien aufgeführt hat, als Gast anwesend sein konnte, ist es wie eine Offenbarung, so eine Reise durch das rote Wien, wie sie jetzt unsere Bildungsstelle ganz regelmäßig an allen Sonntagen veranstaltet. Es ist ein politischer Anschauungsunterricht ersten Ranges, der da geboten wird, und es ist nur zu bedauern, daß verhältnismäßig nur so wenige diesen so lehrreichen Kursus in praktischer politischer Verwaltung mitmachen können.

Am ersten Aprilsonntag hatte sich eine Ottakringer Sektion— die 21.— zu so einer Fahrt zusammengefunden. Beileibe nicht die ganze Sektion. 300 hatten sich zu der Teilnahme an der Fahrt gemeldet. Es konnten in den vier Autobussen aber nur 180 Teilnehmer verstaut werden. Über die Friedensbrücke führte der Weg von Ottakring nach dem Winarsky-Hof, dem ersten Ziel. Die breite Brücke und dieser vielverheißende Name! Ein technisch vollkommenes Werk, das eine breite Verbindungsstraße zwischen zwei volkreichen Bezirken darstellt, und dazu ein Name, der wie ein Bekenntnis klingt— beides flog durch die Wagen, die über die Brücke rollten.

Winarsky-Hof.

Zuerst der Saal. Er beginnt sich gerade zu einer Vorführung der Wahlfilme zu füllen. Erwartungsvolle Spannung auf den Gesichtern und freudiges „Freundschaft!“ zwischen Brigittenau und Ottakring. Einzelne Vertrauensmänner erkennen und begrüßen sich. Und der Führer der Gruppe, Sektionsleiter Wolf, sagt es ihnen, daß sich die Ottakringer einmal den Winarsky-Hof ansehen wollten. Die wichtigsten Hausvertrauensmänner sind zur Stelle und führen die vier Gruppen in die verschiedenen Teile des Hauses. Im eigentlichen Winarsky-Hof fesselt neben dem Saal die große Bücherei die Aufmerksamkeit. Und es entgeht den aufmerksamen Besuchern auch nicht die Kunde der neuen Sittlichkeit, die ihnen mit dieser Bücherei wird. Da sagt irgendwo an der Wand ein handgeschriebenes Plakat: „Jedem stehen die Bücherschätze umsonst offen; wer aber kann, soll freiwillig spenden.“ Auch so eine Bücherei hat Hunger. In Nebenräumen sehen wir, wie immer neue Werke zur Einreihung vorbereitet werden, schauen wir hinter die Kulissen einer großen Arbeiterbücherei. Im ersten Stock der große, schmucke Beratungssaal mit den bequemen Lehnstühlen, mit dem gediegenen großen Tisch in Hufeisenform. Das lachende Antlitz unseres Leopold Winarsky in schönem Rahmen darüber, des ersten sozialdemokratischen Gemeinderates der Brigittenau, dessen Andenken zu Ehren der Hof so benannt wurde. Auch der Entwurf zum Lassalle-Denkmal ist sonst hier an der Wand zu sehen, aber nun muß ihn der Sektionsvertrauensmann erst aus einem Berg von Flugschriftenballen, hinter denen er verborgen ist, hervorholen, um ihn uns zu zeigen. Der Sitzungssaal ist zum Arbeitszimmer geworden, zwanzig Menschen sind den ganzen Sonntag über hier tätig, wahrscheinlich noch viel mehr, in Schichten abwechselnd, die Wahlaufrufe zu kuvertieren und zu versenden. Hochbetrieb! Wir stören nicht länger und gehen weiter. Eine ins Freie mündende Gasse, oder besser ein Straßenhof, nimmt zwei Turn- und Spielplätze auf, auf denen sich die Jugend ungefährdet tummeln kann. Diese „Gasse“ trennt das Hauptgebäude des Winarsky-Hofes von dem zweiten Gebäude, dem Grundsteinblock. Die Spielplätze, über die wir eben schreiten, bekommen dadurch ein besonders schönes Aussehen, daß die beiden Häuserfronten, die auf sie niedersehen, von vielen kleinen Balkons unterbrochen sind. Blumenbalkons, die im Sommer ganz besonders herrlich sein mögen.

Und dann kommen wir in den großen Hof des Grundsteinblocks, der mit seinen strengen Linien jetzt im ersten Vorfrühling den Beschauer fast kalt anspricht, der aber in wenigen Monaten durchzogen sein wird von der Sohle bis zum Dachfirst von rotleuchtenden Linien, denn alle 16 Stiegenhäuser, die in den Hof münden, haben an ihren Fenstern grüne Blumenwannen angebracht, die, sobald nur die erste Sicherheit gegeben ist, daß der Frost den Blüten nicht mehr gefährlich wird, von der Stadtgärtnerei mit leuchtenden Blumen versorgt werden. Und jede Wohnung hat mindestens ein in den Hof mündendes Fenster mit einer solchen Blumenwanne. Im Mai schon setzt der edle Wetteifer zwischen den Bewohnern und der Stadtgärtnerei und unter den einzelnen Bewohnern ein, wer wohl sein Fenster am schönsten hat. Oh, sie sind so schönheitshungrig, diese Proletarier! Man muß ihnen nur Sonne und Luft geben und sie tun dann alles selber dazu, was nötig ist. In einzelnen Ecken des Grundsteinhofes sind amerikanische Reben gepflanzt, sie kriechen an dem Rauhbewurf hinauf. Sie sind gehegt und gepflegt von den Bewohnern. In wenigen Jahren werden sie ihr grünes Sommerkleid über den ganzen Innenhof breiten. In einer Ecke hat ein Straßenbahner mit Hilfe der ganzen Mieter des Hausblocks eine besondere Einrichtung zur Verschönerung geschaffen. Er hat ein kleines Alpinum gebaut mit Wegen, kleinen Almhütten— die Freude der Kinder— und einem wirklichen, sprudelnden, murmelnden Bach. Man braucht nur aufzudrehen und der Bach beginnt zu rinnen und berieselt die Ränder, an denen jetzt schon die Vorfrühlingsblüten wachsen, die im Wienerwald und auf den Höhen weiter draußen zu finden sind. Aber auch einige exotische Primeln, die kinderfaustgroße, kugelrunde violette Blütenballen austreiben, sind schon zu sehen. Anschauungsunterricht für die Kleinen. Sie werden der Natur so nähergebracht. Und die Naturfreunde im Haus kommen selten von einer Wanderung zurück, auf der sie nicht in ihrem Rucksack irgendein Pflänzlein geborgen hätten, das hier, mitten im proletarischen Wohnhof, zu neuem Leben erblühen soll.

Mutter Gemeinde.

In die Mitte des Hofes springt von dem Kindergarten weg im Halbkreis eine Pergola, ein italienischer Laubengang, der zur sommerlichen Zeit vom Grün des wilden Weines umsponnen ist, ein Laufgang zugleich für die Kinder, und in der Mitte im weiten Halbkreis der eigentliche Garten für die Kinder, die dahinter ihre herrlichen Räume haben mit den kleinen Montessori-Möbeln und Tischchen und Stühlchen und kleinen Kasten und dem vielen Spielzeug. Genau so wie es die große italienische Pädagogin wollte, genau so ist es hier zur Wirklichkeit geworden. Während die Mütter oben kochen, spielen unten im Hof, geleitet von kundigen Frauen, ihre Kinder förmlich unter den Augen der Mutter. Ein Blick zum Fenster hinaus, und die Mutter sieht unten ihr Kleines im frohen Kreise der Gleichaltrigen; wohl behütet von den Augen der Mutter Gemeinde.

Da entringen sich den Seelen der Frauen, die mit bei der Besichtigung sind, die ersten Seufzer. Wenn man nur auch so etwas haben könnte!

Im Haus hat sich auch ein Doktor der Krankenkasse niedergelassen. Er öffnet die Tür seiner Wohnung und ladet uns alle ein, wenn wir schon eine Wohnung besichtigen, seine anzusehen. Die Räume sind wohl niedrig, aber die Fenster sind hoch, so daß bis in den letzten Winkel hinein Licht und Sonne scheinen kann. Sie gewinnen etwas Trauliches, etwas Gemütliches, und der Doktor ist glücklich, daß er hier inmitten der Proletarier wohnen kann, und die Vertrauensmänner des Hauses erzählen uns, wie glücklich die Frauen sind, daß sie einen kundigen Mann im Hause wohnen haben, der — und das trifft hier zu— zu jeder Stunde, bei Tag und Nacht, bereit ist, ihnen Hilfe zu leisten. Es ist ein Gefühl der Beruhigung, wenn man weiß, daß der Arzt immer gleich zur Stelle sein kann.

In der Ecke beim Alpinum ist die Badeanlage des Hauses. Sonntag vormittag. Alles vollbesetzt. Der Vorraum voll Wartender. Warme Wannen- und Duschbäder sind vorgesehen. Eine Männerabteilung, eine Frauenabteilung. Welche Wohltat! Welcher kulturelle Aufstieg, daß nun auch der Proletarier immer wieder sein Bad bereitfindet, daß Reinlichkeit kein Vorrecht mehr des Großbürgers ist, der es sich zahlen kann. Wenn die Gemeinde Hausherr ist, so kann auch der Proletarier sein Bad haben, so wie in der Kindergärtnerin auch das Proletarier//kind seine Gouvernante haben kann. Warum denn auch nicht! Soll denn wirklich alles ein Vorrecht der Besitzenden sein! Glücklich und zugleich von leisem Neidgefühl beseelt, gehen die Frauen und Männer weiter.

Sechzehn Stiegen hier im Grundsteinhof, zweiunddreißig Stiegen im eigentlichen Winarskv-Hof, insgesamt achtundvierzig, und alle zusammen bilden eine Wohnungsgemeinschaft, die sich einen Mieterausschuß mit drei Untergruppen eingesetzt hat, einen Verwaltungsausschuß, einen Ordnungsausschuß und einen Schlichtungsausschuß. Sie brauchen keinen Administrator, der für alles sorgt, diese Mieter verwalten sich selbst ihr Haus. Der Ordnungsausschutz findet demokratische Mittel, um eine allen genehme Ordnung herbeizuführen, peinlichste Reinlichkeit und Sauberkeit im ganzen Hause, an mehreren Stellen in den Höfen die Colonia-Kübel, in die Abfälle hineingeworfen werden können, nirgends liegen Papierln oder Obstschalen herum – und schließlich, wie sie einen Kurator und eine Polizei nicht brauchen, so brauchen sie auch kein Bezirksgericht. Der Schlichtungsausschuß ist das Gericht dieser kleinen Stadt, die sich da in der Stromstraße aufgetan hat, einer in alter Zeit von allen guten Geistern verlassenen Gegend, in die nun das neue Leben Einzug gehalten hat. Aus dem alten Männerheim gegenüber ist ein Heim für alte Männer geworden, ein Versorgungsheim der Stadt Wien, umgeben von einem schönen Garten, und auch das Entbindungsheim der Stadt Wien hat dort seinen Platz gefunden, die jüngste, reichen Segen bringende Mutter- und Frauenanstalt der Gemeinde Wien.

Aus dem Verkehrshindernis wird ein Verkehrsweg.

Mit herzlichem „Freundschaft!“ geht es weiter, hinüber über die große Floridsdorfer Brücke. Wieder ein Werk der roten Gemeinde. Ein Unfertiges hat die bürgerliche Verwaltung hier zurückgelassen, und erst die Tatkraft der roten Gemeinde hat diesen breiten schönen Weg über den Donaustrom geschlagen. Aus dem Verkehrshindernis von gestern ist heute ein Verkehrsweg geworden, der die Mutterstadt mit dem rasch wachsenden Teil jenseits der Donau verbindet. In raschem Fluge geht es hinüber, und ehe noch die Wagen vor dem Schlinger-Hof halten, sehen wir zur Linken wieder ein Werk der Gemeinde Wien, den Paul-Hock-Park, links von der Brünnerstraße, in den der alte Friedhof verwandelt wurde, der einst an diese Stelle war. Dem tapferen Vorkämpfer für die Freie Schule ein lebendes, unvergängliches Denkmal, der Bevölkerung eine Stätte der Erholung. Zur Rechten dann der Schlinger-Hof, ein neues Wahrzeichen von Floridsdorf. Ein Wahrzeichen der Tatkraft der sozialdemokratischen Gemeinde. Und vor dem Hofe der Markt. Er ist erst vor wenigen Wochen eröffnet worden.

Ist es wirklich gleichgültig, ob private Hausherren Häuser bauen oder die Gemeinde Wien? Nirgends wird einem der Unterschied so bewußt wie hier. Wenn man durch die auch gegen Regen geschützten, das heißt in den Mittelwegen überdachten Marktstände wandert, so fällt einem auf, daß der typische Marktgeruch hier nicht so stark auftritt. Der führende Marktinspektor sagt uns, daß das davon komme, weil die Marktkaufleute ihre Waren in den Kellern im Schlinger-Hof verstauen können. Die Gemeinde baut den Schlinger-Hof, die Gemeinde baut den Markt. Da weiß nun die Linke, was die Rechte tut, das Marktamt und das Wohnungsamt verständigen sich und es wird im Kellergeschoß des Schlinger-Hofes der Raum abgewonnen, um jedem zum Marktstand auch einen lüftbaren und gut gelüfteten Keller zu geben, in den der Marktkaufmann seine Waren mit Hilfe eines Aufzuges schaffen kann. Und an zwei Stellen dieser weiten Kellerräumlichkeiten sind auch große Waschbecken angebracht, in denen das Gemüse gewaschen werden kann. Vom gesundheitlichen und vom wirtschaftlichen Standpunkt bedeutet das einen Fortschritt. Die Ware ist einwandfrei und sie kann länger frisch erhalten werden. Es geht weniger Ware zugrunde. Je weniger Gemüse aber dem Händler zugrunde geht, desto billiger kann das Gemüse dann abgegeben werden. Hätten den Schlinger-Hof Wiener Hausherren gebaut und die Gemeinde hätte von ihnen verlangt, daß sie für die Marktkaufleute Keller einbauen sollen, so wäre dafür eine so hohe Miete begehrt worden, daß das Gemüse nicht verbilligt, sondern wahrscheinlich verteuert worden wäre. Letzten Endes hätten die Marktbudenbesitzer ihre Waren entweder täglich wieder nach Hause schleppen müssen, um sie zu Hause wieder gut aufbewahren zu können, oder sie hätten sie in ihren Buden nachtsüber aufstapeln müssen. Welcher Fortschritt das Heute! Auch Konfiskationsräume sind da und brauchbare Räume für das Marktamt und eine ideale Wage [!], in der irgendeine Manipulation zugunsten oder ungunsten der Parteien darum ausgeschlossen ist, weil die Feststellung des Gewichts völlig auf automatischem Wege vollzogen wird.

Und im Hofe des Riesengebäudes eine der schon berühmt gewordenen Waschküchen der städtischen Wohngebäude, eine Waschküche, wo die Hausfrau in vier Stunden reinigen kann, was eine fünfköpfige Familie in vierzehn Tagen an Wäsche braucht. Neuerdings Bewunderung und Neid derer, die das noch nicht mitbenützen können. Aber auch hier ist schon wieder ein Schritt nach vorwärts gemacht. So wie der Kindergarten nicht nur den Kindern des Hauses zur Verfügung steht, so ist auch diese Waschküche gegen eine ganz bescheidene Miete andern Proletarierfrauen zugänglich, die außerhalb des Hauses wohnen. Die Leistungsfähigkeit der Waschküchen kann dadurch auf das äußerste ausgenützt werden. In einer Viertelstunde ist die Wäsche in den Trockenkulissen trocken und nicht rußig. Ueber jedem Waschtrog gibt es zwei Auslaufhähne für heißes und kaltes Wasser, daneben steht ein Dampfkessel mit Zulauf für heißes Wasser und einem Hebel für den Ablauf des Schmutzwassers. Nirgends braucht die beim Waschen sonst so gequälte Frau schwere Lasten zu heben: Wasser oder nasse Wäsche; immer wieder kommen ihr mechanische Vorrichtungen zu Hilfe. Die elektrische Rolle, die Streudüse zum Wäscheeinspritzen und das elektrische Bügeleisen vervollkommnen die Einrichtung. Da ist es wirklich ein Vergnügen, zu waschen, keine Last mehr, kein Schrecken mehr!

Schlinger-Hof und Bretteldorf.

Und dann der Gegensatz!

Eine rasche Fahrt in das benachbarte Bretteldorf, das auf Überschwemmungsgebiet gestellt, von den Kleinbesitzern der Bretterhütten verteidigt wird wie ein Heiligtum, das aber doch eine gesundheitliche Gefahr, nicht nur für die Bewohner des Bretteldorfes, sondern für die ganze Stadt bedeutet. Wir sehen die Kehrichtabfuhr nach dem Coloniasystem, wir sehen, wie oben ein ganzer Wagen gestürzt wird und unten ein Tankwagen seinen Inhalt aufnimmt und wie dieser Tankwagen dann über die neue „Mistg’stetten“ dahinrollt und irgendwo seinen Inhalt entleert, der dann noch sortiert wird von seinem Unternehmer, der da unten den Abfall der Großstadt und proletarische Kraft auswertet. Eine Milliarde Pachtschilling zahlt der Mann für die Erlaubnis, den Abfall der Großstadt auswerten zu dürfen und trotzdem wird er noch ein schwerreicher Mann dabei. Aber die armen Menschen, die diese Arbeit zu leisten haben, wie hausen sie hier! Es ist ein schauriger Einblick, den wir im Vorüberfahren gewinnen, wenn wir in die kleinen Eisenbahnwaggons oder Wagen sehen, die da mitten im Mist, aber ohne Räder, gestellt sind und deren eine Wohnung für ein paar Menschen darstellt. Berge von Glasscherben, Kondensbüchsen sind da und dort aufgestapelt und von anderm Gerümpel. Der Pächter hat einen eigenen Schmelzofen, in dem die Kondensbüchsen und andern Metallgegenstände in Barren gegossen und dann wieder verkauft werden. Ein Großbetrieb, aufgebaut auf die Arbeitskraft wahrer Enterbter. Schaudernd schauen wir in dieses Leben. Und wie Befreiung scheint es uns allen, als der Führer das Zeichen zum Aufbruch gibt, nach der letzten Station, die wir vor uns haben, nach dem Amalienbad in Favoriten.

Auf dem Wege dahin begegnen wir in der Rasumofskygasse zwei Damen in Reithosen, die eine mit einer schwarzen Jockeimütze, die andre in schwarzem Schlapphut, beide in schwarzen Fräcken steckend, die eben auf ihren Pferden von dem Morgenritt in den Prater zurückkehren. Ein Blick in die andre Welt. in die Welt derer, die nur ihrer Pflege, nur ihrer Schönheit leben …

Verbrüderung Ottakring-Favoriten.

Ehe wir die herrlichen Hallen des Amalienbades betreten, das moderne „Tröpferlbad“ und das schöne Dampfbad besichtigen, laden uns noch die Vertrauensmänner eines städtischen Wohnbaues in der Bürgergasse in Favoriten zu kurzem Verweilen ein. Wir treten ein, sie empfangen uns in ihrem noch nicht völlig fertiggestellten Beratungssaal, aber was sich in dieser halben Stunde, die wir dort zubringen, abspielt, das ist ein herzerfreuendes Verbrüderungsfest zwischen den Proletariaten der beiden mächtigsten Wiener Proletarierbezirke, zwischen Favoriten und Ottakring. Im Nu ist aus der Exkursion eine Wählerversammlung geworden, in der ein Exkursionsteilnehmer den Gefühlen aller beredten Ausdruck gibt, den Gefühlen aller für die rote Gemeinde Wien auf der einen Seite, den Gefühlen aller aber auch gegen die Preßhelden der Einheitslistler, die begehren, daß alle diese Herrlichkeiten, die da in einem Vormittag geschaut werden konnten, erbaut werden sollen, indem sich die Gemeinde Wien dem internationalen Kapital tributpflichtig macht, ja nicht aus der eigenen Kraft, und die zugleich alles zu schön, alles zu luxuriös, finden. Für die Herren das schön verkachelte hygienische Bad, für das Proletariat das muffige Tröpferlbad, wie es einst war. Das ist die Meinung der Zeitungen der Einheitsfront von dem christlichsozialen Regierungsblatt bis zur „N. Fr. Pr.“.

Und dann geht es wirklich ins Amalienbad. Wir schauen den Zauber, den da die Gemeinde Wien wieder geschaffen hat, für das Proletariat geschaffen hat, damit auch das Proletariat seinem Körper in Gesundheit und Schönheit zugleich dienen könne.

***

Dann geht es wieder nach Hause in die alten Wohnungen und ein Stück Unzufriedenheit in dem Herzen zieht nun mit ein. Dabei aber belebt jeden Einzelnen der große Gedanke: Das, was wir heute geschaut haben, den kleinen Ausschnitt aus dem großen Wirken der sozialdemokratischen Gemeinde der letzten vier Jahre, das ist alles noch ein bescheidener Anfang, es soll noch viel mehr, es soll noch viel Schöneres kommen: 30.000 neue Wohnungen, Spielplätze und Bäder, und für Kinder und Mütter, alles was nötig ist, Krippen, Heime, Kliniken, und für die Kranken und Alten alles, und für die Hausgehilfinnen Heime und dazu Parks und schöne staubfreie Straßen für alle, und vieles andre, alles, alles will die rote Gemeinde leisten, wenn sie getragen ist, von dem Vertrauen des roten Wien. Möge der 24. April ein Tag des Segens werden für diese Stadt, für unser aller geliebtes Wien.

In: Arbeiter-Zeitung, 17. April 1927, S. 19-21

Hugo Huppert: Der Sprechchor und die proletarische Kunst (1925)

             Die proletarische Kunst ist ein Ausdruck des proletarischen Kampfes. Aber mehr noch, sie ist ein Mittel, die steht im Dienste dieses Kampfes selbst. Daraus leuchtet ein, daß sie nicht nur ihren Inhalt, sondern auch ihre Form und Gehalt dem Charakter des proletarischen Klassenkampfes entlehnt. Was ist nun das Kennzeichen dieses Kampfes, was unterscheidet seine allgemeine Taktik von der Kampfesweisen anderer Klassen und Gruppen? Die einmütige Bewegung der selbsttätigen Masse. Nicht ein Held, Erlöser, Drachentöter, Befreier, „kein Gott, kein Kaiser, kein Tribun“ wird den Kampf der Werktätigen um die Herrschaft und später um die klassenlose Gesellschaft entscheiden, sondern die Klasse selbst als kollektive Kampfformation, organisiert und geführt von der Partei der Revolution. So muß die proletarische Kunst zunächst schon der Struktur (dem Aufbau) der Klasse selbst entsprechen, der Klasse, wie sie lebt, arbeitet und kämpft.

             Wenn wir die Architektur (Baukunst) betrachten, die in ihrer praktischen Verbundenheit mit dem Wohnbedürfnis der Gesellschaftsklassen die Zusammenhänge zwischen dem wirtschaftlichen Unterbau und dem künstlerischen Ausdrucksleben einer Gesellschaftsordnung deutlicher als andere Kunstgattungen aufzeigt, so sehen wir folgendes: Im Wohnparadies der Großbourgeoisie, etwa im Cottageviertel von Währing, stehen ältere und neuere Villen und Einfamilienhäuser neben kleinen Palästen und schloßartigen Gartenhäuchen in ungleichen Abständen mit allerlei Gartenschmuck, wobei aber das Auffallendste die durchgängige Verschiedenheit und Mannigfaltigkeit dieser Gebäude ist, von denen nicht zwei einander ähnlich sein wollen und im Wettbewerb um Eigenart, Besonderheit und „Apartheit“ zu den geschmacklosesten Mitteln greifen. In diesen Bauformen drückt sich der Persönlichkeitskult und der Individualismus des in der freien Konkurrenz der Einzelnen erzogenen bürgerlichen Denkens und Fühlens aus. Dieses plan- und regellose Durcheinander von Ungleichartigem, oft Widerspruchsvollem ist eben das baukünstlerische Abbild der Anarchie der Produktion, wie sie die kapitalistische Wirtschaft beherrscht. Vergleichen wir damit die ungeheuer gleichförmigen, geradlinig ausgerichteten Mauerblöcke der Vorstädte, diese hausgewordenen Raumquader, in welchen das Proletariat wohnt, so erkennen wir darin den kollektiven Zug und das Massenmaß, welches den Aufbau der Arbeiterklasse, ihre Kampfesweise und damit auch die proletarische Kunst kennzeichnet. Nicht um der Schönheit willen ist die Kunst geschaffen, sondern sie wächst aus der sozialen Not wie die Zinskasernen. Und so wandelt sich „Stil“, Geschmack und Schönheitsbegriff mit dem Wechsel der Gesellschaftsform, welche großen ökonomischen Gesetzen folgt.

             Ebenso wie die Riesenquader, Wolkenkratzer und Bienenhäuser dem sozialen Massenwohnen der Arbeiterklasse entsprechen, so entspricht der Epoche des revolutionären Massenaufzugs, der Straßendemonstration und des Straßenkampfes als sprachliches Ausdrucksmittel der Sprechchor. Die kollektiven Losungen der Partei des Proletariats sind der dem Sprechchor angeborene Stoff. Wie ist diese Kunstgattung entstanden? Wer am 25. März nach der Rote-Hilfe-Versammlung im Demonstrationszug über die Mariahilferstraße mitmarschiert ist und die Parolen des Tages im Marschtakt mitgerufen hat, der kennt durch eigene Erfahrung die Geburt des Sprechchors aus dem Kampf. Und als der erste Polizeikordon durchbrochen war, wie rasch und feurig kam im Rhythmus des anschwellenden Sprechchors wieder Ordnung und Geschlossenheit in den Zug! Wo die Starrheit des Marschliedes der vorwärtsstürmenden Bewegung inhaltlich nicht nachkommt, da ergreift der anpassungsfähigere Sprechchor die neue Parole. Und das der Parole entsteht das revolutionäre Gedicht.

             Eine Masse, in der jeder Einzelne sein Wort und seine Stimme hören will, kann nicht sprechen, sondern nur rauschen wie ein totes Element. Der brausende Wind und das rauschende Meer kann beherrscht werden. Aber eine sprechende, weil wollende Masse kann kein Herr beherrschen. Sprechen kann aber nur ein Chor, eine organisierte Masse. Und hier zeigt sich wieder die Einheit von Kunstform und Kampfesform des Proletariats. Der Sprechchor ist das ausdrucksvollste Musikinstrument der zum Kampf organisierten Masse.

             Wer sehen will, wie die kleinbürgerliche Verknöcherung der Sozialdemokratie bis in die ideologischen Höhen der Kunstteheorie hinaufsteigt, der lese, was Elise Karau in der Arbeiter-Zeitung vom 31. März zu sagen hat. Der Sprechchor, aus der antiken Tragödie hervorgegangen, ist nur da, um „proletarische Feste zu verschönern, ihnen eine neue Weihe zu geben…“, „zu unser aller Freue, frohes Fest mit tiefem Sinn…, ein stück Sozialismus, Festkultur der Zukunft! … wenn das Dichterwort: ‚Nur eine kleine Weile, dann habt ihr Zeit!‘ sich erfüllt haben wird.“ Ja, wir wissen, daß diese Stück-Sozialisten Zeit haben; und da wird’s doch dem Proletariat auf „kleine Weile“, die sie ihm durch „Reigen in schöner Harmonie“, „Schönheit des durchgebildeten Körpers“, „Wohllaut des Klanges“, „mit Geist und Empfindung des freien, bewußten Menschen“ kürzen, nicht ankommen! Auch ein Weg zum Sozialismus, der ja stückweise kommt: Man vertreibe // sich die Zeit bis dahin durch Vorbereitungen zur „Festkultur der Zukunft“! Wir würden der Arbeiterjugend raten, etwas anderes zu vertreiben… Aber weshalb denn? Elise Karau meint: „Ein Stückchen vom Himmelsblau, ein Sonnenstrahl vergoldet auch den kahlen Hof der Zinskaserne (und auch diese sieht heute schon anders aus als vor zwanzig Jahren) …“ Aber gemach! Sprechchöre sind alles, nur kein Einschläferungsmittel. Eine kleine Weile nur, und der überraschten Elise Karau schallt es aus tausenden Proletarierkehlen entgegen: „Hinaus aus der Festkultur der Zukunft! Hinein in die Kampfkultur der Gegenwart!!“

In: Die Rote Fahne, 19.4.1925, S. 6-7.

Walter Süß: Mariahilfer Straße. Die Herzader der Großstadt.

Mariahilferstraße: Das ist mehr als eine große Verkehrsader, mehr als zwei endlose Fronten großer Häuser, steinerne Schlucht, in der Ströme von Fußgängern, Autos und Trambahnwagen ewig aneinander vorüberfließen. Nein, Mariahilferstraße – das ist die Seele der Großstadt, das ist eine Symphonie von Luxus, wohlhabender Behäbigkeit und traurigem Elend. Ist ein Märchen von Licht, eine Symphonie von Farben. Ist Granitwüste, Sumpf, Korso, ist Strich, den ein unerbittliches Schicksal durch Lebensrechnung der Armen gezogen hat, die nun auf ihm wandeln müssen. Und ist eine der großen Heerstraßen der Zivilisation, durch die der Rythmus des Jahrhunderts dröhnt, flankiert von Bauten einer geruhigen Vergangenheit und überschattet vom Traum der Zukunft: der Stadt von morgen, Metropolis mit Wolkenkratzern und flammenden Lichtfontänen inmitten brüllender Verkehrskatarakte,  Mariahilferstraße in tausendster Potenz.

              Hundert Gesichter hat diese Straße und hundert Gesichte vermittelt sie. Sie ist Wien, auf eine einzige lapidare Formel gebracht. Sie ist das Wien von gestern, dort, wo noch die alten Häuser stehen und zwanzigstes Jahrhundert an die Mauern des achtzehnten brandet, vergessener Barock im Brausen der Moderne, sie ist das Wien von heute, leuchtende Schriften bunt und eindringlich hoch über flammenden Schaufensterfronten. Und sie ist das Wien von morgen, dessen Zentrum langsam gegen Westen tendiert. Sie führt nicht nur nach Schönbrunn, die Mariahilferstraße. Sie führt in die Zukunft…

Vergangenheit.

Kaffeehaus: Offene Galerie in Stockhöhe, leuchtend rote Riesenparasols über zierlich weißen Tischen. Und unten die Mariahilferstraße – Fußgängerheere, Autokolonnen, gestaute Tramwayzüge; plaudernd, tutend, klingelnd und all das verschmolzen zu einem Inferno der Töne, einer gigantischen Dissonanz, die trotzdem Melodie bedeutet…

So ist es heute.

Und so war es gestern: eine ehrwürdige Landstraße, weißer Staub in ausgefahrenen Räderfurchen, grüne Sträucher am Rain. Und ab und zu Häuserln, dahinter Weingärten und darüber der blaue Himmel. Laimgrube, Gumpendorf, Neubau, Schottenfeld. Es sind alte Namen, ein bißchen rostig schon im Klang. Und damals waren es kleine Nester an der großen Straße, die weit, weit hinaus, bis ins Bayrische führte. Anno 1400 reichten die Häuserln gar nur bis zur heutigen Stiftskirche. Dreihundert Jahre später war die Straße schon bis zur jetzigen Esterhazygasse verbaut. Und in der Mitte des neunzehnten Jahrhunderts rückten die Mauern bis zur „Lina“ vor und dort, wo heute am Gürtel der Obelisk steht, gab es eine Statue des heiligen Johann von Nepomuk, die auf einer steinernen Säule stand.

Einstmals hieß die Straße „Im Schöff“, nach dem gleichnamigen Schild des Wirtshauses, in das die bayrischen Schiffsleute, wenn sie zu Lande heimwärtsstrebten, einzukehren pflegten. Später wurde sie Penzingerstraße, Bayrische Landstraße und Schönbrunnerstraße genannt. Ihren jetzigen Namen bekam sie von einem Marienbild. Jetzt steht auf dem Grund, wo es früher nur eine kleine Holzkapelle gab – sie wurde 1660 errichtet -, die Anno 1715 erbaute Mariahilferkirche. Zu Beginn des siebzehnten Jahrhunderts hatten die Barnabiten das Land getauft und errichteten, noch lange vor der Kapelle, einen Friedhof, damit der alte vom Michaelerplatz aufgelassen werden konnte. Das Gnadenbild „Maria, hilf!“ gab der Straße und dem Bezirk den Namen. Keine Weingärten gibt es mehr, keinen Friedhof, und kaum einer der Hunderttausende, die täglich durch die Straße ziehen, denkt an die Vergangenheit. Da war das Haus Casa piccola, Mariahilferstraße 1 – jetzt gibt es ein paar Schritte weiter ein Kaffeehaus gleichen Namens – in dem hat der Kriegsrat Napoleons getagt. Im Hause Mariahilferstraße 45, einst hieß es „Zum Goldenen Hirschen“, wurde Ferdinand Raimund geboren. Aber das alles ist schon lang, lang vorbei. Hier wächst kein Wein mehr, keine bayrischen Flößer sinken mehr vor dem Gnadenbild der Himmelskönigin in die Knie und keine Toten werden hier begraben. Und Napoleon, der sich gern als Großer zeigte, mußte dem Gerngroß Platz machen, so wie die Flößer den Automobilen gewichen sind.

Und ein Stockwerk über dem allen sitzt man beim Kaffee unter einem roten Parasol, sechs Meter über den Asphalt.

              Das erste Auto

Ununterbrochen ändert sich das Gesicht dieser Straße. Ich habe Bilder von ihr gesehen, so wie sie Anno neunzig ausgesehen hat: behaglich noch und still, Pferdebahnwagen und Damen mit Puffärmeln und Wespentaillen, mit Spitzenschirmen und Fliegenpilzhüten, ein paar Fiaker dazwischen und im Hintergrund würdige Bürgerhäuser, über denen die Luft des Brillantengrundes lag. Und das Gesicht von gestern ist geblieben, trotz des Gesichts von heute: Draußen in Rudolfsheim stehen noch die alten Barockhäuserln beim Schwendermarkt, an denen die Zeiserlwagen vorübergefahren sind, in der Gegend des Palace die protzigen Fin-de-siècle-Paläste, aufgedonnert mit Kuppeln und patzigen Ornamenten, knapp daneben der nüchterne Zweckbau des Hauses, in dem sich das Flottenkino befindet, und der ganz, ganz entfernt ein bißchen an Broadway und Newyork mahnt. So steht gestern und heute nahe beisammen und einmal wird das Heute neben dem Morgen stehen, aber das Gestern wird nicht mehr da sein.

             In der Straßenschlucht die Automobile, eines nach dem andern. Erst sie geben der Mariahilferstraße Stimmung und Gepräge. Man sehe sie sich an im Morgengrauen, wenn sie leer und öde ist, toter Granitdarm, und wird erkennen – erst die Autos machen sie vollkommen. Es ist vielleicht kein Zufall, daß das erste Auto durch sie gefahren ist. Das war Anno 1879, als Siegfried Marcus, der erfindungsreiche Mechaniker, im Hause Mariahilferstraße 107, seine Werkstätte betrieb. Schon fünfzehn Jahre früher hatte er einen „Motorwagen“ auf der Schmelz ausprobiert. Dann hatte er lange gebastelt und probiert, bis auf einmal in Nacht und Nebel – bei Tag hätte sich der Erfinder nicht getraut – ein sonderbares Fahrzeug, ohne Roß und Schiene knatternd und pfauchend durch die Mariahilferstraße ratterte. Allerdings nicht lange. Die Wiener Polizei verbot das Auto des Marcus. „Wegen des großen Geräusches“, hieß es in der geistvollen Begründung. Es ist also wirklich nicht die Schuld der Polizei, daß es heute Autobanditen gibt…

                           Die Straße lebt.

             Man muß bescheiden sein: Die Mariahilferstraße ist nicht der Berliner Kurfürstendamm und nicht der Londoner „Strand“. Aber sie ist ein Stück Weltstadt, durch die rastlos das Leben pulst, sinnverwirrend in seiner Mannigfaltigkeit und grandios in seinem ewigen Wechsel. Vier Kilometer – aber jeder Kilometer hat ein anderes Gesicht und jede Stunde ein anderes Antlitz. Eng, gedrängt, wie das Herz der City, die ansteigende Kurbe am Beginn; breiter Geschäftsboulevard bis zum Gürtel und kleinbürgerlich, schon ein bißchen vorstädtisch, hinaus gegen Schönbrunn. Am Ende noch ein ganz anderes Bild: ruhige Avenue inmitten grünen Parklandes, zur Rechten der vornehme Kolossalbau des Technischen Museums. Es sind vier verschiedene Straßen, aber es ist ein und dieselbe Straße…

             Aber die Mariahilferstraße mit ihrem Leben, ihrer Brandung, reicht hinein bis in die Seitengassen. Man denke an die Stumper-, an die Reindorfgasse. Mehr als tausend Geschäfte sind in der Mariahilferstraße oder in ihrer unmittelbaren Nähe. Es ist ein riesenhafter Basar, ein einziges gewaltiges Warenhaus, in dem alles verkauft wird, vom Kragenknopf bis zur kompletten Heiratsausstattung, von der Stecknadel bis zum Nobelauto, und alles erhältlich ist, was es in dieser Welt gibt: Ware, Vergnügen, Elend, Liebe und Seelenheil. Gewaltige Mammonspaläste für die Ware, Cafés und Lichtspieltheater für das Vergnügen, vergessene Winkel für das Elend, fein säuberlich reglementierte Striche für die Liebe und Kirchen für das Seelenheil. Und alles, des Lebens Notdurft, Vergnügen, Liebe und Farbe, ja das Leben selbst, scheint Ware geworden zu sein in dieser Straße. Das ist ihr Gesetz und ihr Fluch.

             Fest und hart ist der Asphalt – aber dort, wo die armen Mädel gehen, ist er weich und tückisch, wie Sumpf, in dem sie versinken. Und ihnen allen: denen, die gehen, um sich zu verkaufen, und denen die gehen, um zu kaufen; denen, die hetzen in der Tretmühle der Arbeit, und denen, die gehetzt werden; und denen allesamt, die ihre Luft geatmet und den Rhythmus ihres Tempos in ihren Adern pochen fühlten, ist sie zur Straße des Lebens geworden. Ja, sie ist das Leben selbst; tönend die Pracht der Fassaden und in grauen Lichthöfen das Elend, glänzend die Schminke und tief unter ihr die Bazillen – und flackerndes Licht auf hohen Dächern, über denen es Nacht ist…

             Und man liest wie im Märchen: In der Zeit der Maria Theresia wurden in der Straße Öllampen angebracht. Sie brannten nur, wenn sich der Hof nach Schönbrunn begab. Das war vor 150 Jahren. Und in wieder anderthalb Jahrhunderten werden hier Wolkenkratzer stehen und seltsam geformte Flugschiffe wie Meteore durch die Nacht blitzen. Die Trottoire werden bewegliche Laufbänder sein und drei Straßen werden übereinander liegen. Und jemand wird lesen, wie im Märchen: In der Zeit des zwanzigsten Jahrhunderts bettelten Männer in der Straße und Frauen verkauften ihre Körper. Denn sie alle, alle hatten ewig Hunger

In: Das Kleine Blatt, 19.5.1928, S. 3-4.

Ludwig W. Abels/Hans Tietze: Unsere Kunstgüter in Gefahr!

Das „Neue Wiener Journal“ hat vor einigen Tagen die Nachricht gebracht, daß mit 31. Dezember der als Kunstforscher sowie als schneidiger Kritiker bekannte und vielgenannte Universitätsprofessor Hans Tietze aus seinem Amt als Referent des Staatsamtes für Unterricht ausscheidet. Schon die Seltenheit des Falles – in einer Zeit, da jeder so lange als möglich an der Krippe zu verbleiben trachtet – hat weit über die engeren Kunstkreise hinaus Aufsehen erregt. Man weiß, daß Tietze nach dem Umsturz durch energische und logisch gewappnete Verteidigung unseres Kunstbesitzes gegen die Gelüste des Auslandes sich hervorgetan hat, daß er bald darauf das großzügige Programm für den Ausbau der staatlichen Sammlungen aufstellte, das vor allem den glücklichen Neuschöpfungen des Barockmuseums sowie der Galerie des 19. Jahrhunderts ec. zugrunde liegt, das aber noch lange nicht in allen Punkten durchgeführt werden konnte. Und so könnte man glauben, daß einer der Vorkämpfer um die gute Kunstsache die Flinte ins Korn geworden hätte. Die Gegner aller Art – an denen es bei einer so entschiedenen Erneuerungstätigkeit nicht fehlen kann – werden vielleicht im ersten Moment triumphieren. Nun, sie kennen die Motive dieses Schrittes nicht und ahnen kaum die Gefahren, die mit den schuldtragenden Verhältnissen verbunden sind!

             Die Abschiedsfeier, die vorgestern im Oberen Belvedere veranstaltet wurde, zeigt das einmütige Zusammenstehen aller am Gedeihen unserer Kunstinstitute interessierten Persönlichkeiten. Sie zeigte, wie tief die Trauer über diesen wohlerwogenen Schritt geht. Dem Scheidenden wurde eine von sämtlichen Beamten der Museen und vielen anderen Fachleuten von Rang unterzeichnete Denkschrift überreicht, in der Dr. Tietze der Dank für sein selbstloses Wirken ausgesprochen und das Festhalten an seinem Programm betont wird.

             Unter den vielen betrübenden Ereignissen, die in den letzten zehn Jahren über Österreich herniederstürmten, war der Stolz auf unseren vielbewunderten Kunstbesitz eines der wenigen tröstlichen Momente. Trotz Geldnot und Abbaumaßnahmen schienen unsere berühmten Institute, die einstigen Hofmuseen, die Hof- (jetzt National-)Bibliothek, die Kupferstich- und Handzeichnungensammlungen, die Galerien neuerer Kunst und andere in ein Stadium des Fortschrittes und der Vergrößerung getreten zu sein, ähnlich wie wir es bei den ehrgeizigen reichsdeutschen Instituten in Berlin, München, Hamburg usw. sehen können. Eingeweihten konnte jedoch nicht verborgen bleiben, daß viele Maßnahmen in den Anfängen stecken blieben; der Arbeitseifer schien zu erlahmen – kein Wunder, wenn die Arbeitslast, an der früher fünf Personen zu tragen hatten, nur oft auf einem einzigen Direktor oder Kustos ruht. Aber es gibt auch tiefer liegende Fermente der Zerstörung. Nicht etwa die Angriffe mancher Zeitungsreferenten sind hier gemeint, denn offener Kampf fördert.

Vielmehr: dem aufmerksamen Beobachter der österreichischen Nachkriegsvorgänge (und zwar auf allen Gebieten der Politik!) kann es nicht entgehen, daß seit einigen Jahren ein ganz eigener Typus von Beamten in den verschiedenen Staatsämternn auftritt, dem es weniger um das allgemeine Wohl, als um die eigene Karriere zu tun ist; es sind Männer, die ihre Ziele mit um so größerer Energie verfolgen, als ihr Gemüt und Gedächtnis „von keinerlei Sachkenntnis beschwert ist“. Sie finden bei jenen Verwaltungsbeamten, die sich möglichst lange am Ruder halten wollen und denen alles andere „Wurst“ ist, keine ernstlichen Hindernisse. Die Folge dieser Erscheinung ist eine vollkommene Stagnation in den betreffenden Gebieten.

[…]

             Hofrat Tietze formuliert die Symptome der Zersetzung in der staatlichen Kunstpolitik in zwei Punkten. In erster Reihe steht das Verhalten der Behörden in den bekanntlich so wichtigen Geldangelegenheiten. Die Krise kennzeichnet sich durch die seit Jahr und Tag bemerkbare Unlust, die genügenden Geldmittel selbst für die spärlichste Befriedigung der sachlichen und Personalbedürfnisse zu bewilligen. Es liegt diese scheinbare Sparsamkeit durchaus nicht im Sinne der Versailler Beschlüsse, ebenso wenig wie der ganz übertrieben gehandhabte Abbau im Personal künstlerischer und wissenschaftlicher Institute. Es war niemals die Absicht der Mächte oder des Generalkommissars Dr. Zimmermann in gedankenloser Schematisierung auch auf die lebendigen und unersetzlich wichtigen Kulturgüter anzuwenden. Welcher Widersinn einerseits in begeisterten Tiraden die zum Weiterbestand Österreichs und zu seiner Reputation so wichtigen Kunstgüter zu preisen, anderseits sie durch Entfernung der bewährten Hüter und Verweigerung der erforderlichen Gelder langsam aber sicher zugrunde zu richten! Jüngere Beamte werden nicht angestellt und herangezogen; die wenigen, die als Volontäre arbeiten, in Erhoffung späterer Anstellung, müssen im Existenzkampf zur Lehrtätigkeit oder Schriftstellerei übergehen. Auswärtige Kräfte lehnen jede Berufung ab, da die gebotenen Gehälter kaum die Hälfte der gewohnten Bezüge betragen!

             Als zweiten Grund des Rückgangs bezeichnet Hofrat Tietze die oben angedeutete Zersetzung, die sich in der Verwaltung selbst vollzieht. Die gesamte Verwaltung Österreichs, speziell auf dem Gebiet der geistigen und Kunstpflege, ist zu ihrem Schaden politischen Einflüssen, den Wünschen der verschiedenen politischen Parteien zugänglich. – Während in Deutschland trotz der Zerklüftung und der Gegensätze in den Meinungen doch die Durchführung wichtiger Ankäufe und wichtiger Reformen nicht behindert wird, erscheint Tietze eine ersprießliche Tätigkeit im Unterrichtsamte bei den gegenwärtigen Verhältnissen vollkommen unmöglich. „Und da ich es unter diesen Umständen für eine Gewissenlosigkeit halten würde, mich aus den Steuergeldern des verarmten Volkes bezahlen zu lassen, ohne etwas zu leisten oder leisten zu können, habe ich von dem Abbaugesetz Gebrauch gemacht, indem ich mich selber abbaute!“

In: Neues Wiener Journal, 6.1.1926, S. 6.

Otto Koenig: Der Geist ist los! (1919)

„Erscheinungen wie die als Expressionismus bezeichnete, sind niemals Gebilde einer bestimmten Gegenwart, ihre Existenz erreicht vielmehr kometenhaft aus ferner Dunkelheit in großgeschwungener Ellipse unser Sehfeld, Spur und Eindruck hinterlassend, ehe sie aufgeht im Allgemeinen.“

Max Krell

Wäre der Expressionismus nichts anderes und nicht mehr als eine Kunstrichtung, die, im Gegensatz zu Naturalismus und Impressionismus, die den äußeren Eindruck, den die Erscheinungswelt  auf den einzelnen macht, in Wort, Ton und Bildwerk festzuhalten versuchten, nach dem Ausdruck innerlicher, geistiger – wie viele meinen ‚absoluter’ – Wesentlichkeit ringt, so wäre wenig Veranlassung, uns mit solchem reinen Kunststreben an dieser Stelle auseinanderzusetzen, Der Expressionismus ist aber mehr als eine bloße Kunstrichtung. Ja er ist in seines Wesens innerstem Kern überhaupt keine neue ästhetische Richtung, sondern eine alte ethische. Dies wäre nicht nur durch die analytische Betrachtung expressionistischer Kunstwerke, sei es Dichtung, Malerei oder Skulptur, sondern auch durch Hunderte von Zitaten aus Werfel und Leonard Frank, aus Hasenclever und Georg Kaiser zu belegen. Doch mögen hier allein die zwei kräftig illustrierenden Worte von Max Krell und Alfred Wolfenstein genügen, die Worte: „Religiöse Ekstatik nach innerer Genesung geht neu durch alle“ und „Wenn Seele lacht, muß Körper heulen.“

Bei genauerer Betrachtung zeigt der Expressionismus mit seinem Kult der eigenen Seele, seinem Streben nach innerer Reinheit bei Gleichgültigkeit gegen äußerliche Unappetitlichkeit (Anachoretismus), Abkehr von Wirklichkeit und Sinnlichkeit, Hinneigung zu spiritualistischen, zeitlosen und absoluten Idealen (Askese), mit seinem Bußwillen und Bekehrungseifer (Exorzismus, Flagellantismus) sehr deutlich die Züge jener ebenfalls zum Kunststil zusammenkristallisierten Geistesrichtung, die man die Gotik (13. und 14. Jahrhundert) nennt.

Auf diese charakteristische Eigentümlichkeit hat meines Wissens zum erstenmal ausdrücklich Hermann Bahr, seiner gegenwärtigen Denkweise entsprechend natürlich mit Genugtuung hingewiesen. Gegenwärtig erkennen die Expressionisten – und solche, die es eben werden – die Beziehung zur Gotik bewußt an. „Die Kunst ist eine Etappe zu Gott!“ erklärt Kasimir Edschmidt. Was man nur im Anblick eines gotischen Spitzbogens nachzufühlen vermag. Max Krell spricht von den „gotischen Rippen“ der neuen Geistesrichtung und Hermann Kesser gibt unzweideutig den Feldruf: „Befreit die religiöse Inbrunst aus den gotischen Türmen!“

Also Gotik im 20. Jahrhundert!

Der historisch geschulte Blick macht angesichts solch seltsamer Wiederkehr keineswegs erstaunte Augen; diese Art von Revenant ist ihm nicht gespensterhaft. Ein Blick auf die durch die Wirtschaftsform des Kapitalismus bedingte, technisch-naturwissenschaftliche letzte Hälfte des 19. Jahrhunderts ließ eine spiritualistische Reaktion mit Sicherheit seit langem erwarten. Daß der nun „los“ gewordene Geist („Der Geist ist los“ ist der Kampfruf der Gotik von 1918, wie „Gott will es“ die Parole der Kreuzfahrer war) in einer an mittelalterlichem Geschmack gemahnenden Gewandung einhertritt, ja daß er Feuer vom ewigen Licht gotischer Dome gezündet hat, ist ein auffälliger, aber nicht überraschender geschichtlicher Parallelismus […]

Aber hat nicht der Krieg und der endliche Zusammenbruch vergreister politischer Systeme…?

Gewiß hat der Krieg und der Zusammenbruch die neue Begeisterung – gekräftigt, rasch gereift, ihr Ziel und Richtung gewiesen, nicht jedoch hat er die erst geschaffen. Wer die Literaturgeschichte der Vergangenheit kennt, weiß, daß der landläufige Lehrsatz der Schulliteratur: „Der Dreißigjährige Krieg hat den Niedergang der deutschen Literatur im 17. Jahrhundert verschuldet“, unrichtig ist. Dieser Niedergang war schon vor Beginn des Krieges merkbar.

Wer die zeitgenössische Literatur im ersten Jahrzehnt unseres Jahrhunderts verfolgt hat, weiß, daß das, was heute unter dem Namen Expressionismus in Erscheinung tritt, schon vor dem Krieg auf dem Marsche war […] durch die politischen Ereignisse ist die Bewegung nicht allein gefördert, sondern auch nach der politischen Seite hin umgebogen worden. Von Leonhard Franks politischer Epik, wie sie in seinem Novellenkranz „Der Mensch ist gut“ gewaltig einhertritt, von Göhring, Kaiser und Hasenclever, bei denen die politische Tendenz immer wieder augenfällig zutage tritt, ganz abgesehen! Auch anscheinend rein psychologische Dichtungen wie Hermann Kessers Tragikomödie „Summa Summarum“ sind politisch, sozial eingestellt und sogar in einer anscheinend so individuellen und rein rein innerlich seelischen Tragödie wie Hermann Böttichers ernstem Spiel „Die Liebe Gottes“, weist es sich bei näherer Betrachtung, daß diese unerquickliche Geschichte von der missglückten Bräutigamschaft Achims des Preußen, bei der man sich nur wundert, warum „das Spiel“ ohne augenscheinlichen Zusammenhang mit der Handlung „unter den Schüssen der abendländischen Revolution“ vor sich gehen muß, nichts anderes darstellen soll als die deutsche Revolution, die nach Böttichers Meinung wie die Heldin des Stückes Lili unter den symbolischen Stimmen des Geistes des Aufstiegs und des Geistes des Untergangs, ins Altgewohnte, Hergebrachte und Vergestrigte umkippt.

Die Tendenz des Expressionismus bildet also eine interessante Synthes von Gothik und sozialem Revolutionismus. An Tollers Person ist sie am deutlichsten zu sehen, in Heinrich Vogelers Aufsatz „Expressionismus der Liebe“ am deutlichsten zu lesen.

Die christliche Liebe der Gotiker der Gegenwart erscheint als Pazifismus und Sozialismus, der Glaubens- und Bekehrungseifer als Revolutionismus. Trotzdem wäre es falsch, im Expressionismus etwas wie eine verbündete Macht zu sehen, die Expressionisten der Liebe als Genossen zu begrüßen. So sehr auch ihre Liebe von Sehnsucht überfließt, sie sehen sich nicht um – wer mitgenießt – und neigen in ihrer Abkehr vom Sinnlichen eher zum Askesenwort: „Genießen macht gemein!“ Ihr Sozialismus ist nicht unmittelbar nach Wohlfahrt gerichtet, sondern auf Mitleiden eingestellt, ihr Revolutionismus zielt nicht unmittelbar auf Besserung, sondern vorher auf Reinigung.

Wieder nur eine Zeugnis für viele! In Böttichers schon erwähntem Gedicht „Die Liebe Gottes“ sagt der „Herr von Kerr“ deutlich als Wortführer des Dichters: „Es gibt Menschen, denen ist sichtbar eine Dornenkrone aufgesetzt, aber es muß eine Gnade sein, denn sie leuchtet meist […]

Die gotisch-mystische Basis des Sozialismus und Revolutionismus der Ausdrucksfanatiker ist also die alte asketische Philosophie von der Gottgewolltheit und Erziehungskraft des Leides – nicht umsonst sehen ja manche Expressionisten in Strindberg ihren Vorläufer, nicht umsonst hat ja die katholische Kirche die „religiöse Sehnsucht in der modernen Literatur“ durch den Mund literierender Jesuiten, zum Beispiel des Pater Browe auf der Akademieversammlung zu Tübingen, wenn auch mit der Einschränkung, daß sie doch nicht gottgläubig genug sei, gerühmt – und die Grundlage ihrer mit der urchristlichen , opferwilligen ‚agape’ enger als mit modernem, pflichtbewusstem, Genossenschaftswillen verwandten, revolutionären Tendenzen ist rein spiritualistischer Natur.

So fundierter Wille zur Katharsis (Reinigung) bedeutet für den wirtschaftlichen Sozialismus buchstäblich Ketzerei! Wirklich scheint der tragende Gedankengang der Neugotiker entgegengesetzt dem der materialistischen Geschichtsauffassung zu verlaufen: erwartet diese von einer allgemeinen Hebung wirtschaftlicher Wohlfahrt auch eine automatisch folgende Hebung des geistigen und sittlichen Niveaus, so erklären jene: „Das unaufhörliche menschliche Wandern nach dem geistigen Ziel ist der einzig unumstößliche Inhalt der Geschichte.“  

In: Der Kampf. Sozialdemokratische Monatszeitschrift, 1921, S. 164-167.

David Josef Bach: Die Kunststelle der Arbeiterschaft

Als im November 1919 mit Beschluß des Parteivorstandes eine eigene Kunststelle der Bildungszentrale errichtet wurde, dachte man zunächst nur an eine bequemere organisatorische Zusammenfassung der vorhandenen Bestrebungen; ein Ausbau schien möglich und wünschenswert, aber seine Dimensionen waren nicht weniger als klar. Vorhanden war nicht allzuviel. Vor allem die Arbeiter – Symphoniekonzerte, die in Wien im Gegensatz zu allen anderen Städten Deutschlands am Beginn der proletarischen Kunstpflege stehen und daher auch der ersten Wiener Volksbühne um einige Jahre voraus sind. Die Arbeiter – Symphoniekonzerte in ihrem äußerlich bescheidenen Umfang hatten zähe auch die Schwierigkeiten der Kriegszeit überstanden. Die Volksbühne jedoch, schon vor dem Kriege fast vollständig zugrunde gerichtet, schleppte nach dem Verlust des eigenen Theaters kümmerlich ein paar hundert Mitglieder weiter. Sie kamen so wenig in Betracht, daß, als nach dem Umsturz zum erstenmal Vorstellungen in den ehemaligen Hoftheatern, nunmehr Staatstheatern, stattfanden, diese Vorstellungen unter dem Namen der Arbeiter – Symphoniekonzerte gehen mußten, weil diese die einzige Organisation waren, die tatsächlich ganz Wien umfaßte. Mit der Gründung der Kunststelle war ein neues Organ geschaffen, daß auch für das Theater überhaupt für das gesamte Gebiet der Kunst dasselbe leisten sollte wie vordem die Arbeiter – Symphoniekonzerte allein. Da gab es nun die erste große Schwierigkeit. So groß nämlich das Bedürfnis der Arbeiterschaft nach guten Vorstellungen war, fast ebenso groß war nach den üblen Erfahrungen, die sie mit der ersten Volksbühne gemacht hatte, das Mißtrauen gegen den Zwang und die materielle Belastung einer neuen Volksbühne. Es mußte daher ein anderer Weg gewählt werden, der den Verhältnissen Rechnung trug, ohne das Ziel aufzugeben. Die Kunststelle ist zum Unterschied von allen ähnlichen Volksbühnenorganisationen nicht auf die einzelnen Mitglieder, sondern auf die politischen  und gewerkschaftlichen Organisationen aufgebaut. Die Kunststelle gibt die Karten nicht an den einzelnen Teilnehmer, sondern in vereinbartem Ausmaß an jede teilnehmende Organisation ab, die erst wieder den Betrieb an ihre Mitglieder übernimmt. Dadurch ist für beide Teile das Gefahrenrisiko ausgeschlossen, natürlich nur so lange, als die Kunststelle wirklich das Vertrauen der Arbeiterschaft genießt, weil davon die Höhe der Kartenbestellung durch die Organisation abhängt. Die Ausdehnung, die die Kunststelle nun tatsächlich gewonnen hat, weißt natürlich in erster Linie der Massen, dann aber wohl auch das Vertrauen der Massen zu dieser Kunstorganisation.

           Noch im Jahre 1919 stiegen wir auf durchschnittlich zwanzig Vorstellungen im Monat, im vergangenen Jahre bereits auf 39 und in den letzten zehn Monaten wurden nahezu eine halbe Million Eintrittskarten verbraucht. Noch in einer anderen Hinsicht muß die Kunststelle beweglicher sein, als es sonst Volksbühnenorganisationen zu sein pflegen. Wir haben Vorstellungen in den Theatern aller Grade und aller Arten. Diese große Bereicherung des Spielplanes, die durch ein einziges Theater allein, und wäre es das größte, niemals erzielt werden kann, bringt organisatorisch den Nachteil einer größeren Schwierigkeit bei der Kartenverteilung mit sich; ein mechanisches Gleichmaß ist vollkommen ausgeschlossen. Dazu kommt, dass die Preise der einzelnen Vorstellungen je nach dem Theater verschieden sind, ja auch die Preise der Vorstellungen in demselben Theater; jedesmal ist der Fassungsraum ein verschiedener, auch in demselben Theater wechselt die Zahl der verfügbaren Sitze, und da durchschnittlich alle zwei Monate eine Verteuerung eintritt, maß immer eine neue Umrechnung vorgenommen werden. Um nur ein Beispiel zu geben: Von 5000 Kronen, die eine Vorstellung im Burgtheater noch 1920 kostete, sind wir jetzt auf das nahezu Zwanzigfache gestiegen. Es darf dabei jedoch nicht übersehen werden, daß die Staatstheaterverwaltung selber bei diesen Arbeitervorstellungen finanzielle Opfer bringen muß. Damit allein wäre es nicht getan, denn die Einnahmen, welche die Kunststelle aus dem Kartenvertrieb erzielt, bleiben in den allermeisten Fällen hinter den Selbstkosten zurück. Dies ist der Punkt, an dem die Hilfe der Gemeinde Wien (gesperrt gedr. Im Orig.) in großzügiger Weise eingesetzt hat .

           Mußten wir noch das Jahr 1919 hindurch die Arbeiter-Symphoniekonzerte zum Beispiel ohne jede Subvention durchbringen, so wäre dies heute bei den Saal- und Orchesterpreisen schlechterdings unmöglich; es ist ausgeschlossen, die Preise so zu erhöhen, daß sich die Veranstaltung selber decke, will man nicht die Arbeiter aus den für sie bestimmten Veranstaltungen vertreiben. Die Gemeinde Wien widmet seit 1919  6 Prozent des Ertrages der Lustbarkeitssteuer der Unterstützung künstlerischer Veranstaltungen „für Arbeiter, Angestellte und Schüler“. Diese Unterstützung allein ermöglicht es, Arbeitervorstellungen und Arbeiter-Symphoniekonzerte aufrecht zu erhalten. Allerdings, die Grenze nach oben ist bereits erreicht und ob sie nicht überschritten wird, wenn eine neue, heute schon unausweichliche Verteuerung eintritt, werden schon die nächsten Wochen lehren. Von dem Kampf, den die Bühnenangestellten um ihre Existenzmöglichkeit führen müssen, werden auch die Arbeitervorstellungen berührt. Es hat schon im vergangenen Jahre nicht an Versuchen gefehlt, die Arbeitervorstellungen gegen die geistigen und manuellen Arbeiter des Bühnenbetriebes auszuspielen, selbstverständlich ohne Erfolg. Auf der anderen Seite ist es ebenso unmöglich, auf dem Umweg über die Subvention unsere Veranstaltungen zu einer größeren Beitragsleistung für die Theaterunternehmungen heranzuziehen. Theaterdirektoren schenken uns nichts; sie sind schließlich auch nicht dazu berufen. Eine nüchterne Betrachtung der Tatsachen lehrt, daß die Arbeitervorstellungen ein sehr großer wirtschaftlicher Faktor für die Wiener Theaterbetriebe geworden sind, ja daß einzelne Betriebe ohne diese Vorstellungen gar nicht aufrecht erhalten werden könnten.

          Aber noch mehr. Mit der Organisierung der Arbeitermassen als Theaterkonsumenten ist die Aufgabe einer proletarischen Kunststelle keineswegs erfüllt. Wenn wir die ursprünglich guten Instinkte eines neuen Theaterpublikums entwickeln, wenn wir es ohne Zwang, nur durch das Beispiel, durch Selbsterziehung, dahin bringen, nur Gutes und Wertvolles zu verlangen, so veredeln wir damit auch das Theater. Heute stehen die Dinge so, dass selbst die größten und reichsten Bühnen wirklich wertvolle Stücke nicht aufführen können, ohne sich vorher der Hilfe der Kunststelle zu versichern. Niemals wäre das deutsche Volkstheater an eine Neuinszenierung des „Don Karlos“ geschritten, niemals an die Aufführung von „Dantons Tod“, niemals wäre „Gas“ aufgeführt worden, wenn nicht die Kunststelle von vornherein eine Anzahl Aufführungen erworben hätte. Die Beispiele lassen sich leicht vermehren, auch für andere Bühnen. Es gereicht den Direktionen zur Ehre, daß sie diese Hilfe benützen, um auch ihr künstlerisches Programm durchführen zu können. Diese Hilfe zu gewähren ist nicht immer ganz leicht. Denn die Kunststelle kann den Bühnen weder den Dramaturgen noch den verantwortlichen Oberregisseur ersetzen, sie kann aber auch nicht zugeben, daß die literarischen Versuche der Wiener Theater ausschließlich auf Kosten der Arbeiterschaft unternommen werden. Daß es kein Literaturcafé gibt, welches jetzt nicht sogenannte, „revolutionäre“ Stücke liefern würde, oder Dramen, die an die „Zukunft“ appellieren, versteht sich. Doch die Arbeiterschaft braucht nicht ein „Theater der Intellektuellen“, das heißt in Wahrheit ein Theater des papierenen, totgeborenen Geistes, sondern sie braucht das Theater des Volkes, des Volksganzen, zu dem alle lebendige und lebensfähige Kunst gehört.

Bezeichnend genug können in Wien auch Volksstücke und wirklich lustige Possen nicht aufgeführt werden, wenn nicht die Arbeitermassen dafür eintreten. Wir haben A n z e n –

g r u b e r vor dem Verschwinden aus den Spielplänen gerettet, wir werden ähnliches bald für

N e s t r o y leisten müssen. Während das Amüsierbedürfnis der Zahlungsfähigen dem „Schwan“ von Molnar nachläuft, hat die Arbeiterschaft allein sechzehn Aufführungen seiner besten Dichtung „Liliom“ ermöglicht. Ein redlicher Künstler wie Rudolf H a w e l hätte es mit seinem Volksstück „Der reiche Aehnl“ nicht über zwei Aufführungen gebracht, wenn nicht die Kunststelle eingegriffen hätte; jedes Mal hat jubelnder Beifall dem Volksdichter gedankt. Und wie war es den mit Raimund? Als Karl E t l i n g e r, den jetzt Berlin als Schauspieler und Regisseur festhält, die „gefesselte Fantasie“ bearbeitet und neu einstudiert hatte, fand sich hierfür überhaupt kein Theaterdirektor: erst als sich die Kunststelle von vornherein verpflichtete, wagte es ein Theater. In Berlin hat jetzt das Staatstheater die „gefesselte Fantasie“ in der selben Bearbeitung, mit dem selben Etlinger als eine Art Sensation herausgebracht, bei uns in Wien hatten wir die Sensation von achtzehn Aufführungen ausschließlich vor Arbeiterpublikum. Noch ein besonders bezeichnendes Beispiels verdient Erwähnung: die „Troerinnen“ des Euripides, eine der besten Aufführungen des Burgtheaters, waren schon abgesetzt, da wagte es die Kunststelle mit vier Aufführungen, und der tiefe Eindruck, den die Dichtung auf proletarische Hörer machte, gab ihr Recht. Natürlich war es ein Wagnis und wir müssen oft genug wagen. Richtung und Haltung gibt die Ueberzeugung, daß a l l e Kunst, insofern sie überhaupt Kunst ist, revolutionär ist und revolutionär wirkt. In Deutschland, wo es Volksbühnen der verschiedensten politischen und religiösen Parteien gibt, wird lebhaft die Frage erörtert, ob und in wieweit Kunstwerke herangezogen werden dürfen, die nicht unmittelbar dem begrenzten Fühlen und Wollen eines bestimmten Kreises entsprechen. Aber ist nicht diese Fragestellung an sich irreführend, falsch? Grundsätzlich müssen wir daran festhalten, jede Kunst, die ihren Namen verdient, dem Volk zu erschließen. Die taktischen Probleme, die sich bei der Durchführung ergeben, sind nicht Fragen der p o l i t i s c h e n Opportunität, oder nur in einem sehr geringen Grade, sondern der künstlerischen und kunsterzieherischen. Auch hier sind Wagnisse, ja Irrtümer und Fehler unvermeidlich, doch vor lauter Schwierigkeiten und der Furcht davor darf uns nicht der Weg verloren gehen, den die Arbeiterklasse, der Erbe der Zukunft, zuschreiten bestimmt ist.

           Die Frage  der Durchführung hat die Kunststelle auch einen Versuch unternehmen lassen, der für die Volksbühnen, zumindest die proletarischen, etwas Neues darstellt. Das im Wesentlichen schon längst bekannte Prinzip der Wanderbühnen nämlich ist hier eigenartig ausgestaltet worden. Wenn man die Arbeiter aus diesem oder jenem Grund nicht zur Kunst bringen kann, so muß man die Kunst zur Arbeiterschaft bringen. Dies gilt nicht bloß für die Provinz, sondern auch für Wien selbst, wo in den Randbezirken Zehntausende von Proletariern wohnen, die Scheu, auch Bequemlichkeit, von dem Besuch der großen zentralen Bildungs- und Kunststätten abschreckt. Aber wie wir mit politischen und gewerkschaftlichen Vorträgen überallhin dringen müssen, so auch mit der Kunst. Also spielt die Kunststelle in Floridsdorf, in Leopoldau, in Simmering, in Breitensee u.s.w. überall, wo es nur ein halbwegs brauchbares Podium gibt. Wir haben in B e t r i e b s k ü c h e n Wiener Abende veranstaltet, die hellen Jubel weckten und sofort wiederholt werden mußten. Aber wir spielen auch  T h e a t e r, und zwar mit unserer eigenen V e r s u c h s b ü h n e, die von der offiziellen Wanderbühne des Unterrichtsamtes und ähnlichen Veranstaltungen wohl zu unterscheiden ist. Denn wir können uns bei der „Neutralität“ der Kunst nicht gänzlich bescheiden. Es gibt künstlerisch durchaus wertvolle und jedenfalls künstlerisch zu rechtfertigende Stücke, ernste und heitere, ja auch Lieder, Couplets, Soloszenen und dergleichen, die ihre revolutionäre sozialistische Gesinnung ganz unbekümmert ausdrücklich aussprechen. Sie könnten niemals aufgeführt werden, böte die Versuchsbühne nicht Möglichkeit dazu. Sie ist eine richtige s o z i a l i s t i s c h e Bühne, die jungen, unbekannten Autoren, jungen noch unerprobten Schauspielern und einem noch jungen, weil noch unverkünstelten Publikum dient. Sie erfüllt damit eine der Aufgaben, die uns auf dem Gebiet der Kunst und der Kunsterziehung gestellt sind, und gerade sie macht besonders klar, daß auch dieses Gebiet nicht für sich allein existiert, sondern das alles miteinander in einen Zusammenhang gehört, in dem Befreiungskampf des Proletariats überhaupt.

In: Arbeiter-Zeitung, 30. Oktober 1921, S. 7.

Neon  [= Robert Ehrenzweig]: Agitationstheater

             Dem Bürgertum stehen in seinem Kampf um die geistige Beherrschung der Massen zwei wichtige Bundesgenossen zur Seite: die reaktionäre Kunst und der reaktionäre Kitsch. Es sind gefährliche Feinde des sich befreienden Proletariats: die Kunst, weil sie über jede Kritik erhaben zu sein scheint, der Kitsch, weil er unter jeder Kritik ist. Die Kunst, weil man die Bindung an die bürgerliche Klasse nicht erkannt, deren Ausdruck sie ist, der Kitsch erkennt, die durch ihn vollzogen wird. Reaktionäre Kunst und Kitsch des Bürgertums beeinflussen das Gefühlsleben der Massen und ihre geistige Stellungnahme. Sie nehmen Besitz von ihren Nerven, betäuben ihr Denken, verfälschen ihre Instinkte, wirken auf Lachmuskeln und Tränendrüsen – im Dienste der Bourgeoisie. Es sind hinterhältige Feinde: sie verstehen es, sich in proletarische Veranstaltungen einzuschleichen, machen sich als verlogene, reaktionäre Filme breit, als Revuen und Operette, die den Militarismus, die k. k. „gute alte Zeit“ und überhaupt die ganze bürgerliche Gesellschaftsordnung verherrlichen.

             Das erste Gebot bei der Veranstaltung proletarischer Feier ist: nur politisch einwandfreie Werke dürfen geboten werden. Es darf nicht zugelassen werden, daß der Proletariat, der den schweren Kampf gegen die wirtschaftliche und politische Ausbeutung führt, in seinem Vergnügen der geistigen Ausbeutung durch das Bürgertum bedenkenlos ausgeliefert wird. Es gibt eine nicht unbedeutende Anzahl bürgerlicher Kunstwerke, die revolutionären, zumindest politisch neutralen Inhaltes und dem Empfindungsleben des Proletariers nahe sind. Diese gehören in das Programm proletarischer Veranstaltungen – wohlgemerkt, nur dann, wenn sie nicht zu schwierig sind. Sind sie jedoch nicht allgemein verständlich, so muß sogar vor ihrer Aufnahme gewarnt werden; nicht erfaßt, würden sie das proletarische Publikum nur langweilen und abschrecken und erst recht zu reaktionären Kitsch drängen.

             Die Zahl sozialistischer Kunstwerke ist leider noch gering und ein nicht unbeträchtlicher Teil derselben ist der Gefühlswelt des Proletariats fremd. Wie soll nun das Programm proletarischer Veranstaltungen bestritten werden, wenn die geeigneten Werke bürgerlicher und sozialistischer Künstler nicht ausreichen?

             Das Agitationstheater ist ein Versuch, dieses Problem wenigstens teilweise zu lösen. Welche unerschöpfliche Möglichkeiten gibt es, die Bühne unserem großen Kampf einzuordnen: Wirrwarr und Folgerichtigkeit der Wirklichkeit im Rampenlicht vorüberziehen zu lassen, Kontraste des Lebens mit photographischer Treue wiederzugeben, zu übersteigern, zu karikieren, alle die Erbärmlichkeiten und Niederträchtigkeiten der Gesellschaft, in die hineingeborenen zu sein wir die Ehre haben, in dem Gelächter der Satire auflösen! Welche Aufgabe, den Mut und den Kampfeswillen der Genossen zu stärken, die Schwankenden mitzureißen, die Uninteressierten zu gewinnen! Was geht denn den Proletarier die Erbschaft an, die dem schönen Leutnant Harry allabendlich nach dem Tode seines Olmützer Onkels die Hand der blonden Mia und damit der Revue das erwartete glückliche Ende bringt? Das Denken, die Probleme des Arbeiters gehören in das Theater, das der Arbeiter besucht! Es ist menschlich verständlich, daß  der Proletarier sich nach der bunten Fabelwelt der bürgerlichen Revue sehnt, in der die drückende Last des Alltags sich löst im leichten Dahinschweben schöner Frauen, im Feuerwerk der Erotik, in der die Träume Seifenblasen sind, die schimmern und nicht zerplatzen, in der allen Wünschen goldene Erfüllung winkt, in der die nackten Beine der Girls die Tretmühle des Lebens vergessen machen und das häßliche Gestern und das häßliche Morgen versinken – weil sich am Schlusse alles glücklich findet. Es ist eine Welt der rosigen Klassenharmonie, der gutmütigen Menschen, über den Kulissen schwebt Versöhnung und im Wortschatz der Revue kommt das Wort „Ausbeutung“ nicht vor. Und das ist die Gefahr der bürgerlichen Revue und Operette (denn sie sollen hier keiner ästhetischen, sondern einer politischen Kritik unterzogen werden): sie täuscht über Klassengegensätze hinweg, schläfert das Klassenbewußtsein ein und wird so, bewußt oder unbewußt, Machtinstrument des Bürgertums, Mittel zur Festigung der bürgerlichen Ideologie.

             Das Leben des Proletariers, die Ideenwelt des Sozialismus – reich genug sind sie an Problemen, Tragödien und Freuden, an Sehnsüchten und Enttäuschungen und starkem Willen, daß daraus dramatischer Stoff in Überfluß geschöpft werden kann. So kann die Bühne dem Proletariat erobert werden, kann Waffe in der Hand des Arbeiters sein, mit Pathos und Satire ihre Macht auf die Geister ausüben. Das Agitationstheater ist nicht gezwungen, Illusionen aus dem Nichts zu zaubern, es wirkt durch die Unmittelbarkeit des Bühnengeschehens, durch die Stoffnähe und die Einheit der Gesinnung, die Spieler und Publikum verbinden, aufpeitschen, bis zur Ekstase erregen, daß die Grenzen zwischen Bühne und Zuschauerraum schwinden, daß Spiel und Wirklichkeit eines werden und die Seelen zusammenschlagen in den Flammen des Erlebnisses. So rissen die großen Spiele der französischen Revolution die Massen mit, so entflammte das revolutionäre Theater Meyerholds das russische Proletariat, so wirken die „Politischen Kabaretts“ und politischen Wanderbühnen in Rußland, Deutschland, Österreich. Da muß nicht viel gedichtet werden; die Weltgeschichte selbst ist Autor, eine Zeitung wird im Handumdrehen zum Politischen Kabarett, das Tagesereignis zur Stehgreifszene und Dilettanten reißen das Publikum zu unerhörtem Gelächter und zu tobender Begeisterung mit. Und wie das Agitationstheater seinen Stoff der Weltgeschichte entnimmt, so greift es selbst in die Weltgeschichte ein: in kleinem gestaltend, ist es ein Teil der größten Geistesbewegung, Dienerin der größten Idee der Menschheit, des Sozialismus.

             Ob das „Kunst“ ist? Das Agitationstheater will nicht ästhetisch gewertet werden. Es will nicht Kunst sein! Es will Leben sein, Teil des Lebens des Proletariats, Waffe in seinem Befreiungskampf.

In: Sozialistische Veranstaltungsgruppe (Hg.): Das Politische Kabarett, Wien 1929, S. 2-4.

N.N. [Leitartikel]: Austromarxismus.

„Austromarxismus.“ Das ist seit einiger Zeit ein Lieblingsschlagwort im bürgerlichen Sprachgebrauch. „Austromarxismus“ – das ist in ihrem Munde so eine ganz besonders bösartige Spielart des Sozialismus. Und ob der „Austromarxismus“ auf dem Parteitag endgültig begraben worden ist oder auf allen Linien gesiegt hat, darüber kann man in der bürgerlichen Presse jetzt die allermannigfaltigsten und aller allepossierlichsten Ansichten lesen. Wäre es nicht doch an der Zeit, einmal den Herren, die von Geschichte und Wesen des Sozialismus nichts, aber schon gar nichts wissen, zu erzählen, was denn das eigentlich war und ist: der Austromarxismus?

Wir haben das Wort ein paar Jahre vor dem Krieg zum erstenmal aus dem Munde eines amerikanischen Sozialisten, L. Boudins, gehört; es hat sich dann ziemlich schnell eingebürgert. Als „Austromarxisten“ bezeichnete man damals eine Gruppe jüngerer, wissenschaftlich tätiger österreichischer Genossen: Max Adler, Karl Renner, Rudolf Hilferding, Gustav Eckstein, Otto Bauer, Friedrich Adler waren die bekanntesten unter ihnen. Was sie vereinte, war nicht etwa eine besondere politische Richtung, sondern die Besonderheit ihrer wissenschaftlichen Arbeit. Sie waren alle herangewachsen in einer Zeit, in der Männer wie Stammler, Windelbrand, Rickert den Marxismus mit philosophischen Argumenten bekämpften; so hatten diese Genossen das Bedürfnis, sich mit den modernen philosophischen Strömungen auseinanderzusetzen. Waren Marx und Engels von Hegel, die späteren Marxisten vom Materialismus ausgegangen, so sind die jüngeren „Austromarxisten“ teils von Kant, teils von Mach her gekommen. Anderseits haben sich diese jüngeren „Austromarxisten“ an österreichischen Hochschulen mit der sogenannten österreichischen Schule der Nationalökonomie auseinandersetzen müssen; auch diese Auseinandersetzung hat die Methode und Struktur ihres Denkens beeinflußt. Und schließlich haben sie alle im alten, von den Nationalitätenkämpfen erschütterten Österreich es lernen müssen, die marxistische Geschichtsauffassung auf komplizierte, aller oberflächlichen, schematischen Anwendung der Marxschen Methode spottenden Erscheinungen anzuwenden. So entwickelte sich hier eine engere Geistesgemeinschaft innerhalb der Marxschen Schule, die man eben, um sich einerseits von der älteren, vor allem durch Kautsky, Mehring, Cunow vertretenen Marxistengeneration, anderseits von den gleichaltrigen Marxistenschulen der anderen Länder, der russischen vor allem und der holländischen, die sich beide unter wesentlich andern geistigen Einflüssen entwickelten, zu unterscheiden, die „Austromarxisten“ genannt hat. Man muß sich dieses Ursprungs des Begriffs des Austromarxismus erinnern, um die ganze Komik zu begreifen, die darin liegt, wenn jeder Berglhuber jetzt den Austromarxismus vernichtet.

Krieg und Revolution haben freilich die „austromarxistische“ Schule aufgelöst: in den Diskussionen der Kriegs- und Nachkriegszeit standen die Männer, die dieser Schule angehört hatten, innerhalb des internationalen Sozialismus in verschiedenen, oft entgegengesetzten Lagern. Das Wort „Austromarxismus“ bekam infolgedessen eine andre Bedeutung. Unsere Gegner gewöhnten sich ganz einfach, die österreichischen Sozialdemokraten „Austromarxisten“ zu schimpfen. Das war natürlich Unfug, der Unfug von Unwissenden, die eine politische Partei mit einer wissenschaftlichen Richtung verwechseln. Aber gerade die Hetze unserer Gegner gegen den „Austromarxismus“ hat das Wort manchen unserer Genossen lieb gemacht; so haben sich denn manche unserer jüngeren Genossen gewöhnt, das Wort Austromarxismus zu verwenden zur Bezeichnung jener theoretischen Auffassungen der großen Streitfragen des internationalen Sozialismus der Nachkriegszeit, die sich in der österreichischen Sozialdemokratie nach dem Kriege allmählich entwickelt und in dem Linzer Programm ihre Zusammenfassung, ihre Formulierung gefunden haben. Worin besteht, wenn man // das Wort in diesem Sinne gebraucht, die Besonderheit des „Austromarxismus“?

Der österreichischen Sozialdemokratie ist es gelungen, in all den Stürmen der Nachkriegszeit ihre Einheit zu bewahren, während die Arbeiterparteien der meisten andern Länder gespalten worden sind. Daß uns das gelungen ist, verdanken wir der Gunst besonderer Umstände. Die besondere Ohnmacht Oesterreichs, die besondere Abhängigkeit unserer Volkswirtschaft vom Ausland haben es den österreichischen Arbeitern in der Sturmzeit der Revolution besonders anschaulich gemacht, daß der Versuch einer Diktatur hierzulande nur mit einer Katastrophe enden könnte. Und die furchtbare Erfahrung Ungarns hat den österreichischen Arbeitern gezeigt, in welche Katastrophe der Kommunismus auch sie hineingezerrt hätte. Aber haben vor allem die wirtschaftlichen Tatsachen und die Lehren der Geschichte die österreichische Arbeiterschaft gegen die kommunistischen Spaltungsversuche immunisiert, so hat zur Abwehr des Kommunismus auch die geistige Erbschaft unserer Partei wesentlich beigetragen. Viktor Adler, der in den achtziger Jahren die Radikalen und die Gemäßigten zusammengeführt hat zu einer Partei, Viktor Adler, der zwei Jahrzehnte lang mitten im Toben der nationalen Kämpfe deutsche und tschechische, polnische und ukrainische, slowenische und italienische Sozialdemokraten zusammenzuhalten verstand in einer Gesamtpartei, er hat uns den Willen, ja den Fanatismus der Einheit, er hat uns die große Kunst überliefert, die verschiedensten Schichten der Arbeiterklasse doch in lebendiger Einheit zu erhalten. Und diese Einheit bestimmt nun die geistige Besonderheit unserer Partei innerhalb der Internationale.

Otto Bauer hat es auf dem Parteitag formuliert: Wo die Arbeiterschaft gespalten ist, dort verkörpert die eine Arbeiterpartei die nüchterne Realpolitik des Tages, die andere den revolutionären Willen zum letzten Ziel. Nur wo die Spaltung vermieden wird, nur dort bleiben nüchterne Realpolitik und revolutionärer Enthusiasmus in einem Geist vereinigt. Die Synthese beider – das ist das Linzer Programm, das ist, wenn man es so nennen will, der „Austromarxismus“. Er ist das Produkt der Einheit: denn daß sich die Arbeiter nicht haben spalten lassen, das allein erklärt die geistige Besonderheit unserer Partei gegenüber den sozialdemokratischen Parteien andrer Länder. Und er ist zugleich die geistige Kraft, die die Einheit erhält: denn daß wir hier die Fähigkeit realistischer Anpassung jedes Tageskampfes an die Besonderheiten des Ortes und der Stunde mit der festen Ausrichtung aller Teilkämpfe auf das große Ziel der Machteroberung der Arbeiterklasse und damit auf das begeisternde Ziel des Sozialismus zu vereinigen vermochten, diese Synthese des realistischen Sinnes der Arbeiterbewegung mit dem idealistischen Schwung des Sozialismus schützt uns vor der Spaltung. Produkt der Einheit und Kraft der Erhaltung der Einheit, ist der „Austromarxismus“ von heute nichts andres als die Ideologie der Einheit der Arbeiterbewegung!

Das fühlen unsere Gegner instinktiv. Und darum sind sie wütend. Oh, wie gern sie es doch hätten, wenn auch hierzulande sich die Arbeiter durch Spaltung schwächten! Am liebsten möchten die Bourgeois hier die Kommunisten subventionieren! Aber das fühlen auch die Arbeiter: die Einheit, die Einheit zu erhalten, das ist das Wichtigste! Und darum hat der Parteitag1 wahrhaftig mit dem Austromarxismus nicht gebrochen. Koalition? Abrüstung? Das sind am Ende taktische Fragen. Der Parteitag hat festgestellt, daß heute zu beidem die Voraussetzungen fehlen. Er hat aber der Zukunft nicht vorgegriffen: hat es nicht abgelehnt, diese Fragen von neuem zu prüfen, wenn unsere Gegner eine neue Situation schaffen sollten. Aber all das sind taktische Einzelfragen, Fragen der Zweckmäßigkeit, die man beantworten mag nach der Notwendigkeit der jeweiligen Stunde. All das rührt nicht an das Wesen. An das Wesen wird aber nicht gerührt! Daß wir alle jederzeit eine Politik machen müssen, die  alle Schichten der Arbeiterklasse zusammenhält; daß wir die Einheit, das höchste Gut, nur erhalten können, wenn wir mit dem nüchternen Realismus den revolutionären Enthusiasmus zu paaren wissen – das ist mehr als Taktik, das ist das Prinzip des Klassenkampfes, das Prinzip von Linz, das Prinzip des Austromarxismus. Wer die Beifallsstürme gehört hat, mi denen der Parteitag, der ganze Parteitag, die Notwendigkeiten der Einheit über alle taktischen Sondererfordernisse gestellt hat, der weiß: die Ideologie der Einheit, das geistige Band, das uns alle vereint, das bleibt unverrückbar, unzerreißbar!

In: Arbeiter-Zeitung, 3.11.1927, S. 1-2.

  1. 29.- 30. 10. In Wien (Arbeiterheim Favoriten) vgl.: AZ, 30.10.1927, S.1-9 : http://anno.onb.ac.at/cgi-content/anno?aid=aze&datum=19271030&seite=1&zoom=33