N.N.: Die Rote Garde gegen das Parlament. Sturmszenen und Panik

N.N.: Die Rote Garde gegen das Parlament. Sturmszenen und Panik (1918)

[…] Hierauf verläßt der Staatsrat die Rampe und zieht sich ins Parlament zur weiteren Tagung der Nationalversammlung zurück. Die Tore schließen sich. Während die Massen vor dem Parlament sich zum Abzug anschicken, fällt plötzlich, es ist etwa 5 Minuten vor halb 5 Uhr, ein Schuß. Doch die Ruhe in den nächsten Minuten läßt Zweifel darüber aufsteigen, ob es wirklich ein Schuß war. Bald aber hört man Salven und ununterbrochen Schuß auf Schuß fallen. Des unzähligen, durcheinander gewürfelten Publikums bemächtigte sich eine ungeheure Panik. Einige Beherzte versuchen, die Ruhe herzustellen. Es geht aber nicht. Es beginnt eine wilde Flucht nach allen Nebenstraßen des Franzensringes. Viel schlimmer noch ist die Panik, die auf den der Bellaria zu gelegenen Seiten entsteht. Tausende von Menschen laufen in Angst und wildschreiend zur Oper zu, wo sich ein unentwirrbarer Knäuel von Menschen gebildet hat. Wie in äußerster Todesgefahr drängte jeder vorwärts. […]

Gewehrfeuer gegen das Parlament.

            Kein Mensch weiß, was eigentlich geschehen ist, niemand kennt die Ursache der furchtbaren Szenen. Dann aber heißt es: Die Rote Garde will das Parlament stürmen! Die unmöglichsten Gerüchte durchschwirren die Luft, und erst nach geraumer Zeit klärt sich die Situation. Die tatsächlichen Vorgänge waren folgende: Nachdem Präsident Seitz seine Ansprache beendet hatte, zog er sich mit den Mitgliedern der Nationalversammlung in das Abgeordnetenhaus zurück. In diesem Momente drängte die Rote Garde nach, um in das Parlament zu kommen. Dies wollte man verhindern und die Gardisten bedienten sich daher der Gewehrkolben. Nun entstand ein noch ärgeres Gedränge, da alle die schützende Säulenhalle erreichen wollten. Präsident Seitz gab den Auftrag, die Tore auf keinen Fall zu öffnen und die Lichter in der Vorhalle abzudrehen, was auch sofort durchgeführt wurde. In den nächsten Augenblicken hörte man heftige Schläge gegen das große Gittertor und das Klirren der Scheiben hallte in den weiten Räumen wider. Die massiven Tore gaben jedoch nicht nach. Unter dem Publikum, das von den Galerien in die übrigen Räume des Parlaments gelangt war, entstand große Aufregung. Die Leute stoben nach allen Richtungen auseinander. Bald darauf hörte man eine heftige Schießerei. Es war sofort erkennbar, daß auf das Parlament geschossen wird, und der Aufenthalt in der Säulenhalle und in den vorgelagerten Räumen war lebensgefährlich. Das Gewehrfeuer dauerte etwa zehn bis fünfzehn Minuten, die manchen Leuten zu einer Ewigkeit wurden. Die Mitglieder des Staatsrates bewahrten vollkommene Ruhe. Der Preßleiter Ludwig Brügel wurde durch einen Kopfschuß schwer verletzt, ein Projektil war oberhalb seines linken Auges eingedrungen. Mittlerweile war bekannt geworden, daß die „Rote Garde“ alle Tore des Gebäudes besetzt hatte. Nach einer Pause von einer halben Stunde wurde die Sitzung der Nationalversammlung, die anläßlich der Ansprache an die Menge unterbrochen worden war, wieder aufgenommen und die restliche Tagesordnung in aller Ruhe und ohne jeden Zwischenfall erledigt. Im Hause waren auch eine Reihe nichtdeutscher Abgeordneter anwesend, die längere Zeit das Gebäude nicht verlassen konnten; sie äußerten ihr schärfstes Mißfallen und Bedauern über diese Gewalttat. Unterdessen waren vor dem Parlament die Stadtschutzwache und Volkswehr aufgezogen. Staatssekretär Mayer empfing ein Mitglied der „Roten Garde“. Es stellte sich heraus, daß es sich angeblich nur um ein Mißverständnis gehandelt habe. Die ganz unsinnige Behauptung, daß aus dem Parlament scharf oder auch nur blind geschossen worden war, konnte durch nichts erhärtet werden. Die Roten Gardisten räumten sodann das Feld.

[…]

Die Rote Garde in der Redaktion der „Neuen Freien Presse“.

            In den Abendstunden erschienen Mitglieder der Roten Garde in der Redaktion der „Neuen Freien Presse“ in der Fichtegasse. Sie besetzten das Gebäude und erklärten, daß sie von nun an die Leitung des Blattes in die Hand nehmen würden. Diese Tatsache wurde durch ein Extrablatt bekannt gemacht, in dem es heißt: In Ausführung eines Beschlusses der kommunistischen Partei wurde heute nachmittags das Redaktionsgebäude der „Neuen Freien Presse“ durch Volkswehr und Rote Garde besetzt. Die „Neue Freie Presse“ wird bis auf weiteres unter der Kontrolle kommunistischer Redakteure erscheinen. Für vollkommenen Ruhe wird verbürgt. Die Gerüchte, daß die Rote Garde an der Schießerei beim Parlament, welche eine furchtbare Panik hervorgerufen hat, teilgenommen hätte, sind vollkommen erlogen. Es wurde aus dem Parlament blind geschossen. Gezeichnet: Osternig, Koniakowsky, Rote Garde, Hoffmann, Lux, Infanterie-Regiment Nr. 4.

            Zu einem späteren Termin wurden Verhandlungen mit den Gardisten eingeleitet. Volkswehr und Sicherheitswache war inzwischen aufmarschiert und die Rote Garde bewogen, das Haus zu verlassen. Bald darauf erschien eine zweite von der Roten Garde herausgegebene Extraausgabe, in der erklärt wird, die ganze Besetzung des Redaktionsgebäudes sei nur als warnendes Beispiel anzusehen, als Beweis dafür, daß die Soldaten und Arbeiter imstande seien, wenn sie wollten, die Macht an sich zu reißen. Das hätten sie der Polizei mitgeteilt und seien dann ruhig abgezogen.

            Ein kleines Aufgebot von Sicherheitswache ist zum Schutze des Redaktionsgebäudes zurückgeblieben.

In: Fremden-Blatt, 13.11.1918, S. 5.