Ea von Allesch: Bücher, von denen man spricht

Ea von Allesch: Bücher, von denen man spricht (1919)

Arthur Schnitzler: Casanovas Heimfahrt – Karl H. Strobl: Seide Borowitz.

Arthur Schnitzler: „Casanovas Heimkehr“. Novelle. (Verlag S. Fischer, Berlin.) Den Widerschein eines Sonnenunterganges legt diese Erzählung über das Bild des berühmten Abenteurers, in dem sich die Vorzüge und Fehler seines Jahrhunderts in seltener Mischung vereint haben. Aber nicht weichlich verklärend oder resigniert abschließend ist diese Geschichte vorgetragen, sondern es ist noch immer der alte, wohlbekannte Casanova, aus dessen Hirn und Herz nimmermüde Flammen schlagen.

Nur Anwandlungen von Schwäche sind es, die sich bemerkbar machen, eine kleine geistige Unsicherheit, eine Ermüdung, die aber, es ist kein Zweifel, den Weg ins Dunkel des Alters einleiten. Wir sind nicht Zeugen eines Rechenschaftsberichtes, einer Einkehr, oder was man sonst aus dem Titel erwarten möchte, sondern Zuseher eines Abenteuers, das nicht einmal das letzte ist, das aber doch durch seine leise innere Zermürbtheit eine symbolische Bedeutung und durch die hohe Abgeklärtheit des Vortrages den Glanz eines wahrhaften Schlußkapitels besitzt.

Ganz unpersönlich und doch so überaus deutlich wie im Erlöschen des Tages oft die Menschen werden, die an einem vorüberschreiten, ist diese Figur gezeichnet mit ihrem Netz von Zeit- und Ortsbesonderheiten, in das sie eingewoben ist. Die optischen Eindrücke, die empfangen werden, erregen nicht nur Vorstellungen, sondern ziehen den Leser in einen Suggestionskreis, der ihn bis zum Schluß nicht losläßt. Das Ganze wirkt traumhaft in seiner reichen Bildhaftigkeit und Verdämmerung und bleibt auch als Gelesenes wie ein Geträumtes im Gedächtnis. Die Täuschung, durch die Casanova an Stelle des Liebhabers zur Geliebten gelangt, ist innerlich und äußerlich in großen Linien untermauert, ohne daß sich plötzlich der Zuschauer gewaltsam an die Dinge herangeschoben fühlen würde, um nun Einzelheiten zu erfassen; und selbst wo die Erzählung jäh aufflammt, wie im Todeskampf der beiden nackten Männer auf der Wiese, tritt sie doch nicht aus den Bahnen ihres Stils. Es ist die klare Reife eines Dichters, die das spricht.

Karl Hans Strobl: „Seide Borowitz“. (Verlag L. Staackmann, Leipzig.) Es gibt Leute, und nicht nur gute Bürger, sondern auch Literaturkritiker, die verlangen, daß ein Kunstwerk in gewissem Sinn belehrend sei. Sie wollen durch die Kunst nicht nur ergriffen, sondern auch in ihren Weltkenntnissen erweitert werden, sie wollen Einblicke in bisher unbekannte Bezirke menschlichen Geister gewinnen, sie wollen ihre Erfahrung vom Weltbild in den Gehirnen der Menschen mehren.

Diesem weitverbreiteten Wunsch verdanken viele literarische Werke, die eine sogenannte Milieuschilderung enthalten, ihren Erfolg. Es ist eine Produktionstype entstanden, und der Roman Seide Borowitz fällt auch darunter.

Eine jüdische Geschichte, jüdische Personen, rein jüdische Lebensumstände. Aber – leider – nicht von einem Juden oder einem, der es sein möchte, erzählt. Wir erfahren nur, was der intellektuelle Großstadteuropäer aus einem kleinen galizischen Ghetto reportern und was Begabung und offensichtliche Kenntnis jüdischer Mystik daraus machen kann. Das ist ja recht viel. Doch möchten wir gern ein bißchen hinabgeleuchtet haben, möchten die inneren Krämpfe und Jenseitsperspektiven des armen, krötenhaft scheußlichen Seide Borowitz kennenlernen. Es schiene uns ein inadäquater Aufwand, daß sich seine Ges[ch]ichte[n], die ihm unter schweren Krisen zuteil werden, nur auf Wuchergelder in alten Hosen, auf Haupttrefferlose und bestenfalls auf den Tod der brünstig Geliebten beziehen sollen. Wir möchten ein wenig mit Borowitzischen Augen sehen dürfen, und wir setzen voraus, daß es ganz besondere Augen sind. Darauf käme es an.

Dann würde uns auch die innere Unmöglichkeit der Verwechslungsszene nicht stören. Seide nutzt nämlich die Nacht, in der ein junges Judenmädchen seinen Bräutigam heimlich erwartet, in schmählicher Weise für sich aus. Aber da von ihm wiederholt erzählt wird, wie übelriechend sein Atem und seine Füße sind, und daß er eine riesige Geschwulst im Nacken – dieser sicher vertrauten Taststelle Liebender – mit sich herumtrage, was müßte da Gitl für ein stumpfsinniges Wesen sein, wenn sie nichts merken würde. Eine solche Verwechslung darf nicht zum Angelpunkt einer naturalistischen Geschichte werden. Das Buch des bekannten Autors ist selbstverständlich trotzdem sehr interessant, wie es nach seinen erfolgreichen Büchern ja nicht anders zu erwarten war.

In: Moderne Welt, H.4/1919, S. 39.