N.N.: Sollen wir auf allen Vieren kriechen?

N.N.: Sollen wir auf allen Vieren kriechen? Dr. Max Graf Thun-Hohenstein und seine Körperkultur. (1930)

N.N.: Sollen wir auf allen Vieren kriechen? Dr. Max Graf Thun-Hohenstein und seine Körperkultur.

Es lohnt sich, Dr. Max Graf Thun-Hohenstein, dessen neuartige Körperkultur revolutionierend zu wirken anfängt, einen Besuch abzustatten. Zu den bisher mehr oder minder lebhaft besprochenen Sensationen seiner Schule gehört, daß dort die Menschen auf allen Vieren kriechen. Kopfschüttelnd sah ich unlängst diesem Treiben zu, als einer von den Be­geisterten, die eben ihre mühsam erlernte Kunst erprobt hatten, mir mit spöttischem Humor sagte: „Haben Sie schon einmal gesehen, daß ein Pferd Gelenksübungen macht? Ich meine so: Zwanzigmal niederhocken und wieder aufstehen, Beine seitwärts stoßen, je zehnmal Kopfkreisen links und rechts, nicken mit dem edlen Haupte und so fort. Ich habe noch kein so dummes Roß gesehen. Und auch den Leuten, die Pferde trainieren, fällt es nicht ein, das stolze Roß durch solche Übungen mit der nötigen Geschmeidigkeit und Muskulatur zu versehen. Also, was tun diese Leute? Sie lassen dem Pferd seine natürlichen Bewegungen und bestreben sich nur, diese zu veredeln oder noch besser: die Gangart rein herauszuarbeiten.“                                                                                                                           

Graf Thun hatte in seinen Holzpantoffeln und seinem wallenden violetten Sportmantel, der ihm fast das Aussehen eines Priesters der Naturlehre gibt, lächelnd zugehört. Was sollte aber ich mit solcher Weisheit anfangen? Graf Thun erläutert: „Die natürliche Bewegung ist das beste Training für Mensch und Tier. Gymnastische Uebungen macht man zeitweise, aber man bewegt sich den ganzen Tag. Kann man sich richtig bewegen so wird man auch jeden Sport ganz leicht erlernen und die mühselige Dressur des Sportlers wird, was die Grundbegriffe der Körperkultur anbelangt, zu neunzig Prozent erspart.“ Der Mann mit dem Humor kann sich nicht enthalten, diese Belehrung des Grafen Thun fortzusetzen: „Ein Mann, der zehn Minuten täglich trainiert, ganz so, wie es im Büchel steht, und während der übrigen Zeit des Tages seinem Körper alle Bewegungsfreiheit läßt, scheint nur einem Frommen ähnlich, der jeden Sonntag zwar eine halbe Stunde in die Kirche geht, während der übrigen Woche aber nur zum Schaden seiner Mitmenschen auf der Welt ist.“ „Ja, aber wie lernt man sich richtig bewegen?“

Graf Thun behauptet, die aufrechte Bewegung des Menschen sei nicht wesentlich verschieden von der horizontalen des Tieres, sie ist „nur“ transponiert. Er hat die Bewegungen der Tiere jahrelang studiert und nimmt sie als Vorbild für die Übungen, die er den Menschen vorschreibt. Warum aber soll der Mensch Übungen auf allen Vieren machen und warum nimmt Graf Thun gerade das Pferd als ideales Vorbild? — Nun, es gibt eben auch unter den Tieren eine Stufenleiter der Ent­wicklung und das Pferd dünkt ihm hinsichtlich der Bewegung als das entwickeltste und edelste. Es ist auch einer Veredlung seiner Bewegungen durch den Menschen fähig. Wieder mengt sich der Sarkastiker ein: „Wenn Sie sich beispielsweise einen Igel zum Vorbild nehmen, so zweifle ich stark, ob es Ihnen gelingen // wird, seine Gangart zu veredeln. Aber im übrigen steht Ihnen das frei, Sie können sich auch eine mährische Mastente zum Modell Ihrer Bewegungen erwählen.“                                      

Noch immer aber bleibt für den Besucher die Frage ungeklärt: Warum um Himmels willen dieser Reigen von Menschen, die auf allen Vieren kriechen?                                            

Da setzt sich wieder die Philosophie des Grafen ein: Der Mensch soll deshalb Vierfußbewegungen üben, weil er so zur Grundlage seiner transponierten Zweifußbewegung zurückkehrt und sich selbst auf diese Art ungeahnte Quellen des Körpergefühls, der Balance und der Kraft eröffnet. Tut er dies oft, so kehrt er gewissermaßen zu seinen Uranfängen zurück und — so setzt der Mann mit der Ironie unaufgefordert fort — entwickelt eine Kraft wie der selige Antäus. Und kaum daß er diese Pointe von sich gegeben hat, schöpft er schon neue Kraft, indem er auch die Hände zu Gehwerkzeugen macht und wild davon stürmt. Er sieht weder einem Menschen, noch einem Pferd ähnlich, eher einem anderen Tier, über das der selige Darwin beredten Auf­schluß gegeben hat.

Die Groteske dieser Art Körperkultur aber schwindet von Minute zu Minute, wenn man in den Übungssälen des Grafen Thun länger verweilt. Seine Erklärungen sind stets ungemein plausibel. Besonders interessant sind seine Parallelen zur Musik. Die Übungen des Grafen beruhen auf dem „Schritt“, dem „Trapp“ und dem „Galopp“, diesen vier Formen legt er musikalische Taktarten zugrunde. Den Walzer führt er auf den Galoppsprung zurück, dem seiner Ansicht nach der Dreivierteltakt innewohnt. Erinnert man sich recht, so trifft diese Anschauung des Grafen zu. Denn einst wurde der Walzer auf sechs Schritte getanzt und der Anblick der Menschen, die sich in seinem Takt bewegten, glich einer Herde junger Pferde. Und das Schnauben — mengte sich der inzwischen zurückgekehrte Sarkastiker ein —, besorgten die Mütter, die gerührt längs der Wände saßen.

Graf Thun ist aber nicht nur ein Reformator der Körper­bewegung, er ist auch Philosoph und Psychologe. Zu seinen Tieren zählt auch immer eine Reihe von Affen, die maßlos auf­ einander eifersüchtig sind. Wird der eine liebkost, wird der andere böse. Kürzlich befreite sich einer der größeren Affen aus seinem Käfig, stürzte sich auf ein kleines Kapuzineräffchen und erwürgte es auf der Stelle. Und dies nur deshalb, weil der Graf knapp vorher das Äffchen gestreichelt hatte. „Was sollte ich tun?“ erzählt der Graf. „Sollte ich den Mörder strafen? Hätte er gewußt, warum ihm Strafe widerfährt? Ich versuchte es, ihm seine Missetat zu Bewußtsein zu bringen, indem ich ihn ignorierte. Und siehe da, der Affe fing an trübsinnig zu werden, er aß nichts mehr und wäre fast eingegangen, wenn ich mich nicht noch im rechten Moment seiner erbarmt hätte. Und ich Unmensch hätte im ersten Augenblick fast ebenso an ihm gehandelt, wie er an seinem Stammesbruder.“

Man sieht, Körperkultur und Ethik vertragen sich recht gut, wenn man sie nur richtig zu begreifen vermag.

In: Neues Wiener Journal, 15.8.1930, S. 9-10.