Zygmunt F. Finkelstein: Vom sterbenden Chassidismus

Zygmunt F. Finkelstein: Vom sterbenden Chassidismus. (1922)

(Anläßlich einer Neuausgabe des Romans ›Das pojlische Jingele von Lienietzki‹[1]

             Dieser Roman war einst ein Lehrmeister von Millionen. Es war der vollendetste Ausklang des sterbenden Chassidismus und dessen rücksichtslos entschleiertes Angesicht. Von der ganzen Flut der Romane und Erzählungen, die von den Mit- und Nachläufern Mendeles geschaffen wurden, ist es wohl das einzige Werk, welches noch heute durch den Hauch sprudelnden Lebens und herzerquickender Heiterkeit unvermindert fortwirkt. Freilich ist dieser Umstand auf das Kulturhistorische dieses Romans zurückzuführen. Es ist das urwüchsige chassidische Leben, welches in fabelhafter Plastik mit dem Geschick eines Judenjungen an der Wende von Jahrhunderten verwoben wird und durch das überlegene Lächeln eines Philosophen zur geschichtlichen Tragik emporwächst. Der Cheder, die Klaus, Jeschiwah und Talmud-Thora – all die Marksteine des jüdischen Leidensweges eines jungen Chassids , erstehen hier in schillernder Pracht eines glänzenden Epikers und über all das Romanhafte erhebt sich eine bunte, eigenartige Gemeinschaft, die durch eine unendliche Unzulänglichkeit des allmächtigen Zaddik zum Zerrbild jüdischen Geisteslebens herabgedrückt wird. Novellistische Kleinmalerei eröffnet eine berückende Fülle kulturhistorischer Probleme und durch den unwüchsigen Humor einer Künstlerseele zittert der Entsetzensschrei eines Geschlechts von Gotterwählten, die im Morast des Lebens versinken.  

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Die idealisierende Art westjüdischen Literatentums verwirrt die Begriffe über den Chassidismus. Das Poetische überwuchert das Historische und durch einen falsch angebrachten Idealismus, der nur ein Ausdruck schöpferischer Unzulänglichkeit ist, wird die Lehre Balschemtows und seiner Jünger ins Abstrakte verzerrt, während die Wirkungen der chassidischen Lehre beinahe ausschließlich dem Alltag galten und im Alltag lediglich zu Blüte und Verfall gelangten. Nicht die chassidische Lehre, sondern das chassidische Leben scheint das Primäre zu sein und nicht eine Lehre schuf die chassidische Gemeinschaft, sondern überragende Persönlichkeiten, die mit wuchtiger Kraft die Menge um sich scharten und jeder Gemeinde einen oft grund­verschiedenen- Charakter aufdrückten.

Es sind keineswegs Sektengebilde, die im Laufe von Jahrhunderten entstanden, sondern reale Veranke­rungen gemeinsamer Lebensbedingungen und Anschau­ungen, rings um eine zentrale Persönlichkeit, die aus einer Menge herauswuchsen und dann automatisch diese Menge zu einem Eigengebilde mit einem erblichen Zaddik schmiedeten. So gab es Heilige und Charlatane, Seelenfänger und Weltweise, Parasiten und Schöpfer. Je nach Geschlecht, Individualität und Bedarf und keineswegs je nach hergebrachter Lehre und Dogma.

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Im Pojlischen Jingele erstarrt der blutwarme Alltag einer chassidischen Gemeinde zu einem monu­mentalen Gemälde von bleibendem Wert. Das chassi­dische Leben in einem polnisch-russischen Städtchen erblüht hier in tausend Farben und eine leichte, spöt­telnde Art umweht dieses ganze Lebe mit einem Hauch leiser Melancholie.

Freilich ist es eine Gemeinde an der Wende zweier Epochen und zweier Geschlechter, die dem Verfall ent­gegengeht. Einerseits ist es die Haskalah, die um die achtziger Jahre des vorigen Jahrhunderts das chassi­dische Leben zu unterwühlen begann, andererseits der

stolze Rabbinismus, der die Chassidim mit wütendem Haß zu ersticken sucht.

Während bisher die chassidische Gemeinde eine abgeschlossene Welt für sich darstellte, brach durch Gordon, Mane und Lebensohn eine mächtige Kulturwelle ins jüdische Leben herein, die die Uni­versalität des jüdischen Geisteslebens wiederherzustellen und die Tradition von Jahrtausenden mit dem Geist der Neuzeit zu verbinden suchte.

Das Geschlecht der Chassidim blieb auf dem Scheidewege stehen. Das Phantom zaddikischer Gottähnlichkeit zerfloß in nichts und die Enge des chassi­dischen Alltags lastete plötzlich zentnerschwer auf den Gemütern einer betörten und um die Realität des Lebens

betrogenen Jugend. Die einen rissen sich gewaltsam los, die anderen fluchten und fügten sich dem unentrinn­baren Schicksal.

Eine Zeit mächtiger Gärung, die eine aufblühende hebräische Dichtung befruchtete und aus der eine jüdische Volksliteratur beinahe unvermittelt hervorblühte. Während die erste mit prophetischem Pathos das Ganze des Volkes zu erfassen versuchte, riß die aus den

Tiefen der Volksmasse hervorströmende jüdische Literatur alle Schranken der Tradition nieder und ent­schleierte rücksichtslos die Fäulnis des jüdischen Volkslebens. Schon der erste Roman Mendeles setzte sich mit kühnem Schwung über die Autorität jüdischer Gemeindeführer hinweg und Linietzkis ebenbürtiges Werk wehte wie ein Sturmhauch über die chassidischen Gaukelspieler hinweg und entblößte rück­sichtslos ein Zerrbild geschichtlicher Verkümmerung.

Der riesige Erfolg dieses Romans zeugt von seiner Bedeutung. Er zerschlug unwillkürlich Heiligtümer, indem er ihr wahres Antlitz aufdeckte. Er zeigte den Chassid als willenloses Werkzeug eines Zaddiks und zeigte den Zaddik als zehrenden Schmarotzer an der

jüdischen Volksseele.

Er enthüllte die unerhörte Marter einer Jugend, die verwüstet und öde nach neuem Leben lechzte, und zer­pflückte den chassidischen Alltag in Atome von Genuß­sucht, Hohlheit, Laster und Heuchelei. Der zaddikische Volksführer wird zum drolligen Rattenfänger und seine aufgeblähte Gottesvermittlerei zum Gaukelspiel menschlichen Wahns.

Besaß noch die chassidische Gemeinschaft eines Balschemtow und seiner unmittelbaren Jünger den Schöpferdrang einer Erneuerung jüdischen Volkstums, so entartet hier die Einstellung des jüdischen Alltags in den Bereich göttlicher Inbrunst zu einer lächerlichen und umso gefährlicheren Tragikomödie hohler Selbstverherrlichung.

Der Zaddik, der verzückt die Augen stets gegen den Himmel rollt, indessen er gierig irdische Güter zu­sammenscharrt, wird hier vom Führer zum Nutznießer einer religiösen Patronanz herabgedrückt. Seine In­brunst wird zur List und seine Macht zum Phantom einer unwissenden Menge. Tausende Menschen strömen jahraus, jahrein in die Residenz des Zaddik, Existenzen werden geopfert, ein erschreckendes Elend frißt des Volkes Kräfte auf, damit nur der Zaddik in Saus und Braus seine >Sudoth< halte: und während seine gut bezahlten Ratschläge für die Menge in allen Lebenslagen als göttliche Gebote gelten, frönt der pompöse Volksgötze tausend geheimen Lastern, die ans Verbrecherische grenzen.

Es ist der Niederbruch eines göttlichen Gedankens und ein Niedergang einer chassidischen Gemeinschaft, die Linietzki mit leiser, eindringlicher Satire, die voll verhaltener Tränen ist, dahinmalt.

Mit prächtiger Plastik ersteht hier das bunte Ge­wühl einer chassidischen Kleinstadt mit all ihren Sorgen und Qualen, Kömödien und Tragödien. Der Dichter durchblickte seine Zeit, und da er am eigenen Leibe den Fluch der chassidischen Enge erlebte; brauchte er nur

wahrheitsgetreu zu schildern, um das Gespinst von Jahrhunderten von einem ganzen Geschlecht abzuschütteln. Und hier liegt Linietzkis geschichtliche Sendung: sein Roman war eine soziale Tat, die vielleicht das Pathos der ganzen maskilischen Literatur aufwiegt…

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Es ist ein Meiserwerk und das einzige, welches Linietzki geschaffen hat. Man erkennt wohl auf den ersten Blick, daß es mit Herzblut geschrieben ist. Aus einer chassidischen Gemeinschaft hervorgegangen schrieb er seine eigene Lebensgeschichte, indem er den Werdegang des polnischen Jingels schilderte. Von der Wiege bis zur Reife. Und mit der Reife kam die Ent­scheidung. Diese wird jedoch in diesem Roman nur angedeutet. Das Leben dichtete sie hinzu. Es war ein Kampf der unsteten Hast und des ewigen Ringens ums Judentum. Linietzki hat die Brücke vom Chassidismus zum realen Leben zerschlagen, doch jetzt erst begann der eigentliche Kampf.

So ward Linietzki der erste Chassid, der zum Maskil heranreifte – und wohl der erste Maskil, der zu Ende seines Lebens eine Synthese fand zwischen Aufklärung und Tradition, die im nationalen Gedanken mündete. Im Jahre 1839 in Podolien geboren und 1920 in Odessa gestorben, durchkostete er das gewaltige Ringen dreier Generationen ums neue Judentum. Als er sein Meisterwerk schrieb, glotzte ihn die Fratze eines verzerrten Mystizismus an; der unter dem Deckmantel religiöser Inbrunst das jüdische Leben zerwühlte — und als er dahinging, da erstrahlte in hellem Glanze die Idee der jüdischen Wiedergeburt.

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Das pojlische Jingele ist vielleicht der einzige volle, abgerundete Roma in der jüdischen Literatur. Ein Roman, der einen vollendeten Querschnitt einer Epoche darstellt. Während Mendeles Taxe, Wunschfingerle und die schier unendliche Zahl ihrer Nachahmungen eigentlich nur lose zusammenhängende Fragmente darstellen, die nur äußerlich zu einem Roman zusammengefügt werden, ist Linietzkis Pojlischer Jingele wie aus einem Wurf gegossen. Eine Autobiographie, die folgerichtig aufgebaut, von der Wiege eines Menschen an sein Schicksal in scharfen Zügen meißelt. Es sind keine Individualitäten, die hier zu  Trägern der Geschicke werden, es ist kein Menschenbildner, der mit epischer Gestaltungskraft Menschenwesen aus der Eingebung schafft, es ist die Masse glattweg, die hier zum Leben erwacht, und die vielen Kleinkrämer, Schnorrer, Gelehrte, Schwärmer und Parasiten und obendrein der Zaddik erscheinen wie Marionetten, die halb in Romantik, halb in Narretei ihr Leben dahindämmern und in der Beleuchtung eines satirischen Meisterwerkes zum Niederschlag einer ganzen Epoche emporwachsen. Bei Mendele mag die Satire nur die Zwiespältigkeit des jüdischen Daseins hervorkehren, bei Linietzki ballt sich die Vielfältigkeit einer sterbenden närrischen Welt zur Tragik eines ganzen Volkes.

In: Wiener Morgenzeitung, 23.4.1922, S. 3-4.


[1] Kwall-Verlag, Wien 1922; mit einer Vorrede von M. Silburg (Orig. FN)