Hans Tietze: Die Krise der Gegenwartskunst

Hans Tietze: Die Krise der Gegenwartskunst. (1931)

Von Krisen in der Kunst ist oft die Rede gewesen. Jedesmal, wenn eine Generation ihre Leistungsfähigkeit erschöpft hatte und eine neue mit unterirdisch lang vorbereiteter Opposition hervor­trat, gab es im Faden der Kunstentwicklung einen Knoten, der sich dem nachsichtigen Blick der unmittelbar Interessierten zu einer richtigen Revolution vergrößerte; immer wenn wir nicht weiter können, glauben wir, daß die Kunst zu Ende ist. Als an der Jahrhundertwende der letzte müde Wellenschlag des Impres­sionismus verebbte, schien ein neues Kapitel anzuheben; Expres­sionismus, Kubismus, Futurismus, die die geheimsten Triebkräfte drei großer europäischer Nationen, des deutschen, französischen, italienischen Volks, in eine künstlerische Formel spannten, prokla­mierten ihr Lebensrecht; der elementare Ausbruch dreier in ihrem Grundwesen verschiedener, dennoch in ihrer Leugnung alles Vorangegangenen einmütiger Ausdrucksweisen rechtfertigte die neue Kunst als die Sprache der dem Krieg geweihten Generation.

Auf jene erschütternde Kundgebung, mit der die Kunst das angstvoll gehütete Ereignis der nahenden Katastrophe voraus­ahnend herausschrie, ist tiefe Ernüchterung vieler Einzelner und der Allgemeinheit gefolgt; jener von ungeheurer Ergriffenheit zuckende Taumel will nun als ein Feuerwerk erscheinen, in dem eine von ihren Wurzeln gerissene Kunst ihre letzten Lebenskräfte verbrannte. Als Reaktion gegen die geflissentliche Unsachlichkeit von gestern ist eine nicht minder gewollte Sachlichkeit als Aus­druck einer Ermüdung entstanden, an der Erschöpfung und schöpferische Pause in unberechenbarem Verhältnis Anteil haben. In dieser Metamorphose macht die Plötzlichkeit stutzen, mit der die Kunst aus dem Extrem der Unverständlichkeit ins Extrem der Verständlichkeit taumelt. Das Gefühl, das sie, um sich zu retten, sich preisgibt, beherrscht nicht nur die Ästheten von gestern, für die eine Kunst ohne Dunkel und Heimlichkeit immer eine banale bleibt; auch unverbrauchterer Instinkt erwartet von der Kunst, daß sie ausspreche, was die Allgemeinheit braucht und wünscht, aber selbst nicht weiß. Das Opfer künstlerischer Feinfühligkeit, das die neue Sachlichkeit gebracht hat, hat die Kunst nicht po­pulärer gemacht; es hat sich nichts geändert, als daß es eine Kunst­richtung mehr gibt.//

Damit ist aber der Kern der heutigen Krise der Kunst nicht getroffen; nicht wie diese sein soll, sondern ob sie sein kann, ist brennend geworden. Der wirtschaftliche Zusammenbruch hat alle Schleier von dem Zustand gerissen, in den sie durch ihre ausschließliche Ästhetisierung im Lauf von Jahrhunderten ge­raten war: zur Befriedigung eines ideellen und materiellen Luxus­bedürfnisses. Solange nun die Wirtschaft über Überschüsse ver­fügte, kamen diese den an sich unnötigen künstlerischen oder wissenschaftlichen Zwecken — denn die Selbstzwecklichkeit der Wissenschaft hat sich ganz parallel zum l’art pour l’art entwickelt — zugute. Was zulässiges Wohlleben gewesen war, ist dann — wie manches andere — unerlaubter Luxus geworden; die Kunst, die als gesellschaftliches Tun von den überschüssigen Energien gespeist wird, die sich nicht im nackten Lebenskampf verbrauchen, sie stirbt ab, wenn diese Kräfte versiegen.

Wir haben hundertmal darüber gesprochen, wieso diese tief­gehende Entfremdung zwischen Kunst und Allgemeinheit ent­standen ist; wir wissen, daß die soziale Umschichtung, die außer­halb der bisherigen Tradition stehende Kreise zu Macht und Ein­fluß erhob, dabei ebenso mitgewirkt hat wie die Veränderung der Produktion aus einer handwerklichen in eine maschinelle oder das Vordringen materieller Gesinnung auf allen Gebieten. Alle diese, seit dem Ende des XVIII. Jahrhunderts ausschlaggebend gewordenen Faktoren haben mitgeholfen, aber sie sind gegenüber der Hauptursache, der Tendenz der Kunst zur Selbständigkeit und Selbstherrlichkeit, sekundär. Kunst wurde in langen Jahrhunder­ten europäischer Geschichte in engstem Zusammenhang mit dem religiösen Leben erzeugt; als Schmuck des Gotteshauses, als Be­lehrung der Gemeinde, als Bestätigung und Bekräftigung herr­schender Gläubigkeit. Daneben und später, um dem Glanz des Fürsten zu dienen, um patriotische oder humanitäre — in beiden Fällen soziale — Empfindungen zu fördern, um das Andenken bestimmter Personen festzuhalten oder um Kenntnisse zu ver­mitteln; um der Bildung, dem Schmucktrieb der Erotik zu dienen. Die dieses Bündel von Zwecken zusammenfassende Tendenz zum Ästhetischen hat sich nachmals emanzipiert. Die Kunst wurde eine selbstherrliche Weltdeutung, sie setzte ihren Ehrgeiz mehr als in die Erfüllung jener anderen Zwecke in die Lösung der im engsten Sinn des Wortes künstlerischen Probleme; sie wurde Selbstzweck und geriet dadurch immer mehr in eine glänzende und schließlich verderbliche Isolierung.

Dadurch hat die Kunst die feste äußere Bindung verloren, von der sie sonst ihre Stütze erhielt; sie war ein bürgerliches Hand­werk und ist eine Mission geworden. Der äußere Beruf des Künst­lers hat sich in eine innere Berufung umgewandelt, seit in seinem Tun nur mehr das Schöpferische galt; man hat ihn zum Hüter des der Menschheit geschenkten prometheischen Funkens gemacht// und ihm dadurch den Sparherd bürgerlichen Daseins verwehrt. Seine Ausbildung, seine Produktionsweise, seine ganze soziale Existenz ist auf ein Künstlertum zurechtgeschnitten, das verein­zelten Genies entspricht, aber den Durchschnitt zugrunde richtet; „alles oder nichts“, auf dem seine Wirksamkeit beruht, ist seine Glorie und sein Todesurteil. Denn eigentlich hat in der heutigen Auffassung der Kunst, jeder, der nicht das Höchste erreicht, seine Existenz verfehlt. Dies gilt auch im materiellen Sinn. Da der Künstler nicht für Auftraggeber arbeitet, sondern für Sammler, sich nicht an die Allgemeinheit wendet, sondern an die Kenner, eine Erfüllung außerkünstlerischer Zwecke als Prostitution emp­findet, ist seine wirtschaftliche Basis zu schmal geworden. Er hat als Abnehmer nur die verschwindende Minderzahl jener, die im Kunstwerk nichts suchen als ästhetische Befriedigung, während er dem unvergleichlich größeren Kreis jener völlig entfremdet ist, die vom Kunstwerk in der ästhetischen Form die Erfüllung ganz anderer Bedürfnisse erwarten.

Kunst ist genialer Eingebung entwachsende Schöpfung und die professionelle Ausübung bestimmter Tätigkeiten; Künstler ist der einsame Deuter der tiefsten Geheimnisse und der Hersteller von irgendwelchen Bildern, Plastiken und graphischen Blättern — wie von Abendlektüre und musikalischer Unterhaltung. In einen Begriff faßt die Armut der Sprache zusammen, was in Art und Rang von Grund aus verschieden ist. Die ästhetische Terminologie unterscheidet zwar gelegentlich zwischen „Hochkunst“ und „Niederkunst“, aber diese Scheidung ist zu schwach, im Sprach- und Denkgebrauch verfließen im Namen der Kunst: Kunst und Nichtkunst, polare Gegensätze, die unendliche Übergänge ver­binden. Im Verschwimmenlassen dieser Grenzen liegt der Grund des Chaos, in dem wir stecken; wir vergewaltigen die Kunst mit den Maßstäben der Hochkunst, aber auch diese mit den Maßstäben jener.

Und hier könnte der Punkt sein, von dem aus sich die letzte Wandlung in der Kunst grundsätzlich anders darstellte als frühere; vielleicht ist die fragwürdige Primitivität der neuen Mode doch ein Symptom tieferer Umkehr; schließlich haben doch die falschen Schäferinnen der Eremitagen die Herrschaft der echten Fisch­weiber vorbereitet. Die Radikalen an der Jahrhundertwende hatten um der Selbstherrlichkeit der Kunst willen alle Tradition des Sehens und Gestaltens über Bord geworfen; die Modernen von heute unterwerfen sich der solidesten Tradition, geben aber die besondere Mission der Kunst preis. Sie wollen etwas machen, was so aussieht wie die Kunst von früher, aber doch nicht Kunst mit dem Anspruch des Selbstzwecks ist. Dieser Prozeß ist gewiß kein bewußter, da zuviel vom Gestern noch ins Heute hereinhängt, aber er enthält ein in die Zukunft weisendes Element. //

Der Künstler wird, wofern er überhaupt weiter bestehen soll, auf die Ausnahmestellung, die ihm das neunzehnte Jahrhundert als trügerischen Ersatz für seine geminderte Bedeutung im sozialen Leben zuerkannt hat, verzichten und versuchen, seine Tätigkeit wieder zu einer als notwendig empfundenen zu machen. Er wird nicht mehr an dem prahlerischen Begriff eines dem Göttlichen sich nähernden Schöpfertums, der an den vereinzelten Genies höchsten Banges gebildet worden ist, zu schmarotzen brauchen, sondern im Rahmen anderer menschlicher Verrichtungen der seinigen nach­gehen; ein Handwerker, der die Bedürfnisse seines Publikums an­erkennt und befriedigt, ein notwendiges Mitglied der menschlichen Gesellschaft. Daß er dabei vielleicht das meteorhaft unerrechen­bare Genie sei, das eine ganze Menschheit zu bereichern vermag, wird immer noch die heimliche Sehnsucht bleiben, die sein Tun befeuert, aber es wird nicht mehr die stillschweigende Voraus­setzung seines Daseins bilden, deren Nichterfüllung ihn ins Nichts des Überflüssigen stößt.

Die Krise der Gegenwartskunst ist möglicherweise ein Ansatz, aus der gespannten und übergespannten Situation hinauszufinden, in die unsere nur ästhetische Einstellung die Kunst gebracht hat. Diese soll wieder ein Handwerk werden, nicht so sehr in ihrer Technik wie in ihrer Gesinnung; eine Produktion, die sich wie jede andere an dem Bedarf des Konsumenten regelt; eine Tätig­keit, die der Raschheit und Beweglichkeit unseres Daseins entspricht, deren Ergebnisse sich in der Regel mit dem Tag ver­brauchen, für den sie entstanden und aus der, ausnahmsweise, ein oder das andere Mal das große Kunstwerk herauswachsen mag. Durch all dieses ein Tun, das auch wieder seine verlorene wirt­schaftliche Grundlage zurückgewinnen könnte.

In: Das Tage-Buch, H. 28/ 1931, S. 1103-1105.