Josefine Widmar: Tanz und Spiel in der Mittelschule

Dr. J[osefine] W[idmar]: Tanz und Spiel in der Mittelschule. Allerhand Bedenklichkeiten. (1928)

Der Beginn des neuen Schuljahres bedeutet in vieler Hinsicht ein denkwürdiges Datum in der Entwicklung der österreichischen Mittelschule: Die Durchführungsbe­stimmungen für die neuen Lehrpläne unserer Mittel­schulen, die im Juni dieses Jahres bekanntgegeben wurden, umschließen tatsächlich für die studierende Jugend ein neues Bildungsprogramm. Auf den Erfahrungsgrundlagen alterprobter Bildungsgüter auf­gebaut, ragt die neue Mittelschule stolz und zukunftsfroh in das Neuland pädagogischer und didaktischer Errungenschaften hinein, mit denen die Erziehungs­wissenschaft aller Länder in den letzten Jahren bereichert wurde. Im Vordergrund unter den pädagogischen Reformgedanken der neuen Mittelschule steht die starke Hervorhebung der körperlichen Erziehung. In einer kürzlich erschienenen Verlautbarung des Unterrichts­ministeriums wurde ausdrücklich auf jenen Teil der neuen Lehrpläne hingewiesen, die sich mit den nunmehr

obligatorisch gewordenen Leibesübungen an den Mittelschulen befassen. Die jungen Mittelschüler und Mittelschülerinnen werden in Hinkunft zu der Erlernung von Schwimmen, Ski- und Schlittschuhlaufen, zu rhythmischem Turnen und Tanzspielen ebenso verpflichtet sein wie zu der Einprägung lateinischer Vokabeln und geometrischer Formeln. Zweifellos steht Österreich mit dieser Neueinführung beispielgebend unter den übrigen mitteleuropäischen Ländern da.

Es ist nun interessant, daß gerade dieser Programm­punkt der neuen Lehrpläne in vielen Eltern- und Pädagogenkreisen, die sonst dem Reformwerk des Unterrichtsministeriums mit Anerkennung und Interesse gegenüberstehen, mit einer gewissen Zurückhaltung auf­genommen wird. Namentlich aus den Bundesländern werden Bedenken und Zweifel laut: Es wird da die Befürchtung geäußert, die stärkere Betonung körperlicher Bildungswerte könnte die schon ohnehin stark gefährdeten geistigen Bildungsgüter an der Mittelschule noch mehr in den Hintergrund rücken, die Mittelschule zu einer Sport- und Unterhaltungsstätte herabdrücken. Mit unangebrach­ter Schärfe wurde sogar von „Harlekinaden“ und Tanzkränzchen an den Mittelschulen gesprochen.

Der letzte Grund dieser sachlich keineswegs gerechtfertigten Ablehnung gegen diesen Programmpunkt der neuen Mittelschule liegt wohl in dem Mißtrauen, das man auf dem Lande allen Wiener Schulerneuerungsbestrebungen ohne Unterschied entgegenbringt. Die maß­losen, nur von politischer Zielstrebigkeit diktierten Experimente der roten Schulreformer, der Raubbau, der gerade von dieser Seite an dem Bildungserbe unserer Mittelschulen getrieben wurde, hat dieses Mißtrauen gesät. Aber es darf nicht übersehen werden, daß gerade das Reformwerk des Unterrichtsministeriums diesem verderblichen Experimentieren und der Politisierung der Mittelschule ein Ziel gesetzt und ihre aus den Zeitverhältnissen gebotene Weiterentwicklung in fest um­schriebene Bahnen gelenkt hat.

Dieser Weiterentwicklung gehört nun sicherlich auch die stärkere Beachtung der Sport- und Bewegungspflege im Lehrplan der mittleren Bildungsanstalten. Es ist voll­kommen unrichtig und zwecklos, das Streben nach körper­licher Ertüchtigung und Leistungsfähigkeit, wie sie Sport und Spiel in der freien Natur gewähren, in Bausch und Bogen zu verdammen und in scharfen Gegensatz zu geistiger und seelischer Bildung zu stellen. Sport im weitesten Sinne ist heute ein Erfordernis des modernen Lebens geworden, auf das die Jugend nicht mehr verzichten kann und will. Er stellt den nötigen Ausgleich zu den immer mannigfaltiger und schwieriger sich gestal­tenden Aufgaben des Arbeitslebens dar, das erhöhte Spannkraft und Nervenstärke verlangt. Es ist Aufgabe aller Volkserzieher, darüber zu wachen, daß diese an sich gesunden Bestrebungen nicht in Rekordpsychosen und in  einen unsittlichen rein materialistischen Körperkult aus­arten, wie leider heute vielfach die Ansätze dazu vorhanden sind. Wenn die Schule den Sport und die Körperpflege in ihr Bildungsprogramm aufnimmt und in vernünftige Bahnen leitet, so leistet sie damit eins sehr zweckmäßige Vorbeugearbeit und gräbt zahlreichen Ausschreitungen von vornherein den Boden ab. Haben die jungen Leute von der Schule aus Gelegenheit zu schwimmen, zu rodeln, Skilaufen unter der Leitung und Überwachung eines tüchtigen Lehrers, so haben sie es nicht notwendig, diese Künste in Kursen und Gesellschaften zu betreiben, die, wie jedermann weiß, oft von nichts weniger als er­zieherischem Einfluß auf das Seelenleben der Mädchen und Jünglinge sind. Und wenn in Zukunft in unseren Mittelschulen die Weisen der alten lieben Tiroler und Kärntner Volkstänze und die Melodien Mozarts und Schuberts aufklingen und die jungen Menschen zum rhythmischen Gestalten und Bewegen einladen, so ist dies wohl ein Teil höchst notwendiger künstlerischer Jugenderziehung, das beste Gegen­mittel gegen die hemmungslose Hingabe an Jimmy, Jazz und Niggertänze! Vergessen wir es nicht, daß dieser Kulturschande von einer Gesellschaft Raum gegeben wurde, die, allzu einseitig intellektuell gebildet, ihr kein Bewußtsein bodenständiger Sport- und Bewegungskultur entgegenzusetzen hatte. In dieser Hinsicht ist eine schulgemäße maßvolle Sportbildung unserer Jugend nur zu begrüßen.

Es ist wohl auch nicht zu befürchten, daß die körper­lichen Übungen an den Mittelschulen eine Gefahr für den Lerneifer der Schüler und Studienresultate darstellen.

Dafür bürgt die ganze Anlage der neuen Lehrpläne, die die Erwerbung und Einübung von Wissensgütern in allen Lehrfächern auf das genaueste und strengste regelt. Übrigens sind die Grundsätze für eine moderne Körper­bildung, wie sie durch die Lehrpläne nunmehr gesetzlich normiert erscheinen, schon seit längerer Zeit an vielen Knaben- und Mädchenmittelschulen geübt worden, ohne daß irgend eine Schädigung des Bildungsniveaus be­merkbar geworden wäre.

In diesem Zusammenhang sei auch an die alten Militärakademien und k. u. k. Kadettenschulen der ehe­maligen Monarchie hingewiesen. Niemand wird heute diesen Anstalten überstürzten Reformeifer und revolutionäre Schulden vorwerfen. Dennoch hatten sie in ihrem Lehrplan Tanzen und Anstandslehre aufgenommen aus der vernünftigen Erkenntnis heraus, daß für jeden jungen Menschen, der einmal auch zu der bescheidensten Führer­rolle berufen ist, Beherrschung des Körpers und seiner Bewegungen notwendig ist. Umso weniger darf man es der modernen Mittelschule verargen, wenn sie diese alte Erkenntnis weiterführt. Sie öffnet damit nur die Bahn zur zeitgemäßen Erfüllung des alten humanistischen Bildungsideals, das Plato in seiner Politeia für die Ertüchtigung der Jugend. aufstellte.

Eltern und Kinder können mit aller Beruhigung dem Beginn des neuen Schuljahres entgegensehen. Die jungen Leute werden bald erkennen, daß trotz Ski, Tanzen und Rodeln das Gymnasium eine ebenso ernste und vielfordernde Lehr- und Lernschule geblieben ist wie bisher. Die Eltern aber werden sich freuen, daß ihre Kinder Sport und Spiel unter Schutz und Leitung der Schule betreiben und nicht auf abseitigen Nebenwegen!

In: Die Reichspost, 4.9.1928, S. 6.