Isaak Grünberg: Ein jüdisch europäischer Roman

Isaak Grünberg: Ein jüdisch europäischer Roman. Der Sohn des verlorenen Sohnes. (1937)

Von Soma Morgenstern.

Einen jüdischen Roman gibt es seit einigen Jahrzehnten. In der jiddischen Literatur hat ihn Mendele Mocher-S[e]forim geschaffen, in dessen Werken die jüdische Welt des Ostens von innen heraus gestaltet ist, sehr ur­wüchsig, aber nicht leicht zugänglich, nicht einmal für den Westjuden, geschweige denn für den Nichtjuden. Mendele war der „Großvater“ der jiddischen Literatur. Der „Enkel“, Scha­lom Asch, flirtet bereits energisch mit dem Westen. Er ist ein weitgereister Mann, viele Beziehungen verbinden ihn mit der europäischen, der Weltkultur. Aber das Wesentliche im Schaffen des „Enkels“ ist ostjüdisch. Der Westen, den dieser Schriftsteller erst als Mann erfahren hat, durchdringt nicht die tiefsten Schichten seines Werkes. Der jüdische Roman westjüdischer Autoren gestaltet eine peri­pherische, im wesentlichen nicht mehr jüdische Welt. Auch ein Buch wie Joseph Roths Hiob ist mehr künstlich, künstlerisch wiederbelebtes, als lebendiges Judentum.

Seit dem Erscheinen von Soma Morgensterns Der Sohn des verlorenen Sohns gibt es den echten jüdischen und zugleich europäischen Roman. Eine ost-westliche Syn­these ist in diesem Buch künstlerische Wirk­lichkeit geworden. Es ist kein Zufall, daß die­ser jüdische Roman ein österreichischer Ro­man ist. Mendele hat mit den jüdischen Massen Rußlands gelebt, Schalom Asch ist mit einem Sprung aus dem Osten in den Westen gelangt, Roth hat den Osten früh verlassen, er ist für ihn eher Sehnsucht nach dem Land der Kind­heit als bewußtes Erlebnis. Morgenstern ist zugleich Jude und Europäer. Das alte Österreich hat bis in den galizischen und Bukowinaer Osten gereicht, in dem die Juden noch in traditionsgesicherter Wirklichkeit gelebt haben. Es war für diese Juden eine natürliche Brücke nach dem Westen. Von dem großen Ziel Wien hat die Sehnsucht aller östlichen österreichischen Jugend geträumt. Kindheit und frühe Jugend hat Morgenstern in jener geschlossenen jüdischen Gemeinschaft verlebt. ln dem stärksten Eindrücken zugänglichen

Jünglingsalter ist er nach Wien gekommen, das ihm, geistig und seelisch, zur zweiten Heimat wurde. Von der alten Heimat des Kindes und Knaben zur neuen, der des Jünglings und Mannes, spannt sich der Bogen des Romanes, in dem einem Dichter die Gestaltung eines epischen Kunstwerkes, eines echten und be­deutenden jüdischen Romans in deutscher Sprache gelungen ist.

Morgenstern war vor dem Erscheinen seines Romanes durch seine in der „Frankfurter Zei­tung“ (deren Wiener Feuilletonkorrespondent er war) erschienenen Arbeiten als sehr kulti­vierter Schriftsteller bekannt. In manchen Par­tien des Buches, besonders in den Schilderungen Wiens findet man den Meister blendender, geistvoller Pointierung wieder, den Europäer mit umfassender Kultur, als den man Morgen­stern gekannt hatte. Überrascht lernt man aber nun einem Dichter kennen, der besonders in den Teilern des Buches, die im Osten spielen, eine epische Geschlossenheit erreicht, die an die großen russischen Erzähler erinnert. Und dieser Volljude schreibt ein Deutsch, das in seiner Reinheit, seiner Musikalität und seinem inneren Schwung hoch über dem Durchschnitt der üblichen deutschen Literatur steht.

Der verlorene Sohn ist einer jener jungen Juden, die zu Ende des vorigen und zu Beginn unseres Jahrhunderts nach Wien gekom­men sind und hier, geblendet von der westlichen Kultur, abtrünnig wurden. Sein Sohn, der Held von Morgensterne Roman, besinnt sich wieder auf die alten Zusammenhänge. Hat sich der Vater taufen lassen, so will der Sohn wieder zum Judentum. Am Ende des Buches kehrt der junge Alfred mit seinem Onkel, dem frommen Welwel, in den Osten zurück. Ob die innere Rückkehr gelingen wird, und wie sie sich vollzieht, wird uns der Dichter in einem weiteren Buch erzählen. Er hat uns auf diese Entwicklung neugierig gemacht, denn wir sind im Laufe der Erzählung mit den geschilderten Personen vertraut geworden und wir haben einige von ihnen ins Herz geschlossen.

Einen Dorfjuden wie den Verwalter Jankel Christjampoler, haben wir bisher nicht gekannt: eine starke und originelle Schöpfung. Von einer Gestalt, wie dem gütigen und frommen Welwel Mohilewski mit seiner innigen Sicherheit und Tiefe zerfallen tausend verzerrte Vorstellungen von Juden und Judentum als Ausgeburten kranker oder verbrecherischer Hirne. Neben diesen östlichen Figuren stehen andere aus Wien, wie die des liebenswerten Ministerialrats Frankl oder die mit freundlicher Ironie gezeichnete Frau Fritzi. Morgen­stern weiß nicht nur so andersgeartete Men­schen mit gleicher Meisterschaft darzustellen, er baut auch grundverschiedene Geschehnisse, wie einen „Kongreß gesetzestreuer Ju­den“ und ein Mozart-Konzert im erzbischöf­lichen Palais mit der gleichen sicheren Kunst des meisterlichen Erzählers auf.

Am mächtigsten ergreifen in dem Buch die Schilderungen aus dem Osten. So reife, land­schaftliche Gestaltungen, wie die der Fahrt durch die weiten östlichen Felder, sind in der zeitgenössischen Literatur kaum zu finden. Die Geschichte von dem Weißkleefeld, die Irrfahrt in einem Schneesturm und die tiefe, legendenhafte Erzählung von Rabbi Abba sind Schöpfungen eines reifen und begnadeten Dichters.

Wer die jüdische Welt des Ostens kennt, erlebt beim Lesen von Morgensterns Buch ergreifende Erinnerungen seiner Kindheit wieder. Der Westjude und der Nichtjude aber wird von diesem Buch eine hinreißende, künst­lerische Gestaltung jüdischen Lebens finden, dessen Wirklichkeit and Sinn ihm hier in be­strickender Art erhellt wird.

In: Die Stimme. Jüdische Zeitung (Wien), 15. 1. 1937, S. 4.