N.N.: Araber und Juden
N.N. [J. Löwy?] Araber und Juden. (1922)
Der bekannte hebräische Schriftsteller Doktor Josef Klausner, der seit einiger Zeit in Jerusalem lebt, veröffentlicht im ›Hadoar‹ einen interessanten Artikel unter dem Titel Der KampfGegründet im Okt. 1907, Wien bis H. 12/1933; ab H. 1/1934 vereinigt mit der Zs. Tribüne bis Mai 1938, Brünn/Brno; dan... zwischen zwei Welten. Klausner geht von den November-Unruhen in Palästina aus, untersucht die Ursachen der Vorfälle und lehnt die Erklärung ab, daß das erwachte »nationale Bewußtsein« unter den Arabern die Ereignisse verschuldet habe. Der Erfolg der arabisch-chauvinistischen Propaganda sei vielmehr darin zu suchen, daß der Gegensatz zwischen Juden und Arabern zu einem Kulturkampf, einem Kampf zwischen zwei Welten geworden sei. Die Kultur Asiens und Afrikas müsse vor der europäisch-amerikanischen Kultur weichen. Die träge gewordene Islamkultur werde von der europäischen verdrängt werden. Die Katastrophe könne nur abgewendet werden, indem man das Gute, Neue und wahrhaft Nützliche der europäischen Kultur übernehme und es mit dem Wertvollen der altorientalischen Kultur verschmelze.
»Wir Juden haben das längst erkannt. Wir sind ein ost-westliches Volk. Orientalen der Abstammung und den Neigungen nach (denn was ist der Drang nach Zion anderes als eine Neigung zum Orient?), sind wir im Verlaufe der Geschichte und unserer fünfzehnhundertjährigen Wanderung durch Europa zu Europäern geworden. Unsere Sprache ist orientalisch-europäisch. Das Neuhebräische fußt ebenso auf Jesaias und Hillel Hanassi wie auf Plato und Byron. Die neuhebräische Literatur hat gleichzeitig so viel Orientalisches und Europäisches in sich, daß man bei Mendele, Bialik und Achad Haam nicht weiß, wo der Jude aus der Zeit des zweiten Tempels endet und der Europäer des zwanzigsten Jahrhunderts beginnt. Unsere gegenwärtige jüdische Kultur ist ein Gemisch von Judentum und Menschentum, von Orient, der von Europäismus durchtränkt ist.
Mit einer solchen Sprache und Literatur, mit solcher Kultur, mit solchen alt-neuen Idealen der Wiederherstellung einer auf eigener produktiver Arbeit basierenden nationalen Wirtschaft und Wiedergeburt eines nationalen Geistes kamen Juden nach Palästina und stießen dort auf die Araber, die genau so leben, wie sie vor Jahrhunderten gelebt haben. Der Araber sieht eine Welt vor sich, die zu seiner eigenen in krassem Gegensatz steht. Der Araber, der noch heute seine Frau für Geld kauft wie sein Pferd und seinen Esel, der auf die Frage: »Wozu hast du eine zweite, alte und häßliche Frau gekauft, wo du doch noch eine junge und schöne Frau hast?« antwortet: »Die kostet mich ja bloß zwei Pfund«; der vor kurzem beim Oberkommissär sich darüber beklagte, daß man Frauen bei Gericht zuläßt – dieser Araber sieht Tel-Awiw vor sich, wo Männer und Frauen als vollständig gleichgestellt auf den Straßen zusammengehen. Dieser Araber, der in jedem Arbeiter und einfachen Fellachen einen Knecht oder doch einen Menschen zweiten Grades sieht, findet in den Kolonien Arbeiter und Bauern, die zwar arm sind und mit eigenen Händen arbeiten, also keine Efendis sind und dennoch wie Efendis aufrechtgehen, Zeitungen lesen, Versammlungen abhalten, protestieren, streiken, demonstrieren und Forderungen stellen. Er sieht eine fremde Kultur, sonderbare Sitten, merkwürdige Anschauungen und ihm unbekannte Lebensgewohnheiten, und er fürchtet dieses Neue. Jeder Mensch ist konservativ und mehr als alle der Orientale. Er fürchtet das Neue und kann sich daran nicht gewöhnen, und da der Träger all dieses Neuen noch dazu einem fremden Volk angehört, steigert sich bei ihm die Angst und überträgt sich von der Sache auf die Person. Das führt zu Mißverständnissen. Er kann und will dieses Neue nicht verstehen. Phantastische Gerüchte über dieses eigentümliche Volk verbreiten sich nach orientalischer Art unter allen Schichten des Volkes, das Mißtrauen dringt bis in die persönlichsten Beziehungen, und der Haß wird immer größer. Und so wird der Boden bereitet für alle Hetzer, die die Unwissenheit und Kulturlosigkeit des Volkes zu ihren Zwecken mißbrauchen, um seine Aufmerksamkeit auf die Träger dieser neuen Sitten zu lenken und es gegen sie aufzuhetzen. Dies ist der Nährboden der Unruhen, die in ihrer Form an die Unruhen in Rußland, in der Ukraine und in Polen erinnern, in ihrem Wesen aber von ihnen grundverschieden sind.
Was können und sollen wir dagegen tun? Sollen wir etwa die europäische Kultur aufgeben, wie es uns neulich das in Jerusalem erscheinende Blatt der »eingeborenen Juden« (»Doar Hajom«) geraten hat? Das wäre die größte Sünde gegen den Fortschritt, gegen die allgemein-menschliche Kultur, gegen die Nation sowohl wie gegen die Menschheit. Es hieße das Rad der Geschichte zurückdrehen wollen. Nicht um Asiaten zu werden, sind wir nach Palästina gekommen. Wir wollen nach Asien das Beste aus der europäischen Kultur hinüberretten, aber auch das Beste aus der asiatischen Kultur, die ja zum großen Teil auch unsere Kultur ist, in der neuen, von uns zu schaffenden Kultur verarbeiten. Wenn wir nach Palästina gehen sollten, um Araber zu werden, dann hat der ganze Zionismus nach innen und nach außen keine Daseinsberechtigung. Nach innen kann nur die Wiederbelebung der alten hebräischen Kultur auf einer neuen wirtschaftlichen Grundlage der produktiven Arbeit die enormen Opfer rechtfertigen. Nach außenhin kann der Zionismus nur als eine Brücke zwischen Orient und Okzident betrachtet werden, wobei unter Orient die alte arabisch-jüdische Kultur zu verstehen ist und nicht die gegenwärtige Welt. Die Araber der ganzen Welt geben heute der Kultur nichts, die Araber Palästinas haben ihr nie etwas gegeben. Und wenn wir es nicht zustandebringen, sie zu uns emporzuheben, wenn wir zu ihnen hinuntersteigen sollten, so haben die übermenschlichen Anstrengungen, ohne die ein armes, halbverwüstetes Ländchen nicht aufzubauen ist, keinen Sinn.
Uns bleibt nichts anderes übrig, als an der europäisch-jüdischen Kultur festzuhalten und den Arabern klar zu machen, daß unsere Kultur nicht allein europäisch, sondern europäisch-orientalisch ist, west-östlich, semitisch und arisch zugleich. Und wenn die Araber ein Kulturvolk werden wollen, bleibt auch ihnen nichts anderes übrig, als den von uns betretenen Weg einzuschlagen, auf daß die in Palästina entstehende Kultur nicht nur eine orientalisch-okzidentale, sondern auch in gewissem Sinne eine jüdisch-arabische werde. Doch ist ein kulturloses und unwissendes Volk sehr schwer zu belehren. Es gehört eine gewisse Kulturstufe dazu, die der Araber von heute noch nicht – oder nicht mehr – hat.
Der Unwissende, des Lesens und Schreibens nicht kundige, dunkle Araber haßt und fürchtet jede neue Regung und sieht in dem Träger dieses Neuen seinen Feind. Er fürchtet für seine Religion, für seine Kultur, aber noch mehr für seine Vorurteile, seinen Aberglauben und seine barbarischen Sitten. Jedes Predigen, jede Aufklärung, jede Rechtfertigung ist vollkommen nutzlos. Hier können nur Zeit und Ausdauer helfen. Der mißtrauische Araber muß wissen, daß das Neue eine Kraft ist, die niemand wagen darf, ungestraft anzutasten. So war es auch unter der türkischen Herrschaft. Ein Europäer war das Heiligste in den Augen eines Arabers. Wenn er ihn auch in seinem Herzen haßte, fürchtete er ihn dennoch und achtete ihn. Diese Furcht führte zur Ehrfurcht und schließlich zur Nachahmung. Zunächst war die Nachahmung rein äußerlich, aber dies ist der Weg jeder Neuerung einer Kultur. Zunächst ändert sie sich nur äußerlich, und erst nachher kommt die innere Umwandlung.
Der Araber sieht im Juden den Träger einer neuen, europäischen Kultur. Das Orientalische, Semitische, Asiatische in uns sieht er nicht: In das Innere der Juden dringt er nicht ein und ist auch nicht imstande zu dringen. Seinem Äußeren nach aber ist der aus Europa kommende Jude vollkommen Europäer, das Symbol der fremden, verhaßten europäischen Kultur. Der Araber haßt also im Juden den Europäer, während der Europäer im Juden den Juden haßt. Vom europäischen Juden überträgt der Araber seinen Haß auch auf die anderen Juden, auf die orientalischen, denen er früher, wenn auch keine Liebe, so doch Wohlwollen entgegenbrachte. Dieses psychologische Moment nutzen Christen, Araber und Europäer (die zu diesem Zweck ihren Europäismus etwas zurückdrängen) aus, um die Lunte des arabischen Nationalismus an das Pulverfaß des Hasses der fremden Kultur zu legen. So entstehen Unruhen unter dem antisemitischen General Bols wie auch unter dem »ersten jüdischen Oberkommissär«, der sich selbst erheblich um das Zustandekommen der Balfour-Deklaration verdient gemacht hat, lange bevor er auch nur im entferntesten an dieses Oberkommissariat dachte. Dies ist die richtige Erklärung für den Erfolg der chauvinistischen Propaganda bei einem gewissen Teil der Araber. Von nationalem Bewußtsein in europäischem Sinne kann hier keine Rede sein, wohl aber gibt es hier eine abgrundtiefe Kulturlosigkeit, Stumpfsinn und Unwissenheit, und vor allem einen Haß gegen alles Neue, einen Haß gegen ganz Europa, einen Haß gegen seine Religion, Kultur, Macht, Sitten und Gewohnheiten. Auch dort, wo es keinen Juden und keinen Zionismus gibt, in Ägypten, Mesopotamien, Indien, kommt allmonatlich dieser mohammedanische Haß gegen alles Fremde in Form von Aufständen und Demonstrationen zum Ausbruch, gegen England oder gegen jede andere europäische Macht, die sie nicht, wie Frankreich Syrien, aufs grausamste unterdrückt. In Palästina wird das Europäertum durch den Zionismus und durch die Juden verwirklicht. Daher die Gegnerschaft gegen die Juden und Balfour-Deklaration. Ohne diese hätte man einen anderen Vorwand gefunden. Man schießt auf Engländer und Juden und meint damit Europa, die gesamte westliche Kultur.
Klausner schließt mit der Bemerkung, daß Europa und vor allem England dies anerkennen müsse, während wir die Erkenntnis in uns tragen müssen, daß wir in Palästina die Vorkämpfer einer neuen Kultur sind. Wir, die niemand verdrängen wollen, würden dann alle Verfechter des orientalischen Fortschritts auf unserer Seite haben und die Araber werden einmal erkennen müssen, daß es das jüdische Volk ist, das ihnen sehr viel geben kann und ihnen nichts von dem Guten und Schönen nehmen wird, das sie besitzen, das Volk, das allein imstande ist, die Erneuerung und Wiederbelebung des Orients herbeizuführen.