Rote Garde

Die R. G. war eine in Anlehnung an die bewaffneten bolschewistischen Arbeiterverbände der russischen Oktoberrevolution geschaffene Gruppierung. Ideell und größtenteils auch personell knüpfte sie an den illegalen Arbeiterrat des Jahreswechsels 1917/18, der von den Linksradikalen um Franz Koritschoner, Johannes Wertheim und Leo Rothziegel getragen wurde, an. Nachdem die Streikführer am 30. Oktober 1918 aus der Untersuchungshaft entlassen worden waren, verfasste Rothziegel ein Flugblatt mit einer Auflage von 6.000 Stück, das gemeinsam mit der Werbung Egon Erwin Kischs, seit Herbst 1917 im linksradikalen Milieu aktiv, und des Korporals Haller (d.i. Bernhard Förster) zu einem Gründungstreffen am 1.11. 1918 vor dem Wiener Deutschmeisterdenkmal mit 2.000 Teilnehmern führte. In den ersten Tagen agierten auch Franz Blei, Albert Paris Gütersloh, Franz Werfel sowie – weniger öffentlichkeitswirksam – Leo Perutz und Robert Neumann im Umfeld der R.G., traten ihr allerdings nicht bei. Werfel, der in Barbara oder die Frömmigkeit (1929) literarisch daran erinnerte, fungierte am 3.11. als Redner und stand der Bewegung bis Ende Jänner 1919 nahe.

Julius Deutsch, Unterstaatssekretär für das Heerwesen, integrierte die R. G. nach Verhandlungen mit Rothziegel in die Volkswehr, brachte sie in der Stiftskaserne unter, verhinderte ein geplantes Eindringen bei der kaiserlichen Familie in Schönbrunn und schleuste zusehends sozialdemokratische Vertrauensleute ein. Am 12.11. 1918 kam es zu zwei Eklats: Bei der Ausrufung der Republik rissen Rotgardisten zunächst den weißen Teil aus der österreichischen Fahne und ließen so die rote Fahne vor dem Parlament wehen, in nachfolgenden Tumulten kam es zu Gewaltakten mit zwei Todesopfern. Während Kisch entgegen gängiger Anekdoten den Großteil der Rotgardisten zurück in die Stiftskaserne führte, drangen dann einige, darunter Elfriede Eisler-Friedländer (später bekannt als Ruth Fischer), in die Redaktion der Neuen Freien Presse ein und erwirkten den Druck zweier Flugblätter.

Bereits am 11.12. hatte Deutsch Josef Frey, zuvor Redakteur der Arbeiter-Zeitung, später umstrittener KP-Spitzenfunktionär und Trotzkist, anstelle Kischs als Kommandant installiert. Ihm wurde bei der Vollversammlung am 21.11., bei der Friedrich Adler erstmals seit der Haftentlassung öffentlich auftrat, das Vertrauen ausgesprochen, Kisch zugleich aber zum Vorsitzenden des Soldatenrates gewählt. Die Spannungen entluden sich, als die Rotgardisten aus Angst vor einer Rückkehr des Kaisers die Angelobung der Volkswehr auf „den freien Staat Deutschösterreich“ verweigerten. Es kam zur Spaltung in das Volkswehrbataillon (VB) 40 unter der Leitung Freys sowie dem vierhundertköpfigen kommunistischen VB 41 sowie zum Auszug aus der Stiftskaserne. In der Folge verlor die R. G., deren Mitglieder auf die Kommunistische Internationale vereidigt wurden, mit dem Ausscheiden Kischs und dem Tod Rothziegels im Frühjahr 1919 an publizistischer wie militärisch-politischer Bedeutung und wurde Ende August 1919 vom Vollzugsausschuss der Soldatenräte aufgelöst.

Mit Der freie Arbeiter besaß die R. G. und später die Föderation revolutionärer Sozialisten „Internationale“ (FRSI, Ende Mai 1919 in der KPÖ aufgegangene Gruppierung) seit 9.11.1918 eine von Hilde Wertheim geleitete Zeitschrift, die ab zweiter Ausgabe mit der von Kisch gestalteten Beilage Rote Garde erschien. Ihr gegenüber stand innerhalb der Bewegung die von Russlandheimkehrern lancierte Zs. Der Rote Soldat. Rotgardisten traten auch bei den wohl von Blei, Josef Kranz und Gina Kaus initiierten Störaktionen bei Hugo Wittmanns und Julius Bauers Operette Der Kongreß tanzt Anfang Dezember 1918 im Wiener Stadttheater in Erscheinung.


Quellen und Dokumente

Berichte und Stellungnahmen Egon Erwin Kischs: (Gef.) Kisch: Eine Erklärung des Kommandos der Roten Garde. In: Neues Wiener Tagblatt, 13.11.1918, S. 6, Die Mobilmachung der Roten Garde. In: Der Freie Arbeiter, Beilage “Die Rote Garde”, 16.11.1918, S. 13, Angst, Rote Garde und die Presse. In: Ebd., 23.11.1918, S. 21f., Die Rote Garde und die Parteien. In: Ebd., 30.11.1918, S. 29f., Hauptmann Frey – ein Gendarm? In: Die Rote Fahne, 30.8.1919, S. 3, Die Rote Garde. In: Die Rote Fahne, 11.11.1928, S. 7.

Berichte zur Gründung und Entwicklung der R. G. Nov./Dez. 1918: Egon Dietrichstein: Bei der Roten Garde. In der Stiftskaserne. In: Neues Wiener Journal, 12.11.1918, S. 5, N.N.: Die Rote Garde im Redaktionsgebäude der „Neuen Freien Presse“. In: Neue Freie Presse, 13.11.1918, S. 1, Egon Dietrichstein: Der Kommandant der Roten Garde. Ein Porträt. In: Neues Wiener Journal, 15.11.1918, S. 5, Georg Bittner: Die Wiener „Rote Garde“. Eine Gründung der Prager Kaffeehausliteraten. In: Neues Acht-Uhr-Blatt, 16.11.1918, S. 1f, G. F.: Friedrich Adler über die kommunistische Partei. In: Der Weckruf, 28.11.1918, S. 2f., N.N.: Wieder ein Theaterskandal. Eine Prügelei im Stadttheater. In: Reichspost, 4.12.1918, S. 5, N.N.: Der Kampf gegen den Operettengeist. In: Arbeiter-Zeitung, 5.12.1918, S. 7, N.N.: Ein Journalistenprozess. In: Reichspost, 30.3.1919, S. 11f.

Berichte zur Auflösung der R. G.: N.N.: Der Abbau der Revolution! Auflösung der „Roten Garde“. In: Die Rote Fahne, 28.8.1919, S. 1, N.N.: Die Auflösung des Volkswehrbataillons 41. In: Arbeiter-Zeitung, 28.8.1919, S. 4, N.N.: Der letzte Tag der „Roten Garde“. In: Reichspost, 28.8.1919, S. 5.

Weitere Berichte: Karl Kraus: Nachruf. In: Die Fackel 20 (1919), H. 501-507, S. 76, Franz Koritschoner: Der Zusammenbruch. In: Die Rote Fahne, 4.11.1928, S. 6, Julius Deutsch: Aus Österreichs Revolution. Militärpolitische Erinnerungen. Wien: Wiener Volksbuchhandlung 1921; Peter Waller: Bei der Wiener Roten Garde. (1923)

Literatur (Auswahl)

Ernst Fischer: Expressionismus – Aktivismus – Revolution. Die österreichischen Schriftsteller zwischen Geistpolitik und Roter Garde. In: Klaus Amann, Armin A. Wallas (Hg.): Expressionismus in Österreich. Die Literatur und die Künste (1994) 19-48; Hans Hautmann: Die Anfänge der linksradikalen Bewegung und der Kommunistischen Partei Deutschösterreichs 1916-1919 (1970), H.H.: Franz Werfel, „Barbara oder
die Frömmigkeit“ und die Revolution in Wien 1918. In: Österreich in
Geschichte und Literatur 15 (1971), H. 8, 469-479; Marcus G. Patka: Egon
Erwin Kisch. Stationen im Leben eines streitbaren Autors. (1997) S. 43ff, Norbert Christian Wolf: Revolution in Wien. Die literarische Intelligenz im politischen Umbruch 1918/19 (2018), Guido Zamis: Kisch und die Rote Garde. In: Fritz Hofmann (Hg.): Servus, Kisch! Erinnerungen, Rezensionen, Anekdoten (1985), 208-233.

(ME)