Fritz Rosenfeld: Die Abenteuer einer Banknote

Fritz Rosenfeld: Die Abenteuer einer Banknote (1926)

Auf verschiedenen Wegen suchte das ausgehende neunzehnte und das junge zwanzigste Jahrhundert den Individualismus in der Kunst zu überwinden. Man machte die Masse selbst zum Helden oder ließ jedes Einzelwesen zum charakteristischen Vertreter, zum Musterbeispiel einer Gattung werden. Aber das Kollektivkunstwerk, Sehn­sucht unserer Zeit. erreichte man nicht. Auf dem Theater besonders konnte man mit der Masse als Träger des Kon­flikts nicht gut operieren. Da traten doch wieder Einzel­personen als Stimmführer hervor und die Masse selbst sank zur Statisterie herab. Bei der Typisierung der Menschen aber verbrauchte sich das Gestaltenmaterial allzu rasch. Es standen da immer wieder dieselben zehn Musterexemplare der Menschheitskategorien und fochten in einer wirklich­keitsfernen, kalten, abstrakten Welt ihre abstrakten Probleme aus. Das Verlangen, das Dasein mit seinen Kämpfen und Konflikten nicht nur im Aufriß, im beispiel­haften Einzelfall, sondern im Durchschnitt, in seiner ganzen Ausdehnung und Problemfülle zu zeigen, es auf­zurollen wie ein endloses breites Bilderband, konnte die Bühne nicht erfüllen und auch der Roman nicht. Der Roman brachte wieder eine Reihe von symbolischen Einzel­schicksalen, malte das Leben nicht mit großen Pinselstrichen, sondern setzte es mosaikartig aus winzigen Steinchen zusammen. Auch fehlte ihm die erhöhte Lebendigkeit gegenwärtiger Darstellung auf den Theatern. Nun hoffte man auf den Film. Er sollte den Ausgleich schaffen zwischen der Lebendigkeit dramatischer Gestaltung und der Aus­führlichkeit epischer Schilderung. Er sollte das Leben so festhalten, wie es sich bietet: ohne jedem Ereignis symbo­lische Bedeutung zu unterschieben, ohne das eine über das andre emporzuheben. Sollte den Weg zeigen, der von der individuellen Kunst zu einer neuen führt.

So lautet die Hypothese. Blieb noch das Exempel zu liefern. Drama. Roman, Idylle, lyrisches Gedicht, alles ist der Film, Raum und Zeit überspringt er, überfliegt er.

Menschenmassen agieren vor dem Objekt ebenso natürlich wie der einzelne Schauspieler im Licht der Jupiterlampe. Die Mittel sind also da, die Möglichkeiten sind gegeben. Blieb noch das Exempel zu liefern.

Bela Balazs hat es in seinem Film von den Abenteuern einer Banknote zu liefern ver­sucht. Da ist kein Ereignis, kein Problem, kein Konflikt, der gestaltet wird. Da tritt der Zuschauer die Reise quer durch die Wirklichkeit, quer durch das Leben der modernen Großstadt an. Auf dieser Reise braucht man einen Führer, ein Leitseil. Das ist die Banknote. Sie bindet die Schicksale der verschiedensten Menschen, führt durch alle Schichten der menschlichen Gesellschaft, dringt in alle Poren des Lebens. Sie ist, sie spielt Schicksal. Hier wird der Stoff sozial: das Leben wird unter dem Gesichtswinkel des rollenden Geldes betrachtet, das Zentrum und Triebkraft unserer Gesell­schaft ist.

In bunter Folge knüpfen sich die mannigfaltigsten Schicksale an einen Zehnmarkschein. Als neue Note bekommt ihn eine junge Arbeiterin, gibt ihn der Mutter: der Sohn stiehlt ihn, kauft ein Messer für die Note, mit dem er, derselben Note wegen, einen Mord begeht. Ver­folgt flieht er außer Landes. Der Zehnmarkschein wandert indes durch viele Hände. Trinkgeld ist er. Lohn, Geschenk. Einem Kinde bringt er Glück, dem andern Unglück. Er wird verloren. Frei flattert er in der Lust. Ein Krüppel will ihn erhaschen. An den Sohlen einer Bettlerin klebt er, die mit aufgespannter Hand bittend durch die Straßen jagt. Im Tresor eines großen Geschäftes findet er Ruhe: ein Einbruch fördert ihn wieder ans Licht. Katzen spielen mit ihm, Menschen jagen nach ihm. Die Kehrmaschine erfaßt ihn, fegt ihn auf den Müllhaufen. Von einem armen Teufel aufgestöbert, muß er wieder unter die Menschen. Kommt in die Hand des Pfandleihers und geht wieder für ein Pfand hinaus ins Leben. Schließlich landet er bei dem Liebsten jenes Mädchens, das ihn als erste er­halten: die jungen Menschen vergessen ihn über dem Glücke ihres Sichwiederfindens, ein Hund schnappt ihn, zerfetzt ihn, zerbeißt ihn, verschluckt ihn. Der Zehnmarkschein hat endlich Ruhe.

Der Grundgedanke dieses Films ist sicher dichterisch und ist filmisch ausgezeichnet. Aber die Durchführung ist leider nicht konsequent, und selbst wenn sie es wäre, müßte man die Durchschlagskraft eines Durchschnittsfilms dieser Art bezweifeln.

Die Inkonsequenz des Films ist wohl nicht Schuld des Autors. Er mußte Konzessionen an den Filmgebrauch machen, an den amerikanischen besonders, denn eine ameri­kanische Gesellschaft (F o x) ließ den Film in Deutschland herstellen. Da kam der süßliche Kanarienvogel herein, die kitschige Liebesgeschichte, die doch wieder zwei Menschen über den Durchschnitt, der gegeben werden soll, empor­hebt, also der Absicht des Werkes widerspricht, und manche Unwahrscheinlichkeit, die den Lauf des Banknotenschicksals

Liebespaar der Held werden und die Banknote nur das Band, das dieses Liebespaar mit der übrigen, Welt ver­knüpft. So blieb es versagt, der Banknote eine Seele zu geben — was allein diesen Film aus einer Darstellung ver­schiedener Einzelschicksale zu einer unheimlich-wirklichkeitsnahen, realistischen und gespenstigen Lebenswiedergabe hätte steigern können. Hat die Banknote keine Seele, dann treten nur Menschen auf den Spielplan, die zu dem ge­wünschten Gesamtbild ihren Beitrag liefern und wieder ver­schwinden. ohne eine Spur ihres Geschicks zu hinterlassen; es müßten aber rund im Kreise um diese Note die unerhörtesten Schicksale aufbrennen, beklemmende Schicksale, in harter Reihe eines hinter dem andern, und ohne daß ein einzelnes zuviel Licht auf sich zöge, müßte es sich unauslöschlich in die Erinnerung prägen: wie das die zahllosen winzigen Episoden tun auf der großen Treppe des Potemkin: dort huscht eine jede vorüber und ist doch eine gewaltige Tragödie, jede ein Augenblick und ein Menschenleben, jede eine Sekunde und eine Ewigkeit.

Das kann der Film geben, das muß er geben. Hier gibt er es nicht. Hier huschen Schatten vorüber, nicht Menschen. Hier wird aus Angst, der einzelne könnte zuviel Raum beanspruchen, nichts menschlich ergreifend packend, einprägsam geformt. Eine Reihe von Nullen soll denn die unendliche Zahl ergeben. Das ist der eine künstlerische Widerspruch des Films.

Im Wesen muß dieser Versuch eines Kollektivismus impressionistisch sein. Es werden Eindrücke erweckt, ge­sammelt. Diese Sammlung aber widerstrebt der drama­tischen Konzentration, die doch wiederum gewollt und auch notwendig war. Das ist der zweite Widerspruch in diesem Film. Und hier muß die Frage aufgeworfen werden, ob selbst der Film in seiner heutigen Gestalt den Durchschnitt durchs Leben bieten kann. Nach diesem Exempel möchte man die Frage verneinen. Neben den Versuch des epischen Nebeneinander muß, will der Film wirken, heute noch das dramatische Ineinander treten. Wir haben diese Form noch nicht überwunden und kennen noch keinen Weg, sie zu überwinden. Das bloße Nebeneinander ohne innere konkrete Bindung der Personen läßt den Film und mit ihm das Interesse des Zuschauers zerfließen. Wir brauchen in der unendlichen Flucht der Erscheinungen Einzelwesen, auf die sich unser Interesse konzentrieren kann. Die Mittel des Films reichen noch nicht aus, diese Flucht der Erscheinungen selber dramatisch fesselnd zu gestalten. Sie müßte durch eine Idee zusammengehalten werden. Nicht etwa nur um der äußeren Spannung willen, noch weniger der läppischen amerikanischen Forderung nach dem selig vereinigten Liebes­paar wegen. Der Lebensdurchschnitt als Ziel ist noch nicht möglich. Wohl der Lebensdurchschnitt als Mittel zum Zweck, wie er es im Potemkin gewesen. Dort

stand über der Schilderung der Wirklichkeit in den tausend winzigen Teilchen die große Gesamtidee des revolutionären Filmkunstwerks. Sie gab die fehlende Bindung, sie verschmolz die Bildchen zu dem großen Bild, das allein vorläufig unser Interesse wachzuhalten vermag.

Was dieser Versuch also erweist, ist vor allem: daß der Film in seinen künstlerischen Möglichkeiten über­schätzt wird. Man wähnt ihn ohne Grenzen. Er ist es nicht. Das Exempel zeigt, daß er Grenzen hat. Diese Grenzen finden, ist die wichtigste Aufgabe des Kunstfilms von heute. Denn wenn wir die Grenzen des Films kennen, dann kennen wir auch endlich den Film.

Die Ausführung dieses außerordentlich interessanten filmischen Versuchs war Bertold Viertel übertragen, der vom Theater her kommt. Das merkt man seiner Regie deutlich an. Sie ist in der Leitung der Darsteller etwas zu steif, so könnte der Schauspieler agieren, wenn er zur Ergänzung der Wirkung das Wort zur Verfügung hätte. Der spezifischen filmischen Ausdrucksmittel bedient sich Viertel immer nur, wenn er auf das Wesentliche des Vorganges hinweisen will. Darum arbeitet er mit einer Unzahl von Großaufnahmen. Sein Bemühen um neue Bildwirkungen erweisen die verschiedenen Einstellungen des Apparats zum Objekt. Unter den Darstellern ist nur Imogen Robertson wirklich gut, und auch sie nicht ganz der Typus einer Arbeiterin. In den unzähligen kleinen Rollen treten nur noch Oskar Homolka und Wladimir Sokolow hervor.

Alles in allem: ein verdienstvoller, aufschlußreicher, interessanter Versuch, die Filmkunst auf neue Wege zu führen, das Wesen des Films von einer andern Seite her zu ergründen. Er mußte ohne Erfüllung bleiben, weil die Probleme schwieriger sind, als sie scheinen, ohne Vollendung, weil das Filmgeschäft Zugeständnisse ver­langte. Aber es wurde ein eigenartiger und sehenswerter Film. Und das ist der dem heutigen Stande der Filmproduktion schon sehr viel.

In: Arbeiter-Zeitung, 31.10.1926, S. 20.