Gertrud Bodenwieser: Vom wahrhaft neuen Tanz

Gertrud Bodenwieser: Vom wahrhaft neuen Tanz. (1921/22)

Am Wiederanfang unserer neuerwachten Kunst brannte heftig der Kampf zwischen dem alten Ballettsystem und der neuen Richtung Isadora Duncans, die ihre Kunst und Formprinzipien aus der Antike holte (Delsartismus). Er schien mit einem Sieg der neuen Richtung zu enden, und nun kam eine Reihe von Jahren, da sich uns, wenn wir einen Tanzabend besuchten, fast immer dasselbe Schauspiel bot, eine Epoche der Erstarrung eben in diesem System. Man tanzte seine Bewegungen nach den bekannten Gesetzen und Abbildungen der Antike, in jener edlen Ruhe oder leicht abgemessenen Heiterkeit, wie uns eben das Griechentum überliefert worden war. Oder man ver­suchte die wienerische Note, wie sie von den Schwestern Wiesenthal, dieser schönen Verkörperung echtesten Wienertums, ins Leben gerufen wurde, in den Tanz zu bringen. Meistens hielten die Programme der Tänzerinnen die Mitte: Vorerst Chopin und Grieg – im griechischen Chiton ausgeführt, und zum Schluß ein Wiener Walzer im lichten Kleid, mit Blumen im Haar, mit kindlichem Lächeln auf den Lippen und dem Bestreben, walzerselig wienerisch zu wirken – ganz gleichgültig, ob man auch wirklich so empfand. Es schien, als gäbe es überhaupt nur diese Gruppe von Empfindungen – und selbst vor drei oder vier Jahren, zur Zeit meines

künstlerischen Anfangs, stand es immer noch so – die sich im Tanze ausdrücken ließen. Und wo hielten schon die Dichtkunst, die Malerei, die Musik? Überall, welcher Kunstgattung immer wir uns näherten, schlug uns kochend der heiße Atem unserer aufgewühlten Zeit entgegen. Überall deutlich fühlbar die Menschen und Rassen. Nur die Tanzkunst allein schien von all diesen Regungen unberührt geblieben, obwohl gerade in ihr die Möglichkeiten zur Verkörperung jedweder Empfindung ruhten.

Aus dieser innersten Überzeugung heraus unternahm ich denn das Wagnis, ohne Griechentum, ohne Walzer und Polkaschritt, ohne Reifrock und Menuett meinen ersten Tanzabend zu bringen. Ich tanzte nach der Musik von Korngold und Debussy, von Scriabine und Scott und versuchte, ihre erregten Rhythmen, ihre tief aufwühlenden Dissonanzen oder ihre groteske Komik in meinen Bewegungen wiederzugeben. Wenn es die Musik war, von der ich meine entscheidenden Anregungen erhielt, so war es die Malerei nicht minder, und Maler waren es auch, die meine ersten Schritte in die Öffentlichkeit leiteten. Vor allem Franz von Bayros, der große, fein fühlende Künstler, der mir nicht allein nur dadurch half, daß er mir in der verstehendsten Weise ergänzende Gewänder zu meinen Tänzen schuf, sondern mir auch immer Mut zusprach, meine Ideen ohne Zugeständnisse und Kompromisse zu verwirklichen. Als ich meine Kostüme fertig hatte, führte ich meine Tänze einem Kreis junger Maler, die sich unter dem Namen Neue Vereinigung zu einer Gruppe zusammengeschlossen hatten, vor. Sie fühlten, wie sie selbst sagten, Verwandtes in meiner Art zu tanzen heraus und luden mich ein, meinen ersten Wiener Tanzabend im Frühling 1919 in ihrer neueröffneten Ausstellung abzuhalten. Das war mein selbständiges Debüt in Wien und der eigentliche Beginn meiner Laufbahn. Und so wurde ich, als was ich mit einem vielumstrittenen, vielmißbrauchten Wort bezeichnet zu werden pflege: eine expressionistische Tänzerin.

Der Zusammenschluß einiger Menschen, die der gleichen Richtung angehören, zu einem Ensemble, das den Kunstkörper zu einem expressionistischen Ballett bilden könnte, wäre das nächste Ziel meiner künstlerischen Pläne. Die Gruppentänze, die ich im Verein mit dem Tänzer Ernst Walt und einigen meiner Schülerinnen in diesem Winter zur Aufführung bringen will, sollen bereits die Ansätze dieser meiner Lieblingsidee bilden.

In: Moderne Welt H. 9/1921-22, S. 11.