Alfred Polgar: Synkope

Alfred Polgar: Synkope (1924)

             Der Mann, der hinter dem Schlagwerk der Jazzband sitzt, hält es durchaus mit den Schwächeren. Ein Freund der geringen, der unbetonten Taktteile ist er. Er tut für seine Schützlinge, war er nur kann, klopft sie in den Vordergrund, rettet sie, mit markigen Schlägen den Rhythmus teilend, wenn sie in diesem untergehen wollen. Etwas Justamentiges, Revolutionäres ist in seinem Getrommel. Gegen den Strich trommelt er.

             Seinem Schlagwerk hat es sich zum Gesetz gemacht, dem rhythmischen Gesetz nicht zu folgen, dem die brave Geige und das brave Klavier bis zum letzten Hauch von Darm- und Metallsaite gehorchen. Es tut, was es will, zigeunert durch die Zeitmaße. Wenn die anderen vier Tempi machen, macht es fünf.

             Ich kannte einen Jazzbandspieler, der schlug auf das gespannte Fell sieben Synkopen in den Viervierteltakt und verrührte sie drin mit Hilfe der kleineren Trommel , wie man ein Ei in der Suppe verrührt. Er hatte einen Hornbrille, sprach das reinste Südamerikanisch, warf die Schlegel in die Luft und klopfte indes, ihr Herabkommen lässig erwartend, seinen Part mit den Füßen. Die Instrumente genügten seinem Klangbedürfnis nicht. Er klopfte mit beiden Stäben auf den Klavierrücken, auf den Fußboden, auf den eigenen Kopf, auf das Weinglas; alles ward Trommel, Schallgelegenheit. Er stäubte unregelmäßiges Geräusch von sich wie ein Hund, der eben aus dem Wasser kommt, Tropfen. Er schneuzte sich in Synkopen. So entlud er sich, ein Glücklicher, aller Unzufriedenheit, die in ihm war, und förderte doch, ein Musikant, durch seinen Widerspruch, die Harmonie, der er diente, dienen mußte.

             Die Synkope ist Salz und Würze der zeitgerechten Tanzmusik. Und nicht nur der Tanzmusik. Die Synkope ist ein Symbol unserer widerspenstigen Tage, das Symbol einer aus dem Takt geratenen Welt, die doch nicht aufhören mag und kann, in Brudersphären Wettgesang zu tönen.

             Es macht sich allenthalben lebhafte Bewegung zugunsten der unbetonten Taktteile merkbar. Die Akzente verschieben sich, wackeln, stürzen.

             Die kleinen Leute haben auch schon was mitzureden. Sie behaupten obstinat, daß sie da sind.

             Der Rhythmus, nach dem die Himmelskörper kreisen, ist nicht so unverbrüchlich fixiert, wie wir dachten. Die Einstein-Synkope hat ihn auf ziemlich irritierende Weise gelockert.

             Die Wissenschaft von der Seele legt auf das vom Bewußtsein nicht Betonte den gewichtigsten Ton.

             Die Maler nehmen den Akzent vom Wesentlichen der Erscheinung fort und legen ihn auf das Un-Wesentliche.

             Die Stückeschreiber trommeln drei Stücke über einem. „Nebeneinander“ von Georg Kaiser ist das Muster eines syncopated Drama.

             Die Romanschriftsteller lassen die Kapitel ungeschrieben und schreiben das, was zwischen den Kapiteln steht.

             Die Affekte werden, unter Patronanz der Psychoanalyse, verschoben. Die Ware wird verschoben. Das Geld wird verschoben. Vom Sinn des Lebens ganz zu schweigen.

             In der Hotel-Hall sitzen die Damen und duften je nachdem. Der Akzent des Gewandes ist dort, wo es nicht ist. Der Rhythmus des Kleides wir durch die Betonung der Nacktheit angenehm inspiriert.

             Frau Goldstein spielt mit Herrn Goldstein takt-voll die Ehepièce. Der Ton aber liegt auf dem Skilehrer mit den eisblauen Augen. Ehen ohne Synkopen gar es vielleicht zur Walzerzeit.

             Die Musik der Sphären scheint sich mit einem Jazzbandspieler komplettiert zu haben. Und der Mensch muß ganz neue Schritte lernen, wenn er hiezu mit Grazie tanzen will.

In: Der Tag, 24.2.1924, S. 3.