Otto Abeles: Das Jiddische Theater in Wien. Aufklärendes über die „Freie Jüdische Bühne“

Otto Abeles: Das Jiddische Theater in Wien. Aufklärendes über die „Freie Jüdische Bühne“ (1924)

             In einem Hinterhaus der dunkelsten Leopoldstadt begann vor vier Jahren die „Freie Jüdische Volksbühne“ ihre Tätigkeit. Baratow entschloß sich dort, vom russischen zum jiddischen Theater überzugehen. Jarno erkannte Eigenart, Kraft und künstlerische Bedeutung dieser Vorstellungen und öffnete dem Ensemble seine Bühnen. Und Liebstoeckl, sehr bewegt nach der ersten Begegnung mit diesem Wiener jiddischen Theater – und sehr erstaunt über die Zrrückhalteung (heraus damit: Verschämtheit) israelitischer Fachkollegen – schrieb in seinem Referat: „Wess Herd dies auch war, hier durft‘ ich rasten“

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             Ich nehme das schöne Wort auf. Inzwischen hat man ja in Wien auch die Abende der „Wilnaer“ und jüngst erst die des New Yorker jiddischen Künstler-Theaters genossen und es ist angebracht, einiges über das Idiom zu sagen, das an diesem Herde gesprochen wird. Über die Menschen, denen dieser Herd Heimat ist. Über die Wärme, die er spendet. Über die Geistigkeit, die seine Flamme nährt.

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             Jiddisch ist die Sprache von rund zehn Millionen und sie ist vom Kai-Jargon ungefähr so weit entfernt, wie etwa die grammatikalisch einwandfreie Freitags-Predigt eines preußischen Reformrabbiners vom wesenhaften Deutsch entfernt ist.

             Kai-Jargon: das ist im besten Falle butterweiche, jämmerliche, um Mitleid bettelnde Sentimentalität – wie bezeichnend, daß sich just das Wort „nebbich“ hier erhalten hat – im schlechtesten (häufigsten) Falle aber zynischer Fatalismus, dem Selbstbeschmutzung eine erheiternde Angelegenheit ist.

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             „Jiddisch“, das ist ungebrochene Kraft der Empfindungen (himmelweit entfernt von degenerierter Sentimentalität), Inbrunst, Leidenschaft, Freude, rasender Schmerz, Humor – hohes Lebensgefühl. Es sind nicht nur Beispiele für die Prägnanz der Sprache, sondern weit mehr für die Wesenheit ostjüdischer Menschen, die ich jetzt anführe. Ausdruck für sehr dunkle verzweifelte Lebenslage ist das Wörtchen: „nischt gitt“, für freudigste Dankesbezeigung das Wörtchen: „a Dank“.

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             Die Menschen, in deren Bürgerwohnungen, Massenquartieren, Spelunken, Schnapsbuden, Kellerlöchern dieser Herd steht, kommen ausnahmsweise von der Börse und niemals aus Kaffeehäusern, Nachtlokalen, Redaktionsstuben und von Turfplätzen heim. Sie sind Fuhrleute und Fischer, Schnapsbrenner und Kleinkrämer, Landwirte und Schänker, Talmudisten und Spielleute; sie sind Mystiker oder Zuhälter, hungernde Idealisten oder gemästete Plusmacher, Arbeiter oder Ausbeuter, Höhenmenschen von reinster Gesinnung oder gehaute Gauner – kurz, sie sind das Volk. Sie wohnen im „Städt“ beisammen oder in einsamen Gehöften, die sie nicht trennen können. Sie sind einander verbunden in grausamsten Gefahren, bedroht: von Folternot der nächsten Stunde, aber auch in herrlicher höchstlebendiger Heiterkeit. Sie kennen einander bis zurück ins dritte oder vierte Geschlecht beim Vornamen. Ihre Stuben sind von köstlichen Volksliedern und ergreifenden, frommen Weisen durchzogen, von hundert wesenhaften Mythen und Legenden überrankt, vom Glanz der Feiertagskerzen wunderbar erhellt.

             Unter dem schmutzigen Kaftan schlägt ein Herz, unter dem speckigen, niemals gelüfteten Käppchen sinniert ein ewig junger, ein heißer Geist, und wenn sie bei ihrem Herd sitzen, diese Menschen mit dem unfreien Gang und dem runden Rücken oder jene anderen mit dem vierschrötigen muskulösen Körper, der auch bei schwerster Arbeit in Urvätertracht gezwängt bleibt – dann heimliche Schönheit auf.

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             Höchstes Gut dieser Menschen – auch ihre Sprache zeugt dafür – ist die Lebensbejahung, die naive, trotz aller Bedrängnis ungebrochen fortwirkende, heilige Freude am Dasein. Eine Greisin, die alle ihre Angehörigen als geschlachtete Pogromopfer in der ukrainischen Erde zurückgelassen hatte, sagte mir: „Ich habe so viel mitgemacht, daß ich es verdiente, doppelt so lang zu leben…“

             Wer ostjüdischen Menschentum nahe kommen will, hat sich zunächst den Unterschied zwischen Kultur und Zivilisation klar zu machen. Bekanntlich ist nur für letztere der Seifenverbrauch ein Gradmesser. Dem Judentum fernstehende Menschen, wie Richard Dehmel und Herbert Eulenberg, haben die Wesenheit des Ostjudentums erkannt und es ist Zeit, daß der Westjude die selbstmörderische Unkenntnis des östlichen Judentums abbaut. Der Westjude könnte hier – man verzeihe das pathetische Wort – den Weg zu den Müttern finden.

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             Spiegel des Ostjudentums, Bild seines bunten, naiven Volkswesens, Zeugnis der überraschenden Lebendigkeit und Lebenskraft seiner Menschen ist das Jiddische Theater. Gemeinschaftsgefühl, blutrote Leidenschaft, Weißglut der Ekstase, Liebseligkeit, naive Gläubigkeit, grübelnder Geist, der mit Gott hadert, vor allem aber die unbedingte Bejahung des Lebens, als der herrlichsten Gabe des Himmels, die zu wahren und zu lieben ist, so lange noch ein Atemzug die Brust hebt – dies alles ist hier sinnfällig im künstlerischen Gleichnis gezeigt.

In: Die Bühne, H. 2 (1924), S. 28.