Leo Lania: Das Kapital und die Wissenschaft.

Leo Lania: Das Kapital und die Wissenschaft. (1924)

(Zum neuesten Werk Upton Sinclairs: Parademarsch)

Im Jahre 1901 verließ ein einundzwanzigjähriger Jüngling die Universität Kolumbia in den Vereinigten Staaten. Es war das ein junger Mann aus „guter bürgerlicher Familie“, sein Vater und Großvater hatten hohe Stellen in der amerikanischen Beamtenschaft bekleidet und wenn die Familie auch keineswegs mit Glücksgütern gesegnet war, so hatte doch der Junge Elend und Not, Hunger und Armut nicht kennengelernt. Nach Absolvierung der Volksschule und der städtischcn Hoch­schule (eine Art Gymnasium) bezog der Jüngling eine

der vornehmen Universitäten des Landes, um sich literarischen und philosophischen Studien zu widmen. Von einem glühenden Ehrgeiz beseelt, durch eine rasche Auffassungsgabe und gute Lernfähigkeiten ausgezeichnet, stürzte sich der Jüngling mit Eifer und Idealismus ins

Studium — eine furchtbare Enttäuschung riß ihn schon nach wenigen Wochen aus allen Träumen und Illusionen. Den wahren Quell der Bildung hatte er hier zu finden gehofft— eine gähnende Leere und eine öde Langweile fand er in Wirklichkeit. Die ganze große Institution war eine hohle Nuß, ein seelenloser Körper, eine Masse aus Stein und Ziegel, zusammengehalten vom Bureaukratismus … Die Vorlesungen nichts anderes als ein schlechtes Resümee irgendeines trostlos trockenen Lehrbuches, die Professoren ehrgeizige Streber, die Studenten eitle Hohlköpfe, die im Sport, im Flirt, im Saufen und „Kot…leben“ völlig aufgingen. Und das Seltsamste: jeder, der wirklich etwas zu lernen hatte, wurde auf irgendeine Art von der Universität Kolumbia verbannt. Nur die Stumpfen oder die Schlauen blieben übrig, die Guten mußten gehen.

Angewidert von dieser kalten, seelenlosen Mechanik des Universitätsbetriebes, verließ der Jünglig nach einigen Monaten die Universität und zog in die Welt hinaus. Er hatte insgesamt neun Jahre dem Studium geopfert und glaubte daher, „ein vollkommen gebildeter

Mensch“ zu sein. Doch nach kurzer Zeit mußte er die schmerzliche Entdeckung machen, daß er die langen Jahre völlig nutzlos vertan hatte. „Ich wußte nichts über Hygiene und Gesundheit,“ so erzählt uns der junge Mann, „ich wußte nichts von Frauen, kannte außer

meiner Mutter noch drei oder vier weibliche Wesen, ahnte nicht, wie ich mit ihnen umgehen sollte. Von geschlecht­lichen Dingen wußte ich ebensoviel, wie die alten religi­ösen Asketen, aber nichts über die modernen Entdeckungen und Theorien auf diesem Gebiet. Ich wußte auch nichts von der modernen Literatur der verschiedenen Sprachen. Was die Weltgeschichte anlangt, so endete sie für mich mit dem Deutsch-Französischen Kriege vom Jahre 1870; seither schien sich überhaupt nichts ereignet zu haben. Freilich gab es Tageszeitungen, doch wußte ich nicht, was diese Zeitungen waren, wer sie beherrschte, in welchem Verhältnis sie zu mir standen. Ich wußte, daß unsere Politik korrupt sei, doch kannte ich nicht die Ursache der Korruption, noch aber wußte ich, was gegen sie unternommen werden konnte, vom Geld. dem Lebensblut der Gesellschaft, und von der Rolle, die es im Leben des modernen Menschen spielt, ahnte ich nichts. Und was das Proletariat betrifft, so hatte ich mich mit einigen aus Zeitungen geholten Vorurteilen begnügen müssen. Was aber für mich das Allerbedeutsamste war: ich ahnte gar nicht, daß eine moderne revolutionäre Bewegung existiere. Die Namen Marx und Lassalle hatte ich gehört, stellte sie mir als unheimliche Menschen vor, die in Hinterzimmern von Bierkneipen zusammen kamen, Ver­schwörungen anstifteten und Bomben verfertigten, sich außerdem der freien Liebe hingaben. Daß sie irgendwie auch mit meinem Leben in Verbindung standen, mich etwas lehren konnten, daß sie eine Bewegung begründet hatten, die die ganze Zukunft umfaßt — darüber wußte ich ebensowenig wie über die Zivilisation des Negerstaates Dabome oder die Topographie des Mondes.“

Der junge Mann hatte schon frühzeitig Proben ausgesprochener literarischer Begabung abgelegt — keiner seiner Lehrer und Professoren hatte sie einer Förderung für wert befunden; niemand es als seine Aufgabe angesehen, die in dem Jungen schlummernden Kräfte und Fähigkeiten zu wecken. Und mit bebender Angst hatte dieser den Zeitpunkt herannahen sehen, da auch ihn wie die meisten seiner Kameraden „die Walze des Schulapparats endgültig zermalmen“ würde. Da war er von der Universität geflohen.

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Der junge Mann ging nach Chikago. Und da er ein Jüngling war, dessen Augen scharf und klar in die Welt blickten und dessen Ohren zu hören verstanden und dessen Herz am rechten Fleck saß, so sah er in Chikago nicht nur die Marmorpaläste der Konservenkönige, sondern auch die Hinterhöfe der Fabriken, er hörte nicht nur die tönenden Reden er Direktoren, sondern auch das Weh- und Jammergeschrei der Frauen, Mütter und Kinder, deren Söhne und Ernährer zu Tausenden von dem gräßlichen Vielfraß Kapital zu Krüppeln geschlagen, verstümmelt, getötet wurden, bloß weil die Unternehmer das Geld zur Anlage von Schutzvorrichtungen sparen wollten und ihren Arbeitern den letzten Blutstropfen aus den Adern preßten. Der junge Mann hatte in die grausigste Schlachtkammer des Kapitals geblickt, er hatte voll Schauder gesehen, wie die Konservenkönige, die Herren von Chikago, trichinöses, giftiges Fleisch in die Konserven verarbeiteten, um mehr und noch mehr Profit herauszu­schlagen, und wie sie dadurch Leben und Gesundheit von Millionen Menschen diesseits und jenseits des Ozeans aufs Spiel setzten. Und das Furchtbarste: da war niemand, der den Mut hatte, aufzustehen und diese Schand­taten an die Öffentlichkeit zu bringen, niemand, der den Mut hatte, den Kampf gegen die Mächtigen von Chikago aufzunehmen. Unser Freund war jung genug, um den Kampf zu wagen; er konnte, er wollte nicht schweigen. Er legte alle seine Beobachtungen in einem Buch nieder, verarbeitete sie zu einem Roman, den er The jungle (Der Sumpf) nannte. Sein Erscheinen wirkte wie eine Bombe. Der junge Mann war in wenigen Monaten eine amerikanische, eine europäische Berühmtheit. Aber noch mehr: er war in Chikago Revolutionär, er war Sozialist geworden. Den Königen und Fürsten der amerikanischen Börse, den Herren von Stahl und Eisen, den Beherrschern des Weizens und Petroleums war ein erbitterter und unversöhnlicher Feind erstanden: Sein Name ist Upton Sinclair.

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Es sind nun mehr als zwanzig Jahre her, daß Sinclair jenen berühmten Roman erscheinen lieh. Eine ganze Bibliothek von Romanen, Novellen, Studien und Theaterstücken hat er seither veröffentlicht:[1]) ein nie er­müdender Kämpfer für Freiheit und Recht der Unterdrückten und Geknechteten. Die Mächtigen der Ver­einigten Staaten kennen und hassen ihn — doch sie sind ihm widerstandslos ausgeliefert. Denn in diesen langen zwanzig Jahren hat Sinclair jeden Trick, jeden Winkel des Gehirns der Fürsten und Herzoge Amerikas bloßgelegt und da ist niemand, der so die Maschinerie des industriellen und finanziellen Lebens, den „Geldtrust“ kennt wie er. Da tritt er jetzt mit einem neuen Werk // auf den Plan: Der Parademarsch (ebenfalls im Malik-Verlag erschienen). Kein Roman— „Eine Studie über amerikanische Erziehung“ nennt er das Buch. Es gibt nur ganz wenige Romane, die so spannend zu lesen sind, wie diese „Studie“, wenige Werke überhaupt, deren Kenntnis für alle Werktätigen dieser Erde, insbesondere für die jungen Kämpfer in den Reihen des Proletariats von solcher Wichtigkeit ist.

Sinclair erläutert den Zweck seines jüngsten Buches, das in den nächsten Wochen in deutscher Übersetzung gedruckt vorliegen wird, wie folgt: „Unser Schulsystem ist nicht dem Dienst der Allgemeinheit geweiht, sondern das Spezialwerkzeug des Privilegs: es bezweckt nicht die Förderung des Allgemeinwohls, sondern die Erhaltung des amerikanischen Kapitalismus. Diese Tatsache zu beweisen ist der Zweck meines Buches …“ Und warum er diesen Titel gewählt? „Wir verausgabten etwa dreißig Milliarden Dollar, ver­nichteten Hunderttausende von jungen Leben, um die deutsche Autokratie zu zerstören, glaubten allen Ernstes, dadurch von der Erde jenes Uebel zu verbannen, das den Namen „deutsche Kultur“ trägt. Diese „Kultur“ war nicht nur etwas Körperliches, war nicht nur der Drill eines ganzen Volkes, der die Macht der Militärkaste vergrößern sollte, sondern auch eine geistige Sache: das Regime des autokratischen Dogmatismus… und nun sollt ihr selbst sehen, ob ich mit meiner Behauptung recht habe, daß wir, indem wir den Parademarsch aus der Welt zu schaffen glaubten, weiter nichts taten, als ihn in unser eigenes Land zu verpflanzen und uns unter seine Herrschaft zu bringen… ihm unsere Gedanken und, was noch weit ärger ist, die Erziehung unserer jungen Generation zu unterwerfen.“

Und Sinclair führt lückenlos den Beweis, den er erbringen will. Und führt ihn so, daß wir in atemloser Spannung lauschen, während er von unseren Augen den Schleier hebt, mit dem der amerikanische Kapitalismus seine Knechtungsmethoden und die Seelenvergiftung, die er so großzügig betreibt, kunstvoll zu mas­kieren versteht. Sinclair „will nicht in diesem Buche seine Ansichten über Erziehung unterbreiten, will nicht erläutern, wie das System sein könnte oder sollte“ — er gibt Tatsachen, er erzählt uns schlicht, ohne Pathos, aber mit Ingrimm und kaltem Spott, was auf den Universi­täten vor sich geht. Über ein Jahr lang hat er das amerikanische Erziehungssystem studiert, hat zu diesem Zwecke das ganze Land bereist, hat Tausende von Menschen – Lehrer, Rektoren, Studenten — ausgefragt, Bücher und Statistiken verarbeitet, um uns enthüllen, zu können, wie die amerikanischen Hochschulen, die 600.000 jungen Menschen Bildung und Wissen vermitteln sollen, jene „Festungen der Plutokratie“, die Munitionsfabriken der herrschenden Klassen geworden sind, die die geistigen Bomben und Giftgase für den Klassenkampf gegen das Proletariat herstellen.

Die zehn bis zwanzig Könige der amerikanischen Hochfinanz und Industrie sind die Kuratoren der amerikanischen Universitäten, die Rektoren und Professoren sind ihre Angestellten. Die Universitäten besitzen Ver­mögen, Aktien von Unternehmungen, die jenen gehören, die im Kuratorium der Hochschulen entscheidenden Sitz und Stimme haben. Da gibt es also eine Universität des Bauholztrustes, des Petroleums, des Weizens, des Kupfers, der Gas- und der Elektrizitätsgesellschaft. Ein dichtmaschiges, riesiges Netz ist über ganz Amerika ausgebreitet, dem niemand entrinnen kann. Fällt es einem Professor, einem Rektor ein, gegen den Willen der Kuratoren die Studenten zum selbständigen Denken, zum Erkennen der Wahrheit zu erziehen — er verliert un­fehlbar seinen Posten. So blüht die „reine Wissenschaft“: „Ihr Sklaven des großen Bostoner Warenhauses, von dem die Harvarder Universität fünfundzwanzighundert Aktien besitzt, findet euch ab mit der langen Arbeitszeit, den niederen Löhnen und der Tuberkulose, zu der ihr verdammt seid, denn für den von euch erzeugten Reich­tum hat ein gelehrter Mann die Menschheit über „die Anwendung der starken Konjugation bei Chaucer“ auf­geklärt! Ihr Polizisten, deren Streik durch die Harvarder Studenten abgewürgt wurde, findet euch ab mit eurem Hungerlohn, hat doch einer dieser Studenten die Menschheit über die „Syntax des Infinitivs bei Shakespeare“ aufgeklärt! Ihr Mädchen, die ihr in den Textilfabriken schuftet, die ihr in den „Weiberstädten“ Neuenglands auf den Strich geht und euren Leib für ein belegtes Brot verkauft, frohlockt, denn ihr habt es ermöglicht, daß die Menschheit etwas über den „Konjunktiv in Layamons Brut“ weiß! Ihr Männer, die ihr zwölf Stunden täglich vor den glühenden Hochöfen Bethlehems, Midvales und Illinois Steel front, seid fröhlich, packt die Schaufeln fester an, denn eure Arbeit ermöglicht der Menschheit, sich genau über den „Ursprung des Romans in Briefform“ zu unterrichten. Ihr Berg­leute, die ihr, jeden Augenblick von Tod und Verstümmelung bedroht, in den Eingeweiden der Erde schuftet, findet euch damit ab, daß die große Universität keine Schutzvorrichtungen anbringen konnte, die euer Leben zu retten vermöchten, hat sie doch das dazu bestimmte Geld ausgegeben, um die „während Sir Robert Walpoles Regierungszeit geschriebenen politischen Balladen“ zu sammeln und zu veröffentlichen!“

Sinclair erzählt uns die Geschichte der zwanzig Hochschulen in den Vereinigten Staaten von ihrer Gründung bis auf den heutigen Tag. Eine Geschichte, die sich wie eine Verbrecherchronik liest, die sich in phantastischen Steigerungen überbietet — eine Geschichte des gigantischen Siegeszugs des amerikanischen Kapitalismus —, Verbrechen, Korruption, Mord und Totschlag bezeichnen ihren Weg. „Das sind doch typisch amerikanische Zustände!“ ist vielleicht mancher im ersten Augenblick auszurufen versucht. „Bei uns in Europa…“

Nun, die Perspektiven, die Sinclair für die nächsten zehn Jahre aufzeigt: „Die Universität wird auch eine Abteilung für Streikbrecher, für das Hand­haben des Gummiknüppels und die Anwendung des „dritten Grades“ besitzen. Beredte Artikel werden schildern, daß die Geschäftsleute ihre Zeit dazu verwenden, Agitatoren von ihren Betrieben fernzuhalten, wobei der Geheimdienst der großen Körperschaften eine gewaltige Rolle spiele, und deshalb sei die Universität im Begriff, eine Fakultät für Spitzel zu gründen.“

Amerika, du hast es besser! In zehn Jahren? Europa hat bewiesen, daß es mit der Zeit zu gehen ver­steht: Streikbrechergarden, „Technische Nothilfe“, Geheimbünde, Korruption, Juden- und „Marxisten“- verfolgungen… Sinclairs Prophezeiungen für das Jahr 1933 sind in Europa im Jahr 1923 schreckliche Wirklichkeit geworden.

Und dennoch: Selbst in Harvard gab es im Krieg einen Studenten, dem es gelang, sich aus der Gletscher­welt der kultivierten Vorurteile einen Ausweg zu bahnen. Er ging nach Rußland und gab sein Leben für die Revolution, seine großmütige Persönlichkeit wird in der russischen Geschichte alle von den Kapitalisten der amerikanischen Regierung gegen Rußland be­gangenen Verbrechen auslöschen… John Reed!“

In memoriam John Reeds und aller jener, die drüben in Amerika den schweren, ungleichen Kampf gegen die Könige des Geldsacks gewagt haben, ist diese Schrift Sinclairs entstanden. Kein blutloses, erklügeltes „Kunstwerk“ — eine Kampf-, eine Tendenzschrift im wahrsten Sinne des Wortes. Ein Pamphlet? Ja, aber eines, das uns alle angeht, wo immer wir wohnen, welche Sprache wir auch sprechen: denn diese „Studie über amerikanische Erziehung“ ist in ihrer Allgemeingültigkeit in Wahrheit eine Studie über den Kapitalismus, über die bürgerliche Erziehung überhaupt.

In: Arbeiter-Zeitung, 24.1.1924, S. 9-10.


[1] [Orig.FN] Der Malik-Verlag, Berlin, gibt jetzt die Werke Sinclairs gesammelt heraus.