Otto Koenig: Das proletarische Leben

Otto Koenig: Das proletarische Leben (1920)

             Als Alfons Petzold zu Anfang dieses Jahres Franzl, die Geschichte einer Kindheit im Nestroy-Verlag erscheinen ließ, mochte in manchem Leser das Gefühl aufkommen, daß dieses drastisch-tragisch, psychoanalytisch packende Buch der Geschicke und Geschichte „eines armen Vorstadtwaserls“ zu den Bruchstücken einer großen Komposition zähle, wie das bei epischen Werken lyrischer Autoren zu allermeist zutrifft, wie das bei Alfons Petzold im Roman Erde und in den Novellen Von meiner Straße in erhöhtem Maße zutraf. Hat man aber Petzolds im Sommer dieses Jahres bei Ullstein erschienenen Roman (!) „Das rauhe Leben“ gelesen, dann weiß man, daß in äußeren Lebensschicksalen und in seelischer Veranlagung zwischen dem heißen, derben, prächtig veranlagten, aber verwahrlosten Franzl und dem scheuen, gar wohl erzogenen Alfons keine Beziehung besteht, daß Der Franzl nur den „Memoiren eines Auges“ angehörte, Das rauhe Leben aber denen des Herzens entsprungen ist. – Daß der ganze Franzl und sein zwischen Alkoholdünsten und Liebensbrünsten verelendeten Eltern und Älterer veramseligtes Dasein und unheimlich beschleunigtes Ende ehrlich geschaut, aus des Unterbewußtseins geheimnisvollem Wissen hervorgeholt wurde und eben deshalb trotz deutlicher Tendenz poetisch verdichtet erscheint, soll damit dem kleinen Werkchen, das sich so verblüffend autobiographisch gibt, nicht abgesprochen sondern ausdrücklich zugesprochen werden. Aber der Franzl verhält sich zum rauhen Leben wie innere Wahrheit zu äußerlicher Wirklichkeit und nicht der Franzl, aber Das rauhe Leben wird vom Verfasser, sei es aus literarischem Raffinement, sei es aus Bescheidenheit, ein Roman genannt. Ist aber, so sehr auch Petzold die jedem autobiographischen Werk unentbehrlichen Brücken, Einbauten und Umbauten mit Fontane, an dessen autobiographische Schriften sein Buch erinnert, wichtiger zu nehmen scheint als Rousseau, Goethe, Seume, Grillparzer, nicht mehr und nicht weniger als eine echte, rechte Selbstbiographie: die Schilderung des proletarischen Lebens, wie es Alfons Petzold erlebt hat. Im Drange der Wirklichkeitsschilderung, im natürlichen Eifer, seinen persönlichen Neigungen, Rücksichten und Abneigungen möglichst unverfälschten Ausdruck zu verleihen, hat Petzold in seiner mehr als fünfhundert Seiten starken Erzählung versäumt, zu ballen, zu kombinieren, zu bauen – wodurch ja doch erst die Kunstform des Romans entsteht – und sich wie viele Größere vor ihm mit der einfach linearen Anordnung der zeitlichen Aneinanderreihung , mit der einfachen Verknüpfung durch die Einheit seiner Person begnügt. Außer dem Umfang und den Kapitelüberschriften ist im Rauhen Leben nichts zu finden, was auf die konstruktive Eigenart der Romanform hindeutete. Das rauhe Leben ist kein Grüner Heinrich!

Aber gerade dieser Mangel verleiht dem neuen Buch seinen eigenen Wert. Nicht als ob die Geschichte des proletarischen Lebens gerade Alfons Petzold – dieses reichte bekanntlich bis Alland, worauf ein anderes begann – von vornherein die Anteilnahme der Allgemeinheit fordern dürfte. Noch kann das literargeschichtliche Interesse an Petzold nicht groß genug sein, um eine Selbstbiographie zu rechtfertigen, noch hat Petzold als Neununddreißigjähriger nicht die nötige Distanz zu seinem eigenen jugendlichen Ich, um jener Selbstanalyse fähig zu sein, die ein literarisches Selbstporträt erst ermöglicht. Endlich, des darf man gewiß sein, würde der Sozialist in Petzold die Wichtigkeit der Entwicklung und des Schicksals seiner Einzelindividualität so hoch unmöglich schätzen, um daraus Literatur zu machen, wenn er nicht mehr und Wichtigeres zu bieten hätte als seinen persönlichen Werdegang. Und tatsächlich, ein feines Empfinden hat diesen Titel geformt, heißt sein autobiographisches Buch Das rauhe Leben, nicht „Ein rauhes Leben“. Tatsächlich ist das rauhe Leben des Proletariers, das zu frühester Erschöpfung, Krankheit und elender Verendung hinreißende, erbarmungslose Leben des proletarischen Hilfsarbeiters, aller Proletarier in seinem typischen, zwangsläufigen Verlauf geschildert und die Person des Verfassers kommt nur in Betracht als die juridische Person des Anklägers, zum Sprecher wohl geeignet, da ja Petzolds „Auge und Ohr stets auf die Entdeckung der verborgensten Zeichen des Elends aus war“. Der Autor, der Erzähler, der Erleber, der frühzeitig gute Werke macht, vom Coupletfabrikanten zum lyrischen Dichter aufsteigt und nur weil er dieses wurde, durch Extrafürsorge aus den Krallen des Todes gerettet wird, nachdem die für Proletarier vorgesehene Kräfteausnützung und Scheinspitalpflege ihn bis hart an die dunkle Grenze getrieben hat, ist zufälliges Beiwerk und nebensächlich. Das heißt nur dann, wenn man nicht gerade dies wunderbare Ausnahmsschicksal, das einen einzelnen um einer Tätigkeit willen, die ihn im sozialen Sinne noch nicht zum wertvolleren Menschen macht, aus automatisch zerreibenden Räderwerk errettet, als die Probe auf das Exempel von der jämmerlichen Gesellschaftsordnung gelten lassen will.

             Die Geschichte des nach verunglückten Lehrbubendebüts als Hausknecht, Fensterputzer, Austräger, Zughund herumgestoßenen Hilfsarbeiters aus der industriellen Reservearmee der Großstadt, deren frühe Invalide mit sorgsamer Kaltherzigkeit „ohne Aufsehen“ durchs Spital- und Friedhofstor ins Schachtgrab spediert werden, war und ist durch ihre ewige Wiederholung geeignet, in einem weit größeren Kreise von Proletariern Mitgefühl und Interesse zu erwecken als die nach Berufszweigen oder Heimatszugehörigkeit in ihrer unmittelbarsten Wirkung beschränkten Memoiren von Bromme, Fischer, Holek, Köhler, Rehvein oder was wir sonst an Arbeiterlebensbildern haben. So ist Das rauhe Leben von Petzold schlechthin „Das proletarische Leben“, mit der ausdrucksamen Bildersprache des Lyrikers geziert, durch die Überempfindlichkeit des Kränklichen in seiner gemütlichen Wirkung gesteigert, ein Buch, wohl wert, in unseren Arbeiterbibliotheken Heimat und fruchtbare Verwendung zu finden. Nur stutze der junge oder alte Proletarier, der es mit tiefer Anteilnahme lesen wird, nicht, wenn er gegen Ende darauf kommt, daß sich der proletarische Verfasser des „Empörerwahns“ bezichtigt. Petzold kann nach seinen Erfahrungen gar nicht meinen, daß Empörung Wahnsinn sei oder daß es Wahn war, daß er sich empört fühlte. Er meint nun – wie könnt‘ es anders sein, wenn er nicht frivol sein Buch und sein Leben um Ernst und Weihe bringen will – daß sich seine Empörung über ein normales Maß hinaus gesteigert hat. Aber diese Mißverständlichkeit, deren Erklärung unvermeidlich ist, wenn man den Autor nicht boshafterweise in schiefem Lichte schauen will, ist ein Anzeichen jenes großen Gebrechens, das nun Petzolds neues Buch leider von literarischen Büchern im ästhetischen Sinn unterscheidet: Ärger noch als im Franzl ist das Deutsch im „Rauhen Leben“! so schlampig, so schludrig, so salopp, so von gedankenlos schlecht gewählten Worten, papiernen Fügungen und umgangssprachlichen Unarten durchsetzt, daß man den durch seines Lebens Schicksal und seiner Lyrik Geschick gleich sympathischen Autor wohl mahnen muß, er möge im treuen Gedenken der schönen, sicheren Zielstrebigkeit seines autodidaktischen Bildungsganges die Mühe nicht scheuen, die es gar vielen guten Lyrikern macht, gute Prosa zu schreiben.

In: Arbeiter-Zeitung, 8.12.1920, S. 2.