Else Ehrlich: Brot setzt sich in Bildung um

Else Ehrlich: Brot setzt sich in Bildung um (1926)

Das ist das Tröstliche an der Gründung der Arbeiterhochschule, daß sie, da die sozialdemo­kratische Partei die Hammerbrotwerke nicht mehr halten konnte, die Riesensumme, die ihr der Verkauf brachte, dazu verwendete, jenen, denen sie nun nicht mehr das Brot des Lebens reichen kann, das geistige Brot zu bieten, das so manchem nicht minder nottut, wie jener Bissen, den er sich oft vom Munde abspart, um dieses zu erlangen.

In dieser Gründung ist ein neuer Zug zu bemerken, der sie über den Geist der Parteien hebt, der endlich einmal einigen intelligenten und künstlerisch veranlagten Menschen gestattet hat, ein Werk nach ihren eigenen Ideen, nach ihren eigenen Plänen, ohne Begutachtung durch Kommissionen und Behörden zu entwerfen und zu verwirklichen, ein Werk, das vorläufig nur auf zehn Jahre gedacht — für diese Zeitspanne wurde das Maria Theresien-Schlössel in der Sickenberggasse von der Gemeinde Wien in Miete genommen —, doch Ewigkeitsaspekte zeigt. Das alte Schlössel, dessen großer Festsaal — der Vorlesungssaal —, der mit Fresken von Altamonte geschmückt ist, das infolgedessen unter Denkmalschutz steht und keinen Privaten zur Wohnung überlassen werden kann, ist erst vor einem Jahr in den Be­sitz der Gemeinde Wien übergegangen. Anfang November aber erst begann der Direktor der Arbeiterhochschule, Josef Luitpold Stern, mit dem Umbau nach den Plänen des Architek­ten George Karau. Aus einem wüsten Durcheinander entstand in wenigen Wochen ein schmuckes Heim, dessen Aula drei großzügige Fresken von Rudolf Otto Schatz schmücken, das in seinen, ohne jeden Pomp und doch nicht als Armeleut-Wohnung eingerichte­ten Schlafsälen und dem gediegenen Speise­saal und Studienraum zweiunddreißig Menschen beiderlei Geschlechtes geistige und körper­liche Nahrung und Wohnung zuträgt.

Jeder Lehrgang umfaßt sechs Monate. Zehn der Teilnehmer werden von der Gewerkschaftskommission, zwanzig von der Partei aus­gewählt. Es sind darunter fast durchaus Arbeiter, die direkt aus den Betrieben kommen und nach vollendetem Lehrgang wieder in diese zurückgehen. Unter den zweiunddreißig Hörern sind sechs Mädchen und Frauen; sie allesamt genießen diese Ausbildung auf Kosten des Ver­eines Arbeiterhochschule, und jenen, die ver­heiratet sind, wird von eben dieser Stelle jene Summe zur Verfügung gestellt, deren ihre Familie zum Leben bedarf.

Um halb 7 Uhr morgens geht das Tage­werk an. Von 7 bis 8 Uhr wird in der Aula geturnt, dann kommt das Frühstück. Von ¼ 9 bis 12 Uhr sind, mit einer viertelstündigen Pause für das zweite Frühstück, Vorlesungen, um ½ 1 Uhr ist Mittagszeit. Bis 5 Uhr beschäftigen sich die Hörer mit der Verarbeitung und Wiederholung des Stoffes, wobei ihnen eine reiche Studienbibliothek zur Verfügung steht. Um sich diese Wiederholung und Verdauung zu erleichtern, sind die Hörer in sechs Arbeitsgemeinschaften geteilt, die den Lehr­stoff gemeinsam erarbeiten. Von 5 bis 6 Uhr ist Seminar, um ¾ 7 Uhr Nachtmahl; dann kann jeder tun, wonach sein Sinn steht. Die Gemeinsamkeit hat sich aber so rasch herausgebildet, daß in diesen Tagen schon siebzehn von den zweiunddreißig sich zu gemeinsamem Theaterbesuch einten, während das Gros der anderen sich daheim zu Musikstudium und Lek­türe gesellte. Jeder Hörer bat das Recht von Samstag bis Sonntag auf Urlaub zu gehen.

Der Lehrplan umfaßt Sozialpolitik und Arbeiterrecht, Schutztechnik und Genossenschaftswesen, Gewerberecht und gewerkschaft­liche Wissenschaften, Gesetzeskunde Einfüh­rung in die Hauptabschnitte der Rechtskunde, Familien- und Erbrecht —, kurz gesagt: wir sehen eine staatswissenschaftliche Fakultät ent­stehen. Der nachmittägige Seminarunterricht umfaßt ein volkswirtschaftliches und statistisches, ein journalistisches und rhetorisches Seminar.

Als Lehrer werden vorzugsweise Sozialisten gewählt, gewollt und gesucht, die gleichzeitig Forscher und Praktiker sind, also praktische Ge­lehrte, Männer, die in der Wissenschaft und der Parteibewegung vollkommen verankert sind. So liest Renner Staatslehre, Otto Bauer Nationalökonomie, Max Adler Ge­schichte der Ideen des Sozialismus, Doktor Palla über soziale Politik. Kunfy, Volkssekretär in Ungarn zur Zeit der Kommune, liest europäische Geschichte ab 1789, und Universitätsprofessor Otto Neurath deutsche Wirtschaftsgeschichte bis 1789. Der Präsident des Nationalrates Eldersch macht die Hörer, mit dem Versicherungswesen vertraut, Arnold Eisler liest über Rechtskunde. Die einzige Frau, die sich lehrend an der Arbeiterhoch­schule betätigt, ist Frau Helene Bauer, die Gattin Otto Bauers, die das wirtschaftlich-statistische Seminar leitet.

Neben der Pflege des Verstandes wird aber auch Wert auf Charakterschulung und Gemüts­bildung gelegt. Die erstere zu erreichen, ist die Anstalt in die Hand der Schüler gelegt, selbst verständlich unter Kontrolle des Vereines. Das bedeutet für die Hörer keine Belastung, da ihnen Hilfskräfte zur Verfügung stehen; die Entwicklung der Solidarität läßt sie über die kleinen Mehrarbeiten, die ja dem Arbeiter durchaus vertraut sind, mit Freuden hinweggehen. Die Schulung des Gemütes wird durch Veranstaltung von künstlerischen Abenden, durch den Versuch, Sprech- und Gesangschöre zu schaffen und durch gemeinsamen Besuch von künstlerisch hochwertigen Veranstaltungen ge­fördert.

Der Verein Arbeiterhochschule hat es aber auch verstanden, einen Direktor an die Spitze der Volksuniversität zu setzen, der aus dem Volke hervorgegangen, in dessen Interessen ver­ankert, mit Leib und Seele seit seinem fünf­zehnten Lebensjahre mitten im Parteileben steht, der nicht nur als Staatswissenschaftler Bücher von dauerndem Werte geschaffen, son­dern der auch künstlerisch über das gewöhnliche Maß weit hervorragt. Josef Luitpold Stern, der erst seit Anfang November wieder in Wien weilt, wird in den nächsten Wochen Soziale Balladen, mit Holzschnitten von Rudolf Schatz, erscheinen lasten, die das erste bibliophile Werk sein werden, das zu einem ganz unglaublich billigen Preis, zirka fünf Schilling, erscheinen wird.

Er ist es auch, der den wunderhübschen Gruß erdacht hat, der das Freimaurerzeichen der Zusammengehörigkeit der Hörer dokumen­tiert. „Freundschaft!“ sagt mir mit gewinnendem Lächeln die junge Hörerin, die aus dem Bureau des Stadtschulrates zur Weiterbildung auf der Arbeiterhochschule gewählt wurde, da sie mir die Hand reicht, und „Freundschaft“ sagen im vertrauenden Ton die jungen Arbeiterhörer, die mich zum Ab­schied in die Aula begleiten.

In: Der Tag, 24.1.1926, S. 8.