Dr. Max Ermers: Jungrussische Kunstausstellung
Dr. Max Ermers: Jungrussische Kunstausstellung. (1924)
Seit einigen Tagen gibt es bei uns eine russische Kunstwoche. Ein Ereignis, das uns zwingen sollte, aufzuhorchen. Und während um die de jure-Anerkennung der Sowjetregierung bei uns noch lebhaft gefeilscht wurde, hielt die neue Kunst Rußlands bereits ihren Einzug: ein jungrussischer Autorenabend, ein russischer Musikabend, eine russische Kunstausstellung. Ein Vortrag Fannina Halles, einer der Wortführerinnen der nachrevolutionären Moskauer Kunst. Heute werden wir sogar Wassilji Kandinsky, derzeit Professor am Weimarer Bauhaus, sehen und sprechen hören (im Österreichischen Museum). Soweit es sich also um die Niederreißung geistiger Blockademauern handelt und um die Möglichkeit, den Horizont nach Osten zu erweitern, haben wir alle Ursache, der Initiatorin, der Gesellschaft zur Förderung moderner Kunst in Österreich, zu danken.
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Wir betreten die Säle der Ausstellung (1. Bez., Grünangergasse 1). Hochgespannt und voll Erwartung. Manifeste rauschen uns entgegen. Gemalte, gegossene, gezeichnete, gedruckte Manifeste. Jedes erzählt uns vom Tod der alten Kunst, der Barschui-Kunst. Die Sowjetkunst beginnt. In Kandinsky hat sie eigentlich vor dem Kriege schon begonnen. Die Welt der Gegenstände war eine bürgerliche Angelegenheit. Menschen, Bäume, Tiere, Berge und atmosphäre Objekte der absterbenden Bourgeoiskunst. Nur Farbflecke, einfach geformte oder sonderbar gestaltete, oder Linien, steife und geschwungene, haben Daseinswert im Bilde. Alles natürlich in Proportion, Relation und sogenannte Harmonie gebracht. Voll von Rapports, die man bei Cézanne bezog. Ideenassoziationen, die an Farben und Formen anknüpfen, halfen mit, eine neue Gefühlsatmosphäre im Beschauer zu schaffen, zu ermöglichen, zumindest vorzubereitcn. Kandinsky schrieb damals sein berühmtes Buch vom Geistigen in der Kunst.
Neben mir steht vor einer Komposition Nr. X Kandinskys ein junger Maler und meint: „Ja, so fühle ich es selbst manchmal, wenn ich am Diwan liege und in die Physiologie meines Leibes hineinschaue. Man braucht dann nur die Hand auf der Leinwand laufen zu lassen und die Bilder entstehen von selbst. Physiologische Explosionen.“ — „Ich kann es nicht so sehen.“ Meint ein anderer, „ich sehe ganz deutlich Reminiszenzen von Feldern aus dem Gemälde, den gelben Mond und Bruchstücke grüner Bäume. Es ist eine Landschaft“ — „Sie können es auch so betrachten,“ meint eine hochgewachsene Dame, die eben aus Rußland zurückgekehrt ist, „ich aber sehe in dem Bild — jenseits von allen Bruchstücken und Resten der Gegenständlichkeit— die Stimmung eines Winternachmittags bei Twer, knapp nach Sonnenuntergang. Man ahnt beinahe schon den jungen Frühling. Aber darauf kommt es eigentlich nicht an; das Schöne in diesen Bildern ist, daß jeder dabei denken oder fühlen kann, was er will.“ Worauf ich prompt an die alten, verwitterten, zerklüfteten Mauern Lionardos denke, deren Betrachtung er um der Anregungen der Phantasie willen seinen Schülern so angelegentlichst empfohlen hatte. Unmöglich natürlich, hier sämtliche Meinungen und Auffassungen der Adepten zu notieren, die bei den häufigen Kontroversen vor Kandinskys Bildern auftauchen. Schwärmt der eine von einer neuen Musik auf der Leinwand, so vergleicht der nächste sie mit der maurischen Ornamentik, die ja auch geometrisch — gegenstandslos ist… Die meisten Besucher aber sind so ehrlich einzugestehen, daß sie zu diesem abstrakten Chaos keinen Zugang finden.
In alledem, was dir Augen der Gläubigen in diesen zum Teil wirklich fesselnden, aber nicht mit überzeugender Kraft aufgebauten Bildern Kandinskys herauslesen, steckt natürlich ein gewisses Wahrheitsgehalt. Zu überschwenglichem Bekenntnis ist aber keinerlei Ursache vorhanden. Um höchst individuelle Angelegenheiten handelt es sich hier, halb aus dumpfen Trieben, halb aus stammelnder Wissenschaft geboren. Verwandt organisierten Geistern mag wohl das eine oder andere der vieldeutigen Werke zur Quelle eines leichten Rausches werden. Für uns sind dies Experimente, nur verständlich aus der Kampfessituation der jungen Kunst aller Länder, aus dem Ringen um eine neue, stärkere, ausdrucksvolle Sprache. Experimente, die noch nicht sehr weit geführt haben.
El Lissitzky. Wie anders mutet uns dies Zeichen an. Ein Ingenieur, kein Maler. Er zeigt zehn Szenenbilder für eine futuristische Oper von Krutschonjch, die 1913 in Petersburg aufgeführt wurde. Damals mit Musik von Matjuschin, mit Dekorationen von Malewitsch. Lissitzky wälzt den Inhalt der Oper, die Sieg über die Sonne heißt, um; macht daraus ein physikalisch-mechanisches Schautheater. Unter Ausschaltung der Menschen, an deren Stelle Figurinen und plastische Schaukörper aus blankem Kupfer, stumpffarbigem Eisen, Glas usw. treten. Ein riesiges Gerüst von Schienen, Rippen, Traversen. Ständern, allseitig sichtbar, bildet die BühneGegründet 1924 durch den umstrittenen Zeitungsunternehmer Emmerich Bekessy, erschien die Zs. ab 6.11.1924 als Wochenzei...; eine Art Scenic Railway. Verschiebbar, dehnbar, drehbar, erhöhbar. Aus dem Gerüste laufen, rollen, kriechen, gleiten, fliegen die Schaukörper, gefolgt von Lichtstrahlenkegeln, Kometen gleich. Im Mittelpunkt des Gerüstes, an der Schalterzentrale, sitzt der Schaugestalter. Dirigiert mit Tastern die mechanischen und geistigen Kräfte der Erde, d. h. ihre Realisationen in den Schaukörpern. Er drückt auf die Taster und alle Beleuchtungseffekte der Welt stehen ihm zur Verfügung. Er drückt und es brüllt der Niagarafall, es tosen die Lawinen, es dröhnen die Hammerwerke, es gellen die Bahnhofsgeräusche von ganz Europa. Zu seiner Rechten steht das Radiomegaphon, zu seiner Linken sind die Apparate, die seine Stimme in die der Figurinen wandeln. Elektrische Riesensätze zittern in die Luft und verschwinden. „Eine andere Gegebenheit soll zustande gebracht werden“, schreibt der Künstler. „Die großartigen Schauspiele der Städte, die niemand beachtet, weil jedermann selbst am Spiele ist, müssen zur Schau gebracht werden, die elementaren Vorgänge der Welt zur höchsten Steigerung. Alle Energien müssen zur Einheit organisiert, kristallisiert werden. Die Sonne als Ausdruck der alten Weltenergie wird vom Himmel herabgerissen durch den modernen Menschen, der kraft seines technischen Herrentums sich eine eigene Energiequelle schafft.“
Liest man dieses Manifest, das in seiner Sonnenemanzipation des pathologischen Einschlages nicht entbehrt, so fühlt man die Sehnsucht einer neuen Ideologie: Rußland, ein neues Zentrum der Welt. Die thaumaturgische Maschine Grundlage einer neuen Religion. Sowjetgott-Vater, der Göttlichkeit beraubt, aber mit höchster Zentralgewalt bekleidet, sitzt als Schaugestalter am Zentraltaster der Welt. Enthüllt die unerhörten Erdkräfte, die Rußland für die Menschheit freigemacht hat (freimachen möchte). Rührender und gigantischer Fiebertraum des armen Rußlands, dem Kapitalmangel bei Entfaltung seiner großen Naturkräfte so völlig die Hände bindet. Lissitzky ahnt die neue Welt der Elektrozentralen, des Broadcasting, der Allernherrschaft der Kinos und der mechanischen Schautheater… Seine Visionen sind groß und man hätte Lust, dem ungeheuren Spektakel des „Sieges über die Sonne“ beizuwohnen. Aber seine Kunstwerke sind ärmlich und schwach, wie die Kräfte des erdenschweren Muschiks, der mit dem primitiven Pflug den Boden aufreißt. Seine Szenenbilder sind Stillleben aus Maschinenteilen und geometrischen Figuren, mit fragwürdigen Fragmenten aus dem Tagesleben gespickt: Sowjetsternen. Särgen, Schachteln, Ruderleibchen. Nur hie und da blinkt ein Funke von Genialität, nein bloß von Witz und Geist durch die intellektuelle Konstruktion Ganz abstrakt, quälerisch und voll Privatallüren erscheinen seine übrigen Arbeiten. Kreise, Quadrate, Rhomben und Rechtecke suchen sich in Relation zu setzen. Proportionsstudien. Farbstudien. Experimente.
Chagall, der Elegiker des russischen Dorfes; // durch die jüdische Brille gesehen. Ganz gegenständlich, zertrümmert er wieder seine Welt der Objekte, spielt Fangball mit den Bruchstücken. Wenn Chagall einen alten Handeljuden über die Dorfkirche fliegen läßt — mit viel Erdenschwere allerdings — so fühlen wir: so heimatlos flogen die Juden vor dem Kriege in Rußland herum. Viel Urgesundes, Russisches, Derbbäuerliches steckt in seiner Farbengebung. Aber vieles mutet uns nur als Spaß an; indessen es dem Maler sicherlich sehr zu Herzen geht. Zu seinem schwermütigen, russischen Maler-, Bauern- und Judenherzen. Auf der Ausstellung kommt Chagall leider nicht voll zur Geltung. Sein graphischer Zyklus Mein Leben gibt uns schwache Ahnungen seiner Kunst.
Von Archipenko ein paar Aktskizzen und Kleinplastiken. Die Zeichnungen könnten ganz gut von irgend einem Klassiker der Genelli-Zeit stammen. Seine eigentlichen Bewegungsstudien, geistreiche kinetische Abstraktionen, fehlen. Ein weibliches Torso-Figürchen, in der Tiefenachse zusammengedrückt und abgeflacht, zeigt ein paar interessante Linien, aber nichts vom eigentlichen Wollen des Künstlers. Das Übrige repräsentiert nur gutes Mittelmaß.
Resümieren wir: Viel Experimente, die für die Entwicklung der Kunst ihre kleinen Beiträge leisten werden. Besonders in der Richtung der Musikalität und der Architektur der Bildwerke. Aber keine irgendwie überwältigend großen Resultate. Maschinenromantik und Apotheose der Technik, Überwindung aller rückwärts gewandten Romantik. Opposition gegen die Welt der Gegenstände. Viel Wollen, hinter dem das Können weit zurückbleibt. Viel Sektierergeist. Elemente einer absterbenden, individualistischen und Elemente einer neuen, sozial eingestellten Kunstatmosphäre durchdringen sich. Europäisches und Russisches. Nicht unwichtig, zu erwähnen, daß alle diese Künstler eher in Paris, Berlin und Weimar anzutreffen sind, wie in Moskau.