Kurt Sonnenfeld: Streber von heute.

Kurt Sonnenfeld: Streber von heute. (1921)

Beim Umsturz dachte man sich das sehr einfach: der Adel wird abgeschafft, Ordensauszeichnungen werden nicht mehr verliehen, folglich hört alle Streberei auf. Aber die menschliche Natur läßt sich nicht von heute auf morgen umkrempeln. Und die Streber, die seit jeher gewohnt waren, ihre Laufbahn auf dem Bauch zurückzulegen, rutschen auch heute noch auf dem Bauch langsam, aber sicher vorwärts und aufwärts wenn sie auch ihr Haupt manchmal mit einer Jakobinermütze geschmückt und dadurch dem Zeitgeist Rechnung getragen haben.

Der Krieg war die Hochkonjunktur der Streberei. Wer anläßlich des Kaiserjubiläumshuldigungsfestzuges (welch schönes Wort) noch nicht den ersehnten Adel, sondern vielleicht nur den Franz-Josef-Orden bekommen hatte, der war nunmehr überzeugt, daß man diesmal Allerhöchsten Ortes seine Verdienste gebührend zu würdigen wissen und ihm Gelegenheit geben werde, sich eine neunzackige Krone in die Leibwäsche sticken zu lassen.

Man benutzte die sinnreichsten Mittel, um sich Verdienste zu erwerben. Ein Herr zum Beispiel hatte die Spezialität, „Anregungen“ zu machen, wie man dem Hinterland durch Sparsamkeit eine verlängerte Kriegsführung ermöglichen könne. Er war sonst ein ruhiger, gesitteter Mensch; aber wenn der Dämon der Anregungen in ihn fuhr, so rief er schäumend: „Sammelt Tramwaykarten! Sammelt Obstkerne! Sammelt Abreißkalender!“ Diese genialen Anregungen hätten ihm auch wirklich den Adel eingetragen, wenn der Krieg nicht durch den Umsturz ein vorzeitiges Ende genommen hätte. Der Ärmste, der sich durch die dumme Revolution um die Früchte seiner Arbeit betrogen sah, ist trübsinnig geworden und macht gegenwärtig in Steinhof noch immer Anregungen: „Sammelt Regenwürmer! Sammelt Schneeflocken!“

Immerhin sind diejenigen noch gut daran, die bloß durch Anregungen und nicht auch durch Zeichnung von Kriegsanleihe eine Standeserhöhung anstrebten. Denn Anregungen sind ja schließlich nur eine geistige Arbeit, und geistige Arbeit ist billig, – oder das Geld, das auf dem Altar des Ehrgeizes geopfert worden ist, hätte sich in einer Partie Baumwollwaren jedenfalls weit besser verzinst.

Diese Streber waren verhältnismäßig harmlos, –  obwohl auch sie jene Atmosphäre mitschufen, deren Ausdünstungen noch heute die Luft vergiften. Weniger harmlos aber waren die Streber, die auf fremde Kosten ihren Ehrgeiz befriedigen wollten und bedenkenlos Menschenleben hinopferten, um sich bei irgendeiner maßgebenden Persönlichkeit einzuschmeicheln.

Herrmann Bahr hat kürzlich in seinem Tagebuche gesagt, Personenwechsel sei der Sinn aller Revolutionen und unter neuem Namen werde der alte Betrieb fortgesetzt. Wer aber inbrünstig an die beglückende, befreiende und erneuernde Kraft einer gewaltlosen und geistigen Revolution glaubt, der wird eine politische Umwälzung, bei der sich allenfalls ein Personenwechsel – und oft nicht einmal dieser – vollzogen hat, nicht als revolutionär bezeichnen. Denn ob die Streber, die auf dem Buckel des Volkes zur Macht emporklettern möchten, von rechts oder von links kommen, das bleibt sich für das Volk gleich. Die geistige Revolution ist noch fern.

Es wird weiter gestrebt. In der Elektrischen kam ich neulich mit drei fremden Herren ins Gespräch, die über die hohen Tabakpreise schimpften. Alle drei hatten das Bedürfnis, sich vorzustellen: „Rat Meier!“ – „Rat Müller!“ – „Rat Huber!“ – Ich sagte dreimal: „Sehr angenehm!“ und suchte herauszubekommen, mit was für Räten ich es zu tun habe. Rat Meier entpuppte sich als Armenrat, Rat Müller als Arbeiterrat und Rat Huber als (wie er neckisch hinzufügte: ehemaliger) kaiserlicher Rat… Angesichts dieser drei Räte, die einander an Titel, Gestalt und Ansichten so ähnlich waren, daß man sie getrost hätte mit einander vertauschen können, war ich buchstäblich und im wahrsten Sinne des Wortes ratlos.

Man hat oft darüber gelacht, daß sich viele Kriegslyriker von 1914 mit beflissener Promptheit in die Freiheitsfänger von 1918 verwandelten. Man täte ihnen aber unrecht, wenn man sie ausnahmslos der Streberei beschuldigen wollte. Künstler reagieren auf ein Erlebnis zumeist mehr mit dem Gefühl als mit dem Verstande – und die Lyriker, die sich im Juli 1914 für die Mobilisierung und im Oktober 1918 für Barrikadenkämpfe begeisterten, brauchen deshalb durchaus keine Gesinnungslumpen zu sein, sondern sie erlebten in beiden Fällen den prachtvollen und berauschenden Elan einer Massenbewegung als ästhetisches Schauspiel, ohne nach der logischen und sittlichen Berechtigung dieser Bewegung viel zu fragen. Ich spreche aus Erfahrung, denn ich war selbst in der Überschwänglichkeit meiner zwanzig Jahre bei Kriegsausbruch glühend begeistert und ich verwahre in meiner Schreibtischlade sogar noch ein fürchterliches Gedicht, in dem ich Serben auf Scherben und Sterben reimte. Diese Begeisterung verflog aber bald und gründlich nach meiner Einrückung, als ich schaudernd erkannte, daß der Krieg eigentlich doch nicht das richtige Thema für Lyriker sei.

Aber selbst wenn manchen Literaten Gesinnungslosigkeit oder, sagen wir, allzu große Anpassungsfähigkeit vorgeworfen werden kann, so darf man mit ihnen nicht allzu streng ins Gericht gehen, da man die tieftraurigen Verhältnisse berücksichtigen muß, in denen diese Menschen leben. Ehrgeizig, nervös, von ihren Stimmungen gequält, zwischen Größenwahn und Verzagtheit hin- und hergerissen, wissen sie nur allzu gut und bekommen es täglich und stündlich zu fühlen, daß ihre Manuskripte nicht gerade Bedarfsartikel sind. Nirgends ist eine gewisse Eitelkeit begreiflicher und verzeihlicher als beim Literaten; denn hier sind doch Leistung und Name am engsten und unmittelbarsten mit einander verknüpft. Darum sind manche Literaten in ihren Namen geradezu verliebt und sind zu allem fähig, um ihren Namen und das mit diesem Namen verknüpfte Opus gedruckt zu sehen. Die Sehnsucht nach der Öffentlichkeit und nach dem Erfolg hat schon manchen Charakter verdorben und aller Würde beraubt. In mancher Literatenkaffeehäusern kann man beobachten, mit welcher Beflissenheit diese von unbefriedigtem Ehrgeiz zerfressenen Menschen darauf lauern, sich „Beziehungen“ zu verschaffen, die sie fortwährend grüßen und sich verbeugen, weil man doch nicht wissen kann, ob nicht der Herr mit dem Spitzbart ein Verleger und der glattrasierte Herr ein Rezensent ist. Sie fühlen sich von jedem abhängig und darum leben sie nach dem Grundsatz: Tiefer bücken, tiefer bücken, wenn man was erreichen will!

Wie während des Krieges, so muß man auch heutzutage zwischen harmlosen und gefährlichen Strebern unterschieden, nämlich Strebern, die auf fremde Kosten spekulieren. Haben die Streber von damals das Volk in die Schützengräben gehetzt, so hetzen die Streber von heute das Volk auf die Barrikaden. Bei gar zu blutrünstigen Schreiern, die sich aber immer hübsch vorsichtig im Hintertreffen halten, soll man sich immer fragen: Was will dieser Mensch für sich? Namen, Geld, Macht? Oder alles zusammen?

Ich hatte selbst einmal ein lustiges Erlebnis auf diesem Gebiete. Ein in seiner Gesinnung sehr anpassungsfähiger Herr, dessen literarische Leistungen hauptsächlich darin bestehen, daß er sich mit dem Privatleben einiger Mitmenschen sehr genau beschäftigt und durch eine mit Kraftausdrücken unflätigster Art gespickte Sprache den Anschein biederer Treuherzigkeit zu erwecken sucht, sandte mir einmal einige Monate vor dem Umsturz eine Gedichtsammlung und ersuchte mich in einem Begleitbriefe, einen Redakteur einer bestimmten Zeitung um die Veröffentlichung einer Probe aus der kleinen Sammlung. Er schloß sein höfliches Schreiben mit der liebenswürdigen Wendung: „Ich bin zu Gegendiensten gern bereit.“

Ich antwortete ihm, daß ich seinem Wunsche nicht entsprechen könne und daß er die Gedichte direkt an die betreffende Redaktion schicken möge. Damit hielt ich die Angelegenheit, der ich keine sonderliche Bedeutung beimaß, für erledigt.

Der Umsturz kam und der Herr entschloß sich, Karriere zu machen. Leider verstand er vom Sozialismus nicht das geringste und zog es vor, in Kaffeehäusern bei kaltem Aufschnitt und Bäckerei verschiedene Likörsorten zu studieren, anstatt sich mit dummen, theoretischen Büchern zu plagen, die er ja auch in Volksversammlungen nicht zu benötigen glaubte. Er dachte, für die Arbeiter sei es gerade gut genug, wenn man die Bourgeoisie, die Sozialdemokratie, die Anhänger der Gewaltlosigkeit und noch einige Richtungen mit wüsten Schimpfworten bombardieren und so ganz nebenbei und gleichsam per Hetz die Bewaffnung des Proletariats und ein bißchen Blutvergießen verlange. Aber die Arbeiter durchschauten bald, daß sie es mit einem Wurstel zu tun hatten und lachten ihn aus.

Auf meine Freunde und mich aber wirkte der blutrünstige Barrikadenkämpfer, der sich in Kaffeehäusern mästete und in Versammlungen haßerfüllt gegen die Schlemmer und Prasser und namentlich gegen die Zeitungen und insbesondere gegen eine ganz bestimmte Zeitung loszog, außerordentlich drollig. Denn wir lasen mit Vergnügen den Brief, in dem er mich noch vor wenigen Monaten ersucht hatte, gerade diese Zeitung um die Veröffentlichung einiger Gedichte zu bitten, diesen Brief, der mit einer für einen Barrikadenkämpfer immerhin sonderbaren Wendung schloß: „Ich bin zu Gegendiensten gerne bereit…“

Gerade diejenigen, denen die Revolution, nämlich die Beseitigung von Zwang, Unterdrückung, Ausbeutung und Gewalt heilig ist, empfinden es als tieftraurig, daß gewissenlose Streber an dem heiligen Feuer ihr Süppchen kochen wollen. Hier ist die Grenze, wo die Streberei verächtlich wird. Mit der Streberei nicht zu verwechseln ist aber der Ehrgeiz, der selbst in seinen Entartungen eine edle und schöpferische Leidenschaft ist. Der Ehrgeiz treibt uns Arbeiter zu rastloser Tätigkeit, er spornt die Geduld und Gedankenkraft des Forschers an und beflügelt die nervenverzehrenden Visionen des Künstlers. Ohne den Ehrgeiz wäre die Welt ein stickiger Sumpf.

In: Neues Wiener Journal, 18.4.1921, S. 3-4.