Friedrich Austerlitz: Dunkle Jahreswende

N.N. [Friedrich Austerlitz]: Dunkle Jahreswende. (1919)

Ein Jahr, verdunkelt durch ein Übermaß an Leiden und Sorgen, ist abgeschlossen, und überaus traurig umwölkt ist die Zukunft, die das neue Jahr eröffnet. Die lebenden Geschlechter sind die Opfer des Weltkrieges, der Millionen verschlungen, und der Weltwirtschaftskrise, die über Millionen Hunger und Siechtum verhängt hat. Diese Krise einer Gesellschaftsordnung, die auf Gewalt und Entrechtung aufgebaut ist, hat ihren Höhepunkt noch nicht erreicht. Das rasende Emporschnellen der Preise aller Gebrauchsgüter, die sprunghafte Entwertung der Lohnkrone, das beispiellose Anschwellen der Papiergeldflut, der drohende Zusammenbruch der Staatsfinanzen: all dies sind nur die Gradmesser der wachsenden Verarmung der arbeitenden Menschheit, für die die Welt, die noch immer dem Götzen des Kapitalismus dient, nicht genug Nahrung, nicht genug Kleider, nicht genug Güter zur Fristung eines selbst kümmerlichen Daseins zu finden fähig ist. Und wie sich hierzulande aus dem breiten, düsteren Untergrund der in Elend versinkenden Massen das wahnsinnige Schwelgen in Luxus und Üppigkeit der besitzenden Klassen erhebt, so auf dem Untergrund des sterbenden Mittel- und Osteuropa die Fülle von Güterreichtum und Wohlbehagen Westeuropas und Amerikas. Die Welt ist todeskrank; sie ist übermüde einer Ordnung, die sie durch Krieg und Krise jagt und ohnmächtig ist, das von ihr erzeugte Chaos zu bändigen; sie trotzt dem Klassensystem, das die Säuglinge, die Kinder der Armen verkümmern und hinsiechen, die arbeitenden Frauen in ihrer Blüte welken läßt, die arbeitenden Männer vorzeitig hinwegrafft – während sich die Genußsucht der Reichen keine Grenzen setzt; sie empört sich gegen die Herrschaftsmethoden der Gewalt, die Europa zerrissen und zerklüftet und ihm eine Staatenordnung aufgezwungen hat, die diesen Zustand der Zerrissenheit verewigt.

Auf keinem Volke der Erde lastet der Wahnsinn der kapitalistischen Gesellschaftsordnung so schwer wie auf dem arbeitenden Volke Österreichs. Der Friede, den die imperialistischen Mächte in Paris geschaffen haben, hat unser Land verstümmelt, es aus einer großen Wirtschaftsgemeinschaft heraus­gerissen und ihm den Anschluß an eine andere Wirtschaftsgemeinschaft, an das Deutsche Reich, versagt. und ihm den Anschluß an eine andere Wirtschaftsgemeinschaft, an das Deutsche Reich, versagt. So wurde Deutschösterreich zu einem lebensunfähigen Gebilde, Deutschösterreichs Volk zum Bettlerdasein verdammt, Deutschösterreichs Arbeitskraft zur Beute der Plünderer aus aller Herren Länder. Der Tiefstand der österreichischen Krone verwandelte das Land derer, die von der Gnade aller leben, zu einem Paradies von Festesfreuden, die nirgendwo wohlfeiler zu kaufen sind. So sickert seit zwei Jahren das letzte Hab und Gut ins Ausland, so vermindert sich täglich der armselige Güterfonds, so schwillt stündlich die Flut der Verelendung über dieses unglückliche Volk an. Fast ist der Kelch des Jammers bis zur Neige geleert, die Grenze des Er­träglichen erreicht: es kann so nicht weiter gehen! Der Zustand, in den der Vertrag von Saint-Germain Österreich versetzt, ist unerträglich. Sind die herrschenden Mächte unvermögend, das Dasein der österreichischen Völker aus eigenen Mitteln zu sichern, dann muß ihm die Freiheit gegeben werden, im An­schluß an die deutsche Republik Hilfe zu suchen. Das vergangene Jahr hat die Krise des österreichischen Staates allen Augen der Welt sinnfällig offenbart; das künftige Jahr heischt gebieterisch ihre Lösung.

Aber in der Krise Österreichs spiegelt sich die Krise des ganzen Europas. Die Siegesmächte haben das Festland zerstückelt und willkürlich, nach ihren Herrschaftsinteressen, aufgeteilt. Sie haben damit vor allem die Wirtschaftskräfte Deutschlands unterbunden, die Produktionsbasis des Deutschen Volkes in einem Maß eingeengt, daß sein Dasein schwer bedroht ist. Aber mit dem Gedeihen Deutschlands, mit der Wiederaufrichtung der deutschen Wirtschaft ist das Leben und Gedeihen aller europäischen Völker verbunden. Bricht Deutsch­land unter der Last der Friedensbedingungen zusammen, so begräbt sein Sturz, auch Frankreich, Italien, die Tschechoslowakei und Polen, also auch jene Staaten, die im Überschwang der Siegesgefühle dem Deutschen Reiche den Karthagofrieden aufgezwungen haben. Europa ist eben eine unlösbare Einheit, von der ein so lebenswichtiges Glied wie das sechzigmillionenköpfige deutsche Volk in seinem Aufstieg nicht gehemmt werden darf, wenn das Ganze darunter nicht schwer leiden soll.

So heischt die Existenz des ganzen Kontinents eine Revision des Versailler Friedenswerkes, die dem Deutschen Reiche Luft, Entwicklungsmöglichkeit, die Grundlagen der Arbeit wiedergibt. Der Revision widerstreiten die imperialistischen Interessen der Siegermächte, vor allem die Frankreichs. Die überragende Stellung auf dem Kontinent, die ihm sein Sieg über das wil­helminische Deutschland gab, erscheint in der Vorstellung der französischen Machtpolitiker gefährdet, wenn sich Deutschlands Wirtschaftskraft zur früheren Größe wieder erhebt. Noch beherrscht sie die Furcht vor der deutschen Revanche, die sie an der For­derung der Erfüllung des Versailler Friedens unerbittlich beharren läßt. Aber der Krisenzustand Europas kann nicht überwunden werden, solange die Gewalt nicht dem Rechte, der Siegerwille nicht der Völkerversöhnung weicht, solange nicht die Grundlagen eines wirklichen Friedens geschaffen sind. Indes aber mehr als zwei Jahre seit dem Waffenstillstand vergangen sind, ist die halbe Erde noch im Kriege verstrickt. Noch sind die unermeßlichen Gebiete Rußlands mit ihren unausschöpflichen Naturschätzen aus dem Weltwirtschaftsverkehr ausgeschlossen, noch dienen die Millionen Arbeitshände Polens und Rußlands dem Kriegswerk, noch wütet im ganzen Vorderasien kriegerisches Verderben. Der Imperialismus, der den Weltkrieg entfesselt, läßt die Erde nicht zur Ruhe kommen, Und die Jahreswende, an der wir stehen, läßt Hoffnungen auf eine bessere Zeit nicht aufkeimen.

So leuchtet durch das Dunkel der Zeit die Idee des Sozialismus als die einzige Rettung aus diesem Weltenchaos. Die Götzenwelt der kapitalistischen Gewaltordnung ist im Versinken; sie hat sich selbst das Fundament untergraben, auf dem sie ruhte. Ein neuer Geist, ein neuer Wille ringt durch all das Entsetzen zur Tat. An dem Kapitalismus ist die Welt zu Tode erkrankt, an dem Sozialismus wird sie genesen. Und wenngleich der Weg auch lang und voll an Leiden ist: es gibt keinen anderen, und das Jahr, das nun anhebt, soll uns an seiner Neige dem Ziele bedeutet genähert zu finden.

            In: Arbeiter-Zeitung, 1.1.1921, S. 1.