Felix Salten: Der unanständige Tanz

             Man muß nicht gerade ein Bischof sein, um sich über die modernen Tänze zu entrüsten. Shimmy und Foxtrott, Blue und Tango haben eine ganze Menge andere Feinde, die ansonsten beileibe keine Seelenhirten sind. Erst noch der emsig zappelnde Charleston und der aufreizend drollige Black Bottom wecken erbitterte Gegnerschaft. Wie viele Leute geraten schon in Wut, wenn das Orchester spielt, das diese neuen Tänze begleitet. Der stöhnende Singsang des Saxophons, das Schlagwerk, bis zu rasenden Exzessen entfesselt, die gestopften Ziehposaunen und die Hörner, deren strahlendes Leuchten zu komischem Jaulen erlischt…, „ich bitte Sie, ist das noch Musik?“ Mit empörten Augenfunkeln wird diese Frage oft gestellt. Haß und Verachtung schwebt dann um die festgeschlossenen Lippen, wenn man lächelnd antwortet: „Ja.“

             Zumeist sind es sehr ehrbare und sehr ernste Menschen, die solchen Zorn gegen die Jazzkapellen sowie gegen die neuen Tänze aufbringen. Es sind Frauen und Männer, alte und junge, und ihr Ernst wie ihre Ehrbarkeit bleiben schließlich das Einzige, was ihnen zum Vorwurf gemacht werden kann. Weil ihre Abkehr von all dem modernen Wesen gar oft den pharisäischen Unterton hat: Herrgott, ich danke dir, daß ich nicht bin wie diese! Denn auch die anderen, diejenigen, die am Saxophon, am exzessiven Schlagwerk Gefallen finden, die anderen, die Shimmy tanzen, Charleston zappeln, Black Bottom zucken, jawohl, auch diese sind durchaus ernste und zum überwiegend größten Teil ehrbare Menschen. Sie denken sich weiter nichts, wenn sie derart auf den leichten, fröhlichen Schaumwellen der sonst so schweren Gegenwart dahinschaukeln.

             Den Bischöfen, Kardinalen und ihren untergebenen Priestern, den Prälaten, Kaplänen kann man den Widerstand gegen die neue Form des Tanzes, weiß Gott, nicht verargen. Sie sind […] dem Treiben dieser Welt doch ein wenig fern, sind ihm doch ein wenig fremd, und es gehört zu ihrem Beruf, in allem, was sie nicht ganz verstehen, in allem, was Gewohnheit nicht approbiert hat, Sünde zu wittern oder Entartung. Das dauert so lange, bis sie dahinter kommen, daß sich das Maß der Sünde in der Welt so ziemlich gleich bleibt, jetzt wie vor hundert Jahren […] Sie werden sich eines Tages erinnern, wie oft die Menschen wegen ihrer Sündhaftigkeit verdonnert wurden, wie man ihnen  von einem zum anderen Säkulum Entartung prophezeit hat; sie werden feststellen müssen, daß die Menschen mit der unaufhaltsam fortschreitenden Zeit im ganzen sanfter, humaner, // sittlich verantwortungsvoller geworden sind. Und wenn die Bischöfe sich auch kaum entschließen dürften, den Jazz und Fox zu segnen, was man von ihnen gar nicht verlangt, so werden sie doch auffhören, dem Saxophon und dem Charleston zu fluchen. Was man ruhig erwarten kann.

             Anders die Leute, die den Tanz der Gegenwart beschimpfen, um von ihrer brav konservativen Gesinnung Zeugnis abzulegen, um ihre Anhänglichkeit an alles „Gute, Edle und Schöne“ zu betonen oder um ihre Anständigkeit nur recht hervorzuheben. Die sind niemals und durch nichts zu versöhnen. Ws sie brave konservative Gesinnung nennen, ist ein Erstarrtsein in einer gewesenen, nie wieder kommenden und nie wieder möglichen Gesellschaftsordnung. Was ihnen das Gute, Wahre und Schöne bedeutet, gilt dem lebendigen Heute nur noch als der altväterliche Trödel von vorgestern. Und ihre Anständigkeit…, du lieber Himmel! Wenn man die Wahl hat zwischen Menschen, die sich unbedenklich und harmlos der Gegenwart hingeben, und Menschen, die säuerlich preziös ihre ausgezeichnete Anständigkeit hervorheben, soll man keine Sekunde zaudern, sich für die Unbedenklichen zu entscheiden. Anständigkeit bleibt unter allen Umständen stillschweigende Voraussetzung. Eine Anständigkeit, die überhaupt von sich redet, wird zur Beleidigung für alle übrigen Menschen, wird abgeschmackt und außerdem verdächtig. Mit diesen Leuten lohnt es gar nicht, zu diskutieren.

             Höchstens kann man mit denjenigen sprechen, die bisher nur aus Indolenz in die Verurteilung der neuen Daseins-, Umgangs- und Tanzformen eingestimmt haben. Mit denjenigen, deren Augen das Heute noch nicht sehen gelernt haben, deren Ohren die Gegenwart noch nicht zu belauschen vermochten, deren musikalischer Sinn sich dem modernen Rhythmus noch nicht anpassen konnte. Aber wie oft soll man ihnen denn sagen, daß neue Tänze allemal mehr mit sozialen und kulturellen Umwälzungen zusammenhängen, als mit gesteigerter Unsittlichkeit oder gar mit um sich greifendem Laster. Als man Sarabanden tanzte, Gavotten schritt und Menuette, waren die Menschen gewissenloser, verbuhlter und demoralisierter denn je vorher oder nachher. Im Ballsaal berührten die Paare einander freilich nur an den Fingerspitzen. Kein Herr hätte auch nur daran gedacht, daß es möglich sei, die Dame, die er zum Tanz führte, um die Mitte zu nehmen, sie im Arm zu halten. Aber alle Welt wußte, damals wie heute, aus Memoiren, aus Geschichtswerken, aus den reizenden Gemälden des Watteau, aus zahllosen Kupfern, die man jetzt pornographisch nennt, wie arg, wie orgiastisch, wie ungeniert es in den Alkoven, in den Boudoirs und in den famosen Gartenhäuschen zuging. Die königlichen Höfe, die damals mit den Feudalaristokraten herrschten und den Ton angaben, verhüllten ihre Ausschweifungen mit dem umständlichen Zeremoniell zimperlicher Manieren. Gewiß, der Tanz wird immer von erotischen Trieben bewegt, doch es bleibt immer ganz falsch, den Tanz als das Maß der Erotik, als das Kennzeichen für die Sitten oder die Sittenlosigkeit einer Epoche zu nehmen.

             Wie oft soll man die Leute daran erinnern, daß alle harten, alle herben Worte, die heute dem Foxtrott und dem Charleston gelten, schon einmal gesagt wurden, ebenso hart und ebenso herb. Vor mehr als hundert Jahren. Ueber den Walzer, der jetzt als der sittsamste aller Tänze gepriesen wird. Einst kam der Walzer gleichsam als Umsturzerscheinung, wie die modernen tänze jetzt als Folgen des Umsturzes kommen. Er kam nach der französischen Revolution, in der die Zierlichkeit des höfisch-adeligen Menuetts von der rasend triumphierenden Carmagnole zerrissen wurde. Er kam aus dem Bürgertum, das, auch unter dem politischen Druck nach Waterloo, geistig erwacht und befreit war. Im Walzer pochte der Rhythmus jener Zeit, schwang die herzhafte Aufrichtigkeit der einfachen, gesunden, tüchtigen Bürgerseele. Dennoch wurde der Walzer gerade so beschimpft wie heute Shimmy und Black Bottom beschimpft werden. Daß der Herr seine Dame um den Leib faßt, an sein Herz drückt, daß die Dame ihren Arm um die Schulter des Herrn legt, hat man damals genau so verspottet wie heute das zappelnde Gestammel des Charlestons. Sogar der böse Scherz, den man jetzt über die modernen Tänze macht, wurde damals vom Walzer im Umlauf gesetzt: So was tut man doch nur im Bett. Wie sich damals die konservativen Leute an das versunkene achtzehnte Jahrhundert klammerten, wollen die konservativen Leute jetzt vom versunkenen neunzehnten Jahrhundert nicht lassen. Lest die Witzblätter jener fernen Zeit, lest die Tagebücher, die Briefe der alten Damen und der alten Herren von 1810 oder 1820, der Leute, die in ihrer Jugend so zügellose waren , um später so tugendhaft zu werden, und ihr werdet, überrascht, zugeben, daß alles schon dagewesen ist. Damals begann, trotz Empörung der Alten wie der niemals Jungen, ein neues Jahrhundert, begann die Zukunft zu tanzen. Auch heute fängt ein neues Jahrhundert, fängt die Zukunft ihren Tanz an. Und ich fürchte, kein Sittenprediger, nicht einmal die Bischöfe werden imstande sein, da Einhalt zu gebieten.

             Ich kann mir nicht helfen, aber gerade die frech gewordene Erotik, von der immer so viel Geschrei hergemacht wird: gerade diese schamvergessene Sinnlichkeit finde ich in den modernen Tänzen nur sehr, sehr wenig. Sie sind oft genug, ich sagte das hier schon vor Jahren, ein Kopfrechnen mit den Füßen. Sie sind, besonders durch den Charleston, ein Fortsetzen des Sports im Ballsaale. Leichteste Leichtathletik. Körper//training, um die Linie zu erhalten. Gelenkigkeitsübung, bei der man, wie oft, kühl bis ans Herz hinan bleibt. Ich kenne von frühester Jugend an den Walzer und ich kenne den Shimmy, den Foxtrott, den Blue wie den Tango, und ich muß feststellen, daß keiner dieser vielgeschmähten Tänze auch nur annähernd die sinnliche Wirkung, den erotischen Zauber übt, wie der Walzer. […] Daß die älteren Damen und die alten Herren jetzt wieder so flott tanzen, müßte doch allen Sittlichkeitsaposteln, ob sie nun die Mitra tragen oder nicht, ein Licht aufstecken über die verhältnismäßige Harmlosigkeit der heutigen Tanzformen. Man wird schwerlich im Ernst behaupten wollen, daß alle alten Herren, die sich zum Jazz bewegen, nur der Begierde folgen, wieder im Arm eines jungen Menschen sich zu wiegen. Nein! […] Man stelle immerhin ein wenig Erotik mit in Rechnung, sie fehlt ja niemals gänzlich. Doch sie bleibt unter solchen Umständen so sehr im Hintergrund, ihr Einfluß ist so gering, daß all der Aufwand von Entrüstung dagegen gehalten, fast komisch erscheinen will.  

             Diese mondainen Tänze sind die Folge des Umsturzes. Aber nicht des Umsturzes europäisch-monarchistischer Gesellschaftsordnung. Bei diesem Umsturz geht es keineswegs um Kommunismus oder Fascismus. Keineswegs um solche Dinge, die mehr oder weniger europäische Lokalfarbe tragen. Sondern es ist ein Umsturz, der erst beginnt. Es ist die Erhebung der farbigen Rassen, der friedliche Negeraufstand, das Eindringen farbiger, uralter Kulturen in die weiße Kultur. Dieser Umsturz wird das Antlitz der Welt vom Grund aus verändern, wird dem Hochmut der weißen Rasse ein Ende bereiten und die Horizonte der Menschheit wunderbar erweitern. Natürlich gibt Amerika, besser die U.S.A., das Land, darin sich alle Völker, alle Nationen Europas zu einem neuen Volk vermischen, den Boden für diesen Umsturz ab. Alle diese Tänze, die also Vorzeichen für den Umsturz mehr als Begleiterscheinungen sind, alle diese Tänze kommen aus den Vereinigten Staaten und stammen aus Afrika. Alle diese Namen, Titel und Texte sind englisch und alle rühren von Niggern her. Man mag das, nach einer veralteten Denkweise, als Erniedrigung empfinden. Aber wer die aufschlußreichen Bücher von Frobenius gelesen hat, denkt anders. Frobenius ist einer der ganz wenigen Menschen, die schon vor zwanzig, dreißig Jahren den Kulturwert, den geistigen Besitzstand und die ungeheure Suggestivkraft der Neger erkannten.

             Anders denkt auch, wer wirkliche Jazzbands ohne Voreingenommenheit angehört hat. Ueber Musik fachgemäß hier zu sprechen, bin ich weder befugt noch gesonnen. Mag sein, daß die Klänge eines Whitman-Orchesters auch gar nicht Musik im hergebrachten Sinn sein wollen. Aber Stimmen der Zukunft sprechen da, eindringlich bis zum Erschütternden. Jedenfalls habe ich es oft erlebt, daß Berufsmusiker von Rang, etwa wie Busch in Dresden, sich dem Zauber eines Jazzorchesters begeistert hingeben, daß sic dem an Menschenstimme eigentümlich erinnernden Gesang des Saxophons gerade so entzückt lauschen wie ich und daß sie gleich mir elektrisiert werden vom harten, unglaublich polyphonen Schlag und Rhythmus der Trommeln. Wie mich diese Trommeln an das eintönige, nervenaufpeitschende Dröhnen afrikanischer Negertrommeln erinnern und wie mich die Durchdringung der Urwaldmusik mit geistigen Elementen der weißen Rasse… tröstet, scheint mit eine weite, eine große Welt als künftige Menschenheimat zu erstehen. Das Eindringen des amerikanisch-negroiden Wesens läßt sich an „Schlagern“ spüren, wie an dem vielgespielten „Ich hab‘ mein Herz in Heidelberg verloren“, wo das deutsche Lied vom Genre des Schmachtfetzens im exotischen Putz marschiert, wie an „Valencia“, das eine entfernte Verwandtschaft mit Bizet besitzt und vom feurigen Rhythmus der Gegenwart durchzuckt ist.

             Dieser Gegenwartsrhythmus hat etwas Unüberwindliches. Er wird sich von Sittenpredigten nicht aus der Welt schaffen lassen. So wenig wie die modernen Tänze, die eine Resultante aus Hygiene, Sport, Befreiung und Erotik sind, vor Entrüstungskundgebungen verschwinden. Die Leute, die im vergangenen Jahrhundert anfingen, Walzer zu tanzen, standen ethisch viel höher als die Gesellschaft, die zierlich Menuette schritt. Und die Leute, die jetzt Foxtrott tanzen, sind schon wieder um vieles weiter als die einstigen Walzertänzer. Die Menschheit wird immer besser und besser. Man muß nur an sie glauben, muß sie nur ein wenig lieben und sich Mühe geben, sie zu verstehen. Sie zu beschimpfen, ist freilich leichter. Und es ist so überaus bequem.

In: Neue Freie Presse, 30.1.1927, S. 1-3.

Rudolf Jeremias Kreutz: Nochmals – die Dame

             Emil Lucka, der verehrte Dichter-Philosoph, hat kürzlich an dieser Stelle den Begriff „Dame“ historisch belichtet, kritisch untersucht, und ist nach mancherlei geistwollen Schlüssen zu dem Ergebnis gelangt, daß unsere Zeit dem Typus jenes „zimperlichen Halbwesens, dessen Daseinsinhalt Schönrednerei, Faxen, Toiletten und Tee bedeutet“, feindselig gegenüberstehe. Das weibliche Ideal unserer Epoche sei die Kameradin. Sie lehne schroff die Dame ab, deren Wesensmerkmale Reserviertheit, Umständlichkeit und Aeußerlichkeit seien. Denn sie setze an ihre Stelle Mut, Tatkraft, Zuverlässigkeit bis Selbstopfer.

             Es sei gestattet, das Vorstellungsbild „Dame“ aus einem anderen Blickpunkte zu betrachten, von dorther nämlich, wo Definitionen zwar versagen, aber ein gefühlsmäßiges Etwas, mit Worten kaum erfaßbar, für die Dame zeugt, für ihre seltene, aber um so beglückendere Erscheinung wirbt. Hierzu ist die Vertrautheit mit dem englischen „ladylike“ unerläßlich, einer sprachlichen Formel, die sich restlos ebensowenig verdeutlichen läßt, wie etwa „gentleman“, der mit Ehren- und Edelmann nur höchst obenhin übersetzt ist.

             Ladylike. – Was bedeutet das? Welche Eigenschaften umschließt das Wort? Eine Anzahl, die überall, wo Frauen nach wirklicher Kultiviertheit stehen, nach seelischer und körperlicher Verfeinerung lechzen, stets – gleichgültig, welche „neue Sachlichkeit“ immer das Verhältnis der Geschlechter umformen mag – heiß erstrebt, wenn auch nicht gerade oft vorkommen erworben werden.

             Ladylike: Wollte man damit bloß damenhaftes Benehmen, damenhaftes Auftreten von Fall zu Fall bezeichnen, es wäre reichlich wenig erraten. Was der Engländer meint, beinhaltet eine weit größere Forderung : Stetes damenhaftes Sein. Die Selbstverständlichkeit des tadellosen in seelischer und körperlicher Haltung, die unaufdringliche Harmonie, die Takt heißt, die Unfähigkeit zu brutaler Gebärde, zum schrillen Wort, zu formlosem Außersichgeratens. Die Beherrschtheit in Anmut, die Sparsamkeit der Geste, sei es in Freude oder Leid. Und vor allem: Das völlige Fehlen jedes Konventionellen, Gezierten, Gewollten. Die Frau, in deren Nähe wir sogleich, magisch verzaubert, die Dame erkennen, wirkt immer natürlich. Wir fühlen die Verkehrsformen, die sie zeigt, als mit ihr organisch verwachsen, die sie bestimmt. Womit, weiß Gott, nicht behauptet werden soll, daß die Dame unentwegt Sklavin dieser Distanziertheit sei. Ihr Weibtum folgt keinen „feineren“ Entwicklungslinien als das anderer Frauen, ist ebenso triebbedingt. Aber selbst im Taumel der Sinne, im Ueberschwang der Hingabe, wird ein Wunderbares sie davor schützen, sich dirnenhaft zu übersteigern. Warum sollte sie sich nicht auch zur guten Kameradin eignen? Der Begriff Dame schließt Kameradschaft ebensowenig aus, wie er sie voraussetzt. Er ist weder Hemmung noch Antrieb zu funktionellen Eigenschaften, weil er lediglich ethisch und ästhetisch Gipfelpunkte weiblicher Vollendung umfaßt.

In: Neue Freie Presse, 10.10.1928. S. 1.

Paul Szende: Mode und Klassenkampf

             Welche Verblendung! Welche Einseitigkeit! mag mancher beim Lesen dieses Titels ausrufen. Will man auch schon die weibliche Mode in die Zwangsjacke des Klassenkampfes pressen? Andre werden vielleicht sagen, daß es dem Ernste sozialistischer Prinzipien nicht entspreche, wollte man den Begriff des Klassenkampfes auf den Streit um die Länge der Röcke und der Frisur ausdehnen. Trotz dieser Einwendungen halten wir daran fest, daß der Angriff, den das Proletariat jetzt gegen die bisherige Frauenmoden vom Zaune gebrochen hat, letzten Endes einen Abschnitt desselben  Kampfes bildet, dessen andre Etappen die Klerikalisierung der Schule, der Schmutz- und Schundparagraph, die Schmälerung des Wahlrechtes, die Hetze gegen Einheitsschulen, Schulausspeisung und Kinderfreibäder sind: man will den Aufstieg  und die Befreiung der Arbeiterfrauen und damit der ganzen Arbeiterschaft verhindern oder hemmen. Die bisherige Mode war ein beredtes Symbol dieses Aufstieges, sie führte zu einer weitgehenden Demokratisierung der weiblichen Kleidung. Die frühere Scheidung zwischen höheren und niederen Volksklassen in bezug auf die weibliche Kleidung war größtenteils verschwunden, was das Selbstbewusstsein der arbeitenden Frauen merklich steigerte und ihre Minderwertigkeitsgefühle in hohem Maße beschwichtigte. In den Beziehungen der Geschlechter zueinander ist die weibliche Bekleidung ein wichtiges Mittel der Anziehung und des Wettbewerbes. Je einheitlicher die Mode wurde, desto geringer wurde der Vorrang, den bisher auf diesem Gebiet die Damen der höheren Gesellschaft gegenüber den arbeitenden Frauen genossen.

             Diese Mode war so zugleich das Kennzeichen einer Entwicklung, die mit dem Vorwärtsdringen der Arbeiterklasse untrennbar verbunden ist. Wir können diesen Prozeß als die Rationalisierung des sozialen Lebens bezeichnen. Die Gesellschaftsordnung, die Haupteinrichtungen des sozialen und wirtschaftlichen Lebens werden nicht mehr als von oben her gegebene, für die Menschen unverrückbare Tatsachen betrachtet, die der Kontrolle und der Kritik der untergebenen Massen entzogen sind:  man will wissen, welchen Interessen sie dienen, welche Bedürfnisse sie zu befriedigen vermögen. Dadurch büßen sie ihren früheren mystischen Schein ein. Ein wichtiger Abschnitt dieses Entgötterungsprozesses war auch die Einsicht, daß der Kinderreichtum kein Segen Gottes und daß das Kinderkriegen kein für die Menschen unabänderliches, natürliches Schicksal sei, daß vielmehr die Geburtenregelung möglich, ja sogar notwendig ist. Dieselbe Rationalisierung kam nun auch auf dem Gebiet der Mode zur Erscheinung. Diese Mode war die zwangsläufige Folge der wirtschaftlichen Entwicklung und der politischen Emanzipation der Frauen. Beide entrissen die Frauen ihrem ausschließlich häuslichen Wirkungskreis und führten sie der Berufsarbeit und dem Sport zu. Für viele Frauen war die lange, enge, komplizierte Tracht unmöglich geworden. Das glatte, einheitliche, kurze Schlüpfkleid ist eigentlich amerikanischen Ursprungs und entspricht den demokratischen Tendenzen und Uniformierungsbestrebungen des dortigen Lebens, es brachte auch die Machtstellung und die günstige materielle Lage der amerikanischen Arbeiterschaft zum Ausdruck. Diese Mode bedeutet nicht nur eine seelische, soziale und sexuelle Befreiung für die arbeitenden Frauen, sondern auch eine körperliche Befreiung für die Frauen aller Klassen, früherer unsinniger Moden. Zum ersten Male wurde eine Mode liebgewonnen, nicht weil sie von irgendwelchen mystischen Mächten diktiert war, sondern weil ihre praktische Nützlichkeit und ihre einfache Schönheit freiwillig anerkannt wurde. Darin besteht die weltgeschichtliche Bedeutung der kurzen Röcke. Diesem Umstand war es auch zu verdanken, daß diese Mode eine so allgemeine Verbreitung fand und sich so lange hielt; sie drang  in die entlegensten Täler ein, übte dort denselben überzeugenden Einfluß aus und half selbst eine Ursache der Entfremdung zwischen Stadt und Land, die aus der Verschiedenheit äußerlicher Lebensgewohnheiten stammt, zu mildern.

              Das Modekapital, das seinen Sitz in Paris hat, und für das die Kürze oder Länge der Röcke nur eine Frage der Profitrate ist, sah zuerst dieser Uniformierung mit Freude zu, denn durch die Vereinheitlichung der Mode und infolge des Aufstieges der Arbeiterklasse, der den Arbeiterfrauen erlaubte, für Bekleidung mehr als bisher auszugeben, stieg die Absatzmöglichkeiten der Modelle der Pariser Modehäuser ganz beträchtlich. Allmählich aber trat eine Stabilisierung der Mode ein, so wie dies bei den Männerkleidern der Fall ist. Die Aenderungen, die jede neue Saison brachte, waren nicht einschneidend, das Wesen der Frauenmode blieb dasselbe. Zwar hätte dem Modekapital die ständige Erweiterung des Konsums eine mehr als genügende Schadloshaltung geboten. Aber das Pariser Modekapital genoß sei zwei Jahrhunderten eine Monopolstellung, es war gewohnt, zu gebieten, und seine einzige Geschäftsmethode war, durch den stetigen Wechsel der Mode einen schnellen Umsatz der investierten Kapitalien zu erreichen. Dabei will es auch jetzt bleiben. Die Führer der großen Pariser Modehäuser fingen daher wieder an, auf ihre Monopolrechte zu pochen, sie wollten in jeder Saison den Frauen wieder neue kostspielige Moden mit einschneidenden Veränderungen auferlegen. Durch die neue praktische Mode, deren Symbole der kurze Rock, die kurze Haartracht, die fleischfarbenen Strümpfe und die leichte Einheitswäsche waren, war eine gewisse Solidarität der Frauen aller Klassen geschaffen worden. Gegen sie richtete sich der Angriff der Pariser Modehäuser. Ihr Kriegsziel war das Zerreißen der Einheit der Mode.

             Ich will nicht durch die Aufzählung der Merkmale der neusten Mode den falschen Anschein eines Fachmannes erwecken; eine kurze Übersicht ist dennoch notwendig, weil sie zeigt, daß nicht nur die Methoden, sondern auch die Merkmale dieser Mode eine bewußte Anlehnung an das Mittelalter versuchen. Ich habe nicht nur in der Pariser großen Presse, sondern auch in Wiener bürgerlichen Blättern bezahlte Artikel gelesen, die den feudal-mittelalterlichen Charakter der neuen Modeschöpfungen ausdrücklich betonen. Lange, überreiche, wallende Kleider – Verzeihung, nicht mehr Kleider, sie heißen auch in der deutschen Sprache wieder Roben –, komplizierter Schnitt, Prunk wie in den alten Zeiten, überreiche, gold- und silberdurchwirkte Stoffe, Falten und Zipfel, unnützer und verschwenderischer Aufputz, das Prinzeßkleid – schon der Name spricht Bände – mit der höhergerückten Taille und der durchlaufenden Linie und endlich das große feierliche Abendkleid mit der Schleppe. Auch eine ähnliche Umwälzung der Hutmode wird angebahnt: Feder, Schleier, Spitzen werden wiedereingeführt. Alle diese Merkmale haben nicht nur einen feudalen, sondern auch einen plutokratischen Charakter. Die moderne Frau wird wieder in die Dame rückverwandelt, die ohne Kammerzofe sich nicht mehr anzukleiden vermag und nur im Automobil ausfahren kann. Setzt sich diese Mode gänzlich durch, dann ist die Einheit der Kleidung gebrochen.

             Zum Lob der bürgerlichen Frauen muß festgestellt werden, daß die überwiegende Mehrheit diese neue Mode nur unwillig aufnahm und sogar Widerstand leistete. Nun setzte das Trommelfeuer der vom Modekapital ausgehaltenen bürgerlichen Presse ein. Es ist ein wirklicher Erpressungsfeldzug, der in ihren Spalten gegen die bürgerlichen Frauen geführt wird. Wie in der Politik wendet diese Erpressungstaktik zwei Methoden, eine scheinheilige und eine offene, an. Die eine arbeitet mit Phrasen und Lügen, sie erklärt die bisherige Mode für unweiblich und unsittlich – aber die Rolle des Sittenrichters steht den Vertretern des Modekapitals wirklich schlecht zu Gesicht; mögen sich zu diesem Zweck jüdische Modehäuser noch so sehr mit katholischen Bischöfen verbinden. Wo aber diese Mittel versagen, dort wird eine offene Sprache geführt, man spekuliert unverhohlen auf die Klassen- und Besitzinstinkte der Damen, die man mit allen Mitteln wachzurufen bemüht ist. Es wird ihnen in unzähligen Artikeln verständliche gemacht, daß durch die „Weiblichkeit“ die sexuelle Anziehungskraft der nach der neuen Mode gekleideten Damen unbedingt größer sei, und daß daher die Damen den Vorsprung, den sie vor der Einheitsmode vor den übrigen Frauen hatten, wieder zu erreichen vermögen. Es wird ihnen auch versichert, daß sie nicht mehr Gefahr laufen, mit dem Pöbel in Modegemeinschaft leben zu müssen, denn durch die Kompliziertheit des Schnittes wird es unmöglich, die Modelle wie bisher zu kopieren, die Robe aus dem guten Salon wird wieder ein Privileg der Damen sein. Den Schwankenden und Zögernden gegenüber wird die große Drohung ausgestoßen: Die Pariser Häuser werden nicht nachgeben, ein „Zuwarten“ kann nicht helfen, die Dame, die „gut angezogen“ zu sein wünscht, muß schnell ihre Auswahl treffen. An die arbeitenden Frauen ergeht das Ultimatum, sich dem Diktat, wenn auch murrend, doch freiwillig zu fügen oder das Zurückstoßen in den früheren Zustand der Klassenscheidung auch äußerlich zu erdulden. Ich stelle die Frage, ob diese Taktik nicht vollständig identisch ist mit dem Ultimatum mancher bürgerlicher Politiker in der Verfassungsfrage: Annahme der Verfassungsänderungen – wenn nicht, dann Staatsstreich! Die Vertreter des Modekapitals wissen nur zu gut, daß die arbeitenden Frauen nicht in der Lage sein werden, diese Mode mitzumachen. Sie rechnen aber darauf, daß diese Frauen, um einer beschämenden Degradierung zu entgehen, selbst um den Preis größter Entbehrungen und unter Hintansetzung wichtiger  Lebensbedürfnisse, trachten werden, mindestens ein Kleid nach der neusten Mode zu kaufen, um wenigstens bei öffentlichen Anlässen ihre Minderwertigkeit zu verbergen und ihren Platz im sexuellen Wettbewerb wahren zu können. Sie rechnen nicht damit, daß sich genügend aufrechte und selbstbewußte Frauen finden, die nicht nachgeben, sondern diesen Kampf zwischen Demokratie und Aristokratie in der Kleidung aufnehmen und ausfechten!

             Letzten Endes hängt die Entscheidung davon ab, was die sportliebenden und arbeitstätigen amerikanischen Frauen, die die Hauptkundschaft für das Pariser Modekapital abgeben, tun werden. Doch sind auch die proletarischen Frauen nicht ganz wehrlos. Sind sie geneigt, einen Kampf gegen dieses Diktat zu führen, dann können sie des Anschlusses weiter bürgerlicher Frauenschichte sicher sein. Der Kampf um den Mieterschutz brachte große Truppen des Kleinbürgertums und des intellektuellen Mittelstandes in das sozialistische Lager und gab ihnen dadurch Gelegenheit, sich mit den leitenden Ideen des Sozialismus vertraut zu machen; viele unter ihnen sind gute Sozialisten geworden. Ein solcher gemeinsamer Kampf an der Seite der proletarischen Frauen würde manche arbeitende bürgerliche Frau nicht nur dem Einfluß der bürgerlichen Presse entziehen. In diesem Kampfe wird so nicht nur die künftige Mode entschieden, sondern auch ein gutes Stück Menschheitsgeschichte.

In: Arbeiter-Zeitung. Wien, 15.12.1929, S. 4.

Viktor Silberer: Semmering-Rekord

Wenn man nur die Zahl der Besucher und das von ihnen verausgabte Geld in Betracht zieht, so hat der Semmering heuer eine Wintersaison, die alles bei weitem übertrifft, was dort jemals vorher an Massenbesuch und Aufwand zu verzeichnen war. Das Stammpublikum der Vorkriegszeit aber ist vom weiteren Besuche des ihm einst so lieb gewesenen, herrlichen Ortes ganz ausgeschlossen. Was nur an Großschiebern und sonstigen neuen Reichen in Wien in den teuersten Nachtlokalen in tollster Verschwendung praßt, bevölkert derzeit den Semmering, und treibt es dort womöglich noch ärger als in der Stadt. Dabei sind zwei Merkmale dieser Gesellschaft von heute zu verzeichnen. Erstens, daß es unter ihr fast gar keine alte Leute gibt und zweitens die bis zur Verrücktheit entwickelte Tanzwut. Woher alle die Burschen das viele Geld haben, die hier, allerdings nur soweit es sich um die leichte Hand im Geldausgeben handelt, als Grandseigneurs auftreten oder die indischen Nabobs spielen, bildet ein großes Rätsel. Aber gewiß ist, daß das viele Geld da ist und in leichtsinnigster Weise vergeudet wird.

Zur Charakteristik eine kleine Episode: Ein soeben angekommenes Paar betritt die Halle des Hotels und wird vom „Chef de reception“ empfangen. Beide in kostbarste Pelze gehüllt. „Zimmer“, sagt kurz der Jüngling. – „Haben bitte eines bestellt?“ fragte der Chef. – „Nein,“ war die Antwort. – „Ja bitte, da kann ich dann nicht dienen; denn was noch nicht besetzt ist, ist alles längst fest bestellt!“ – „Machen S’keine G’schichten, sperr’n S‘ uns ein schönes Zimmer auf, da haben Sie zehntausend Kronen!“

Das Tanzen hat den Charakter einer Seuche angenommen. Es wird, nicht etwa zu einer bestimmten Stunde, im ausgeräumten Speisesaal oder in der Halle täglich abends getanzt, sondern es gibt dafür weder mehr eine Orts- noch eine Zeitbestimmung. Man tanzt vielmehr jederzeit und überall; schon gleich nach dem Frühstück, noch vor dem Essen, nach dem Essen, bei der Jause, vor und nach dem Abendmahl, bis das letzte Licht erlischt, in allen möglichen Räumen, Gänge nicht ausgenommen! Dabei wird neben aller anderen Verschwendung auch ein enormer Luxus mit frischen Blumen getrieben. Die kleinste Nelke kostet 40 K, eine Chrysanthemeblüte 50 bis 100 K, eine Orchidee aber wird mit zweihundert bis fünfhundert Kronen das Stück bezahlt und diese Blumen schmücken nicht nur die Frisuren der Damen und stecken in den Knopflöchern der Smokings der Herren, sondern es wird dann, im Höhepunkt des Vergnügens und der Freude am schönen Leben in der neuen Zeit, gegenseitig damit geworfen.

Im sterbenden Wien aber gehen zur gleichen Zeit Hunderttausende, darunter auch viele ehedem bemittelte, ja selbst sehr wohlhabende Leute, wegen Mangels einer ausreichenden Ernährung in aller Stille der völligen Entkräftung und damit einem langsamen Hungertode entgegen. Leben doch auch Tausende von Familien, die früher sehr gut situiert waren, ja zu den Reichen zählten, schon seit längerem nur mehr vom Verkaufen besseren Hausrats.

In: Prager Tagblatt, 20.1.1921, S. 2.

Marianne Pollak: Vom Reifrock zum Bubikopf. Revolution und Mode

Die Mode ist seit jeher die besondere Domäne der Frau gewesen. Durch Schminke und Haartracht, durch Halsausschnitt und Faltenwurf haben die Frauen jahrtausendelang verstanden, dem Mann zu gefallen. Die Tracht ist vor allem ein lebendiger und sinnfälliger Ausdruck der jeweiligen  E r o t i k  einer Zeit. Immer haben Revolutionsepochen in der Geschichte strenge Kleiderordnungen gelockert und einer ungezwungenen und freieren Kleidung Raum geschaffen. Denn das Kleid ist zugleich eines der wichtigsten Mittel der  K l a s s e n s ch e i d u n g. Jede neue Mode geht von der herrschenden Schicht in der Gesellschaft aus, die darauf sieht, daß die Masse des Volkes ihr es in Schnitt und Ausführung der Gewänder nicht gleichtue. Die höhere Vernunft der menschlichen Kleidung aber liegt schließlich in ihrer  Z w e ck m ä ß i g k e i t, indem sie den Körper vor Wetterunbill schützt und den Gebrauch der Glieder nicht hemmt.

Als am Ausgang des fünfzehnten Jahrhunderts Europa, aus der Enge bäuerlicher und zukünftiger Wirtschaft erwachend, die grandiose Entwicklung zum Welthandel durchmachte, da brach eine Zeit ungehemmter Lebensfreude für die besitzenden Klassen an: die  R e n a i s s a n c e. Die grobe, die Körperformen entstellenden und verhüllenden Trachten des asketischen  Mittelalters waren kein richtiges Kleid für den machterfüllten Handelsherrn, dem die Schätze des Erdballs zuströmten. Die reiche Bürgersfrau der Renaissance – Rubens hat ihr unvergängliches Porträt geschaffen – trug nicht nur bei Festlichkeiten, nein auch daheim, ja auf der Straße und selbst in der Kirche, unter den Augen der Geistlichkeit, den tiefen  B r u st a u s s ch n i t t. Weit ausladende  W u l st e n r ö ck e  verbreiterten die Hüften durch Umlegen von schweren Stoffrollen, die nicht selten bis zu fünfundzwanzig Pfund schwer waren. Obendrein wurde die weibliche Brust mit Hilfe des Mieders, ja oft durch Wattierungen hervorgehoben. Strotzende Kraftfülle war das Schönheitsideal der Renaissance.

Im darauffolgenden Zeitalter der uneingeschränkten Macht des Landesfürsten wurde sozusagen der angedeutete Körper modern. Die Renaissance hat das Starke und Nackte geliebt. Das  R o k o k o  schwärmt für das Zarte und Ausgezogene. Der französische Hof wurde das Modevorbild für ganz Europa, Ludwig XIV., „der größte Komödiant der Gottesgnadenidee“, der erste Geck seiner Zeit. Die Mode spiegelt die ökonomischen Verhältnisse sehr deutlich wieder. Da im  A b s o l u t i s m u s  eine ganz besonders schroffe Klassenscheidung die Masse der arbeitenden Untertanen von der Gesellschaft der herrschenden Genießer trennte, machte die vom Adel ausgehende Mode den Körper zu jeder Art Arbeit völlig untauglich. Die Damen in ihren unnatürlich hohen  S t ö ck e l s ch u h e n, mit ihren  W e s p e n t a i l l e n  und riesenhaften  R e i f r ö ck e n – eine Fortführung des Wulstenrockes der Renaissance – konnten sich nur gravitätisch und tänzelnd fortbewegen, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren. Ihr Vorbild war ja auch die majestätische Steifheit des Monarchen, und oberstes Sittengesetz jener Tage, da die „Gesellschaft“ dem Abgrund entgegentaumelte, war: Körperliche Arbeit schändet.

Wieder stößt eine große geschichtliche Umwälzung die steifgraziösen Formen des Rokokos um:  d i e  f r a n z ö s i s ch e  R e v o l u t i o n. Die Adeligen in ihren Allongeperücken und edelsteinbesetzen Jabots, die gebrechlichen Luxuspüppchen königlicher Sinnenfreude mußten ihre gepuderten Köpfe auf der Guillotine lassen. In wilden Sturm fegte das Pariser Volk durch die Gassen. Dazu kann man keine Reifröcke brauchen. Die fließenden Gewänder der Antike wurden die Revolutionsmode: das  E m p i r e, die  m i e d e r l o s e  g r i e ch i s ch e  T r a ch t der Tunika, die, unter der Brust abgebunden, in weichen Falten den Körper schmeichlerisch umfließt.

Die regungslosen Jahre des  V  o r m ä r z , vom Wiener Kongreß bis 1848, und nach einem kurzen Revolutionsrausch die  R e a k t i o n  der fünfziger Jahre sind in der Frauenmode die eigentliche  B l ü t e z e i t  d e s  K o r s e t t s. Der weibliche Körper wird – gleich dem menschlichen Geist – in der unsinnigsten Weise eingeschnürt und mißhandelt. So wie der bis oben zugeknöpfte Mann in Zylinder und steifer Halsbinde als das Symbol staatserhaltender Zuverlässigkeit galt, so die Frau mit ihrer eingepreßten Taille und der Unzahl der gestalteten Unterröcke, die endlich zum Ungetüm der  K r i n o l i n e  entarteten: sie sollte in jeder Lebenslage würdig und geruhsam erscheinen.

Was folgt, ist nur eine Änderung im Verunstalten der natürlichen Formen. Als die Krinoline in ihrem grotesken Umfang nicht mehr überboten werden konnte, wurde das Drahtgestell zum alten Eisen geworfen. Aber das Mieder blieb und behauptete seine Macht noch durch mehr als fünf Jahrzehnte. Erbarmungslos mußte jede Frau, die etwas auf sich hielt, in  den Schnürleib, und die Mode verlangte von ihr, sich in der wahnwitzigsten Weise zusammenzupressen. Geraffte Röcke mit der besonderen Pikanterie des Cul de Paris wurden letzte Mode. F e st s i tz e n d e  „T a i l l en“, in denen obendrein noch Fischbeine sonder Zahl eingenäht waren, machten jeden freien Atemzug unmöglich. Die Alltagskleidung war hochgeschlossen; bis zum Hals hinauf quälten Steifheit und Enge. Nur im Ballsaal durfte die Dame im tiefen Ausschnitt erscheinen.

Es ist kein Zufall, daß die niederträchtige Herrschaft des Mieders wieder erst durch eine geschichtliche Epoche des  U m st u r z e s  gebrochen werden konnte. Unser eigenes Geschlecht ist Zeuge und Nutznießer der tiefgehenden  R e v o l u t i o n i e r u n g  d e r  F r a u e n m o d e  geworden.

Noch vor zwanzig Jahren war es im Bürgertum bis tief hinein in die Reihen der Arbeiterschaft gang und gäbe, den Töchtern Stück für Stück eine Ausstattung vorzubereiten und anzuschaffen. Aber wie hat diese  W ä s ch e  ausgesehen! Da wurde meterlang Zacke um Zacke für den Hemdansatz mit der Hand geschlungen, solide schwarze Strümpfe eingekauft, steifsitzende, geschwungene Miederleibchen, die gerade nur den Hals freiließen, zugeschnitten und flaumiger Flanell zu Unterröcken verarbeitet. Man stelle sich nur ein Sportsmadel von heute mit einem solchen Flanellunterrock vor!

Nicht anders ist es um die  F r i s u r  bestell. Nur mit grenzenlosem Staunen kann man der vielen „Einlagen“ gedenken, die für einen ordentlichen Schopf notwendig gewesen sind. Sie waren der letzte Ausklang jenes Perückenmonstrums, das die Damen des achtzehnten Jahrhunderts auf ihren – leeren! – Köpfen spazierengeführt hatten und das mit den verrücktesten Symbolen aller Art schwer behangen war: der „Fontange“. Die Schopfeinlagen um die Jahrhundertwende und später – Kopfmatratzen hat man sie in gerechtem Gott genannt – haben zwar nicht mehr die stattliche Höhe eines Meters erreicht wie ihr Vorbild, aber sie waren darum nicht weniger ungesund und machten das freie Ausatmen der Kopfhaut unmöglich. Jedes Haar mußte bei der morgendlichen Frisur fein säuberlich über den Wulst gelegt werden, um die künstliche Unterlage ordentlich zu verdecken. Und doch verschob sich der Bau bei jeder unvorhergesehenen Bewegung! Wie ungern entschloß man sich in jenen Tagen, das Haar am Nachmittag ein zweitesmal zu frisieren. Es war eine wirklich zeitraubende und schwierige Beschäftigung. In der rhythmischen Frauenturnstunde von heute könnte eine Dame mit auffrisiertem Schopf nicht mittun . . .

Der  K r i e g, der unsere Männer in die Schützengräben zwang, hat der Frau alle Gebiete des Arbeitslebens geöffnet. Sie fand Einlaß im Ministerium und in der Munitionsfabrik, kam zum Schreibtisch und auf den Kutschbock, ins Geschäft und in den Straßenbahnwagen. Überall mußte weibliche Arbeitskraft den eingerückten Mann ersetzen, ja es war die Frauenarbeit allein, die den halbwegs geregelten Fortgang der Wirtschaft möglich gemacht hat. Diese Zeit der unerhörtesten Kraftanspannung, des Hungers und der schamlosen Unterordnung der arbeitenden Menschheit unter das Gesetz des Massenmordes hat die bis dahin schlafenden Frauen zum Erwachen gepeitscht: Sie haben arbeiten müssen – und diese Arbeit hat sie denken gelehrt!

Und wieder hat eine Revolution mit eisernem Besen alte, strenge, steife Modeformen weggefegt. Wieder ist eine Revolutionsmode aufgetaucht. Aber diese letzte grundlegende Wandlung in der Frauenmode mußte sich – obwohl noch immer von Pariser und Londoner Modekönigen ausgehend und von ihnen ausgebeutet – wohl oder übel doch der geänderten gesellschaftlichen Funktion des weiblichen Geschlechts anpassen und  d a s  K l e i d  d e r  a r b e i t e n d e n  F r a u  schaffen: Das beengende Mieder ist verschwunden, der Hals frei, der Rock gekürzt und das lange Frauenhaar geschnitten.

Ist auch das nur ein revolutionärer Augenblickseinfall der wankelmütigen Modegöttin? Gewiß, in der kapitalistischen Wirtschaft wird der gesellschaftliche Geschmack in kurzen Zwischenräumen Extremen zugetrieben, um den Absatz künstlich zu steigern. Aber  k u r z e r  R o ck,  f r e i e r  H a l s,  l o s e  T a i l l e  u n d  B u b i k o p f,  diese vier wesentlichen äußeren Merkmale der modernen Frauenerscheinung, gehen über die gewöhnlichen Modeschöpfungen weit hinaus. Denn zum erstenmal verbindet sich hier der Wunsch nach Schönheit mit wirklicher Zweckmäßigkeit.

Für das Verwurzeltsein der heutigen Frauentracht in dem gesellschaftlichen Prozeß der Revolutionierung, der ganz besonders die Frau erfaßt, ist es bezeichnend, daß heute der  M a n n  auf dem Gebiet der Kleidung rückständiger ist. Er bleibt bei dem dunklen, dicken und dumpfen „Anzug“, dessen Weste, ein sinnlos gewordenes Überbleibsel, überhaupt nur dazu dient, daß sich kein Lufthauch bis zur Haut verirre. Auch der im Kriege aus Sparsamkeitsgründen zeitweilig verschwundene steife Kragen taucht immer öfter wieder auf und ist heute schon wieder das Sinnbild der Respektabilität geworden.

Die Frauen sind in ihrer Kleidung fortschrittlicher. Die heutige Mode entspricht wirklich den Anforderungen der Zeit. Wie herrlich können unsere Mädel in ihren kurzen Röcken laufen und springen! Wie natürlich schön ist es, wenn ihre losen Haare im Winde flattern! Wieviel leichter und gründlicher ist heute die Pflege und Reinigung der Haare! Wie praktisch ist der Bubikopf beim Sport, bei der Arbeit, in der Küche! Wie angenehm für die arbeitende Frau, sich bücken und wenden zu können, ohne daß Schnürbänder ihr den Magen zusammenpressen! Bei allen diesen großen praktischen Vorzügen entbehrt die moderne Frauenkleidung aber keineswegs der Grazie. Sie ist schön, weil sie vernünftig ist. Diese Elemente des Fortschritts wird keine Laune der Mode, kein Interesse des Konfektionskapitals mehr vollständig aus der Frauenkleidung zu tilgen vermögen. Und diese Errungenschaften der Freiheit des menschlichen Körpers soll uns keine Reaktion, die die Frauen zurück in Kirche, Küche und Mieder pressen will, mehr rauben!

In: Arbeiter-Zeitung, 5. Dezember 1926, S. 10.

Ea von Allesch: Tanz und Mode

Ganz genau läßt es sich kaum feststellen, ob die Mode den Tanz oder dieser die Mode beeinflußt. Wahrscheinlich unterstützen sie sich gegenseitig und stammen beide aus engverwandten seelischen Gebieten, welche besser nicht näher untersucht werden sollen. Jedenfalls, ob du nun tanzt oder ob du nicht tanzt, verehrte Leserin, du mußt ein Tänzerinnengewand anlegen, wenn du dich dem herrschenden Modeprinzip unterwerfen willst. Sich der Mode anzupassen war aber von jede rigueur und sozusagen mitnichten abenteuerlich. Heute aber wirst du einfach durch die Mode umqualifiziert; du bist angezogen wie eine „Tänzerin“, die mit ihren Prächten bestechen will, nicht wie eine Dame, die tanzt. Tänzerinnenkleider können sehr schön sein, und sie sind es auch jetzt, darüber ist gar kein Wort zu verlieren; früher aber mußten die Tänzerinnen schön sein.

Die Mode, die fast nur ein Stückchen Rumpf verhüllt, Arme, Beine, Brust und Rücken frieren in ihrer Blöße, rechnet eigentlich sehr mit „Reizen“, doch es bleibt zumeist bei der idealen Forderung. Es steht zu erwarten, daß wir einer sehr unerotischen Ära entgegengehen, so abgestumpft werden die betreffenden Männeraugen durch die allzu große Freigebigkeiten im Zurschaustellen von holder und unholder Weiblichkeit. Doch wird ein zukünftiges Nonnenkleid das wieder gutmachen.

Dieses Tänzerinkostüm also ist ohne Ärmel und fast ohne Taille, eigentlich nur kärgliche Erinnerung an eine Corsage. Der Rock soll länger und weiter werden, doch merkt man noch wenig; wir tanzen noch kniefrei. Die Farben dagegen sind betörend sozusagen. Der Expressionismus hat da seine Hand im Spiel, wenn er überhaupt Hand und Fuß hat. Ein eigener Farbentiteldichter wäre nötig, um den verschiedensten Nuancen zwischen den uns gewohnten Farben gerecht zu werden. Silber mit Blau wie seligen Rokoko ist Trumpf.

So ein Tanzkleid, und jedes Abendkleid ist ein Tanzkleid, ist wirklich verführerisch. Zumeist hat es noch seitliche Drapierung, die aber nur aus Silberspitze, Tüll oder Pannestreifen besteht und sehr zart und zufällig wirkt. Auch das Stückchen Corsage ist aus Silberspitze, Tüll oder Brokat, und die Verbindung wird durch eine Perlenkette oder einen Pelzstreifen hergestellt, der über die Achsel führt. Volantkleider aus Tüll mit Silberstrickerei oder Mousseline de soie mit einem Panne- oder Satinleibchen sind wieder ganz modern.

Sehr phantastisch und dekorativ sind die Hüte. Neu die Verbindung von Silber- und Goldbrokat auf feurigem Farbengrund in Seide mit Pelz. Der ist immer weich und kappenartig, auch wenn der Hut breit ist, und wird dann mit Reiher oder Straußfeder geputzt. Originell sind die zahllosen weichen Kappen aus Brokat mit Pelz, mit Lack, mit Musselin oder aus grellfarbigem Panne, und die vielen legeren Wollkappen in den freudigsten Farben. Es wird gestickt und appliziert und gehäkelt, kurz, es tut sich sehr viel in der Hutbranche, und es ist kein Wunder, wenn die Moral von der angestachelten Sehnsucht nach diesen schönen Dingen etwas beiseitegedrängt wird.

Nie sah man so schöne und originelle Kostüme aus Stoffen, deren Oberfläche einen Hauch von in die Luft aufgelöster Farbe haben, mit minderwertigem, aber im Ton des Stoffes glänzend gefärbtem Pelz. Zumeist lang, weit, paletotartig mit Stehkragen, der oft mit einer Krawatte aus demselben Stoff gehalten wird, und Applizierungen aus Stoff- und Pelzstreifen zeigen sie viele neue und originelle Nuancen.

Ein Kapitel für sich wäre ein Bericht über die Wolljacken und -westen mit Schals und Mützen, die eine große Industrie geworden sind. Die Wolljacken sind Mäntel geworden, immer zweifarbig und sehr zärtlich bedacht von der Mode. Überhaupt es ist alles wieder da – ein Fläschchen Parfüm Houbigant kostet jedoch 2500 Kronen.

In: Moderne Welt, Unsere Pariser Modebeilage, Heft 9, 1920, S. 41f.

Fred Heller: Jazz-Dämmerung

            Was „Jazz“ und was Shimmy ist, braucht man keinen Tänzer mehr zu sagen. Und Nichttänzer sind, seit der Foxtrott mit zu einem Souper gehört, keine voll zu nehmenden Menschen. Wie können sie sich beispielsweise jetzt in einem Kurort, draußen in der Sommerfrische erholen, wenn sie nicht allabendlich oder doch ein-, zweimal in der Woche ein bißchen trotten und steppen! Die Beherrschung der modernen amerikanischen Tänze ist längst ein Teil der allgemeinen Bildung. Ein allgemein gebildeter Mensch hat sich also natürlich auch bereits den „Jazz“ und den „Shimmy“ zu eigen gemacht, diese beiden letzten Importe aus Amerika, oder er ist zumindest fest entschlossen, spätestens im Herbst seine bislang noch theoretischen Kenntnisse, sein Wissen um die Geheimnisse menschlicher Gelenke, in praktisches Können umzusetzen. Aber ob es dann nicht schon zu spät sein wird? Zuverlässige amerikanische Berichterstatter malen einen Tanzteufel an die Wand, der nicht mehr nach vorgeschriebenen Rhythmen die Schultern verstauchen, den Leib verkrümmen und die Gliedmaßen aus ihren Scharnieren heben will. In Amerika bereitet sich nichts geringeres als eine Reaktion vor! Eine Reaktion im amerikanischen Tanz ist aber eine europäische Angelegenheit. Deshalb kann nichts früh genug die Aufmerksamkeit der Alten Welt auf die drohenden Anzeichen jenseits des großen Teiches hingelenkt werden.

            Miß Albertina Rasch, eine junge Wienerin, die sich als erste Tänzerin drüben am Century Opera House, der Jahrhundertoper in New-York, ihren Namen gemacht hat, ist kürzlich in Wien zum Besuch ihrer Angehörigen eingetroffen und hat ganz besorgniserregende Nachrichten mitgebracht. Worüber spräche man denn auch in Wien zuerst mit einer amerikanischen Tanzkünstlerin? Vielleicht erfährt man gar als erster von einem ganz neuen Tanz und hat dann das Glück, ihn sich gleich zeigen lassen zu können.

            „Ich komme über Paris, ich weiß alles“, lächelt Miß Rasch. „Europa, du hast es nicht besser! mußte ich denken, als ich den begeisterten Tanzkult sah, und wie ich höre, steht Wien durchaus nicht zurück. Nein, es gibt keine neueren Tänze als den Jazz und den Shimmy. Kann es denn überhaupt in dieser Beziehung noch „Moderneres“ geben? Man hat sich drüben den ersten Niggertanz, den Cake Walk, von idyllischen Festlichkeiten der Neger in die Ballsäle geholt. Das war noch ein wirklicher Tanz, ganz neuartig für unsere Begriffe und trotz oder wegen seiner exotischen Reize auch nach ästhetischen Begriffen eine Bereicherung der Gesellschaftstänze. Aber dann hat man angefangen, die Niggertänze aus den Nachtlokalen von San Francisco und New-Orleans zu beziehen, südamerikanischer Einfluß machte sich bemerkbar, und so ist der Nachfolger des argentinisches Tango und der brasilianischen Matchiche der Foxtrott geworden, eine Kreuzung etwa von One Step und Matchiche. Der Foxtrott kam dem amerikanischen Tänzer sehr entgegen, der ein ungemein ausgeprägtes rhythmisches Gefühl, aber gar kein melodisches Empfinden hat, daher auch eine Art Walzer mit synkopischer Taktform statt des echten Walzers tanzt. Es gibt kaum einen Amerikaner, der nicht Foxtrott tanzt und man tanzt ihn von früh bis nachts, in den Vergnügungslokalen genau so wie mittags in den Restaurants. Und es wird heute noch genau so gern Foxtrott getanzt wie vor einem Jahr, obwohl inzwischen der Jazz und der Shimmy modern geworden sind. Mit dem Jazz, der aus New-Orleans und Chicago eingeschleppt wurde, mit diesen, schon durch die dazugehörige Musik der Jazz-Banden unerträglichen gymnastischen Uebungen zum Lärm und Geräusch der unglaublichsten Instrumente ist man bereits von dem, was man noch Tanz nennen kann, abgekommen; der Gipfel der Geschmacksverrohung war dann gleich die nächste Novität, der Shimmy, ein Tanz, der nur aus der allgemeinen Verrohung durch den Krieg zu erklären ist. Wie hätten auch Kulturmenschen sonst an etwas Gefallen finden können, das die Roheit des rohesten Afrika ausdrückt. Und auch dieser Tanz ist von Europa übernommen worden!“

            „Es ist unser letzter Schrei!“ bemerkte ich.

            „Daß das sogar in Wien möglich ist!“ staunte die Amerikanerin aus Wien. „Die überschlanke Amerikanerin darf sich vielleicht noch solche Körperbewegungen erlauben. Aber schon die Pariserin fand ich im Jazz unmöglich. Doch selbst in Amerika beginnt man bereits von den allerneuesten Tanzschöpfungen abzuschwenken, man tanzt Shimmy und Jazz immer seltener, der Geschmack fängt sich an, umzubilden. Das Naserümpfen und die abfälligen Bemerkungen werden drüben in letzter Zeit häufiger. Die Verrohung, die auch drüben der Krieg mit sich gebracht hat, geht sichtlich auch im allgemeinen zurück, und so wird man auch von den wilden modernen Tänzen allmählich wieder zu sanfteren, legereren Linien zurückkehren!“

            „Und der uns allen heilige Foxtrott?“

            „Keine Sorge, der wird sicherlich noch lange herrschen, wenn er nicht überhaupt schon zum sogenannten „ewigen“ Bestand der Tanzkarte zu zählen ist, wie der Two Step und die nur augenblicklich in Vergessenheit geratene „Washington Post“. Es existiert ja in Amerika eine veritable Foxtrottindustrie. Fast täglich kommt ein neuer Foxtrott heraus. Eigene Musikverleger befassen sich mit dem Vertrieb, die Noten werden weithin gratis verteilt und in zwei Wochen kann das ganze Land jeden neuen Foxtrott. Die erfolgreichsten Komponisten sind dabei fast durchweg russische Juden, so zum Beispiel der populärste, der sich Irving Berlin nennt. Edison und ihn kennt jeder Mensch.

            In allem Unglück also doch ein Trost: wir haben den Foxtrott zumindest nicht umsonst gelernt, wenn wir im heurigen Winter vielleicht schon den Jazz und den Shimmy wieder vergessen müssen. Daß es um diese beiden Negerstämmlinge besonders schade sein würde, wird wohl am wenigsten in Wien behauptet werden, wo wir als „Ersatz“ immerhin und schlimmstenfalls noch den Walzer haben.“

In: Neues Wiener Journal, 21.7.1921, S. 5.

Fred Heller: Girl-Mast.

Mit Zeichnungen von Alice Reischer

      In London ist man draufgekommen, daß die Revuen auf zu dünnen Beinen stehen. Warum nimmt das Interesse ab?, fragte sich der Direktor. Weil die Girls abnehmen, gab er sich selbst zur Antwort. Und von dem Tag an nehmen seine Girls zu.

      Das geht nicht bloß London an. Das ist ein Weltsymptom. Das geht an den Typ. Schlank soll nicht mehr mager, Girl soll nicht mehr verpatzter Jüngling heißen. Zuerst werden die Girls gemästet und dann – wo sind die Grenzen für das Schönheitsideal von morgen? Werden wir Orientalen? Wird Liebe nach Pfunden gemessen? Werden, je schmächtiger unser Budget, die Frauen um so  üppiger werden?

      Die Girlmast hat begonnen, die Manager stehen an der Wage und kontrollieren die Gewichtszunahme. Es läppern sich Rundungen zusammen. Aus den weiblichen Boys werden richtige Frauen mit all den Reizen, die bisher wegmassiert werden mußten, abtrainiert, fortgehungert. Girls dürfen wieder Appetit haben und das Wort appetitlich gewinnt neue Bedeutung.

      Ernst angesehen, bedeutet die Aufpäppelung der Girls einen Beginn der Wiedergesundung unter einem großen Teil der Frauen. Die „Linie“, also der Entfettung, der raschen Abmagerung und der ständigen Drosselung des Appetits haben viele ihre Gesundheit geopfert. Kein Fett, keine Ruhe, keine Kinder, hieß das drakonische Gesetz, das zu übertreten gerade die hübschen Frauen nicht zu verführen waren. Die schönen wurden nervös, sie hatten keine Zeit für Träume, sie legten gereizt jedes Wort auf die Wagschale, wie sie sich ängstlich wogen, so oft sie sich vergessen hatten. Jede Großmama wollte ein Girl sein, also aussehen wie ihr siebzehnjähriger Enkel. In den besseren Häusern wurde eine zweifache Diät gekocht, die Gnädige saß entweder im Entfettungsbad oder lag bei der Masseurin, stand irgendwo am Kopf oder rannte ihr Drei-Kilometer-Pensum ab – alles andere verlernte sie. Ich meine, das gemütliche Plaudern, die trauliche Pflege einer netten Freundschaft, das unbedenkliche Zeitverschwenden bei einer Tasse mit Bäckereien oder einem endlosen Souper. Die Frau war nicht für den Mann da, nicht einmal für sich, bloß für die Erhaltung ihres Untergewichtes. Kein Wunder, daß es in so vielen Ehen und in der Liebe so viele Unterbilanzen gab.

      Darf man schon „gab“ sagen? Revuetheaterdirektoren haben ein empfindliches Gefühl für  weibliche Angelegenheiten, die auch Männer interessieren. Wenn die Girls zunehmen, müssen alle jungen Frauen dem Beispiel folgen. Die Girls der Revuebühnen sind ja die jeweiligen Musterkollektionen der Modeneuheiten für den Männergeschmack. Sogar die Provinzler, die gelegentlich in die Großstadt kommen, vergleichen dann ihren Eigenbesitz mit den Revuegirls. Und natürlich werden die gemästeten Girls sehr auffällig ihre frischgezogenen Reize vorführen und besondere Kostüme werden die Gegenden, auf die es ankommt, heftig betonen. Vielleicht ist die neue üppigere Linie überhaupt nur eine Folge des neuen Zuges nach Bekleidung der Girls. Als nackt die große Mode war, kam es darauf an, bloß andeutungsweise zu erkennen zu geben, daß die lebenden Säulen und Kandelaber Frauen sind. Mit der zunehmenden Bekleidung der Girls mußte man auf die Idee kommen, daß man eigentlich erst mehr Bekleidungswertes schaffen mußte, denn die Kostümierung sollte doch eine Verhüllung darstellen. Was gab es zu verhüllen? So wenig, daß das Publikum im Parkett gar nicht auf seine Kosten kommen konnte. Aus dieser Untugend wurde die Not, und um dieser Not zu steuern, machte man die Revolution der Linie.

      Wer will nicht mit in das revolutionäre Lager? Wer zögert? In wenigen Monaten kann es zu spät sein. Denn wer weiß, wie schwer es sein wird, die gewisse Mindestgrenze zu erreichen, nachdem man sich schon so an die zwei, drei mageren Jahre gewöhnt hatte und den Gürtel so eng geschnallt trug. Es muß sich eine neue Kunst herausbilden, die „Zunehmen“ heißt, damit nicht plötzlich ein allgemeines Wettmästen losgehe. Des Guten zuviel!, haben die Lateiner gesagt und die haben davon etwas verstanden.

In: Die Bühne (1929), H. 232, S. 29.

Claire Bauroff: Die Arbeit der Tänzerin

                Wer am Abend das Spiel der Tänzerin an sich vorübergleiten sieht, lächelnd, heiter, in bunten Farben, der ahnt nicht, welche schwere Mühe und Arbeit, welche Kraft und Ausdauer erforderlich waren, ihm diesen gefälligen Anblick zu verschaffen. „Sie hat einen schönen Körper, sie ist anmutig und biegsam“ – der Laie spricht über diese Dinge, als handelte es sich um zufällig vorhandene Naturgaben, nicht bedenkend, daß „nur aus vollendeter Kraft die Anmut hervorblickt“. Vielleicht würde es ihn sogar stören, zu wissen, wieviel Entsagung und Energie immer wieder aufgewendet werden müssen als Preis für dieses „gute Material“. Man weiß zwar aus der Artistennovelle von Hermann Bang, daß kaum ein tägliches Leben enthaltsamer und spießbürgerlicher verläuft als das der Trapezakrobaten, aber von der Tänzerin will man es nicht wissen. Der duftige Hauch der Wirklichkeitsferne, die Illusion einer heitereren Welt, die hervorgerufen werden, wenn sie über die Bühne schwebt, würden getrübt, dächte man daran, daß auch dieser Erfolg nur im Schweiße – nicht bloß des Angesichts – errungen wird.

            Ein bekannter Bildhauer war aufs höchste überrascht, als ich ihn einmal zu meinem allmorgendlichen Training zuließ und er sah, wie ich an Ribstoel und schwedischer Bank, mit Medizinball und beschwerter Springschnur zwei Stunden lang arbeitete und von meinem Trainer „in Form“ gebracht wurde. Und das war kein „Potemkinsches Dorf“! Jahraus, jahrein, mit einer Regelmäßigkeit, deren sich kein Postbeamter zu schämen hätte, wird so jeden Morgen der ganzen Körper trainiert, in Schwüngen und Sprüngen gekräftigt und gelockert.

            Ribstoel und schwedische Bank sind Geräte, die von modernen Tänzerinnen und in Gymnastikschulen abgelehnt werden und zum Teil mit Recht, denn ihre Verwendung birgt die große Gefahr übertriebener und unharmonischer Muskelbildung. In der Hand erfahrener Sachverständiger aber sind sie das wirksamste Korrektiv besonders für sehnige, in unserer Fachsprache „trockene“ Körpertypen. Hänge- und Dehnungsübungen am Ribstoel strecken die Sehnen und Muskeln in einem Grade, den man kaum für möglich hielte. Oder Bodenübungen für Kräftigung der Rumpfmuskulatur, die wir zu allen Schwüngen des Oberkörpers im Tanz brauchen, sind, auf der schiefen Ebene der schwedischen Bank ausgeführt, von doppelter Schwierigkeit und Wirkung. Ein besonders reizvoller Behelf beim Training ist der drei Kilogramm schwere, mit Roßhaar prall gefüllte Medizinball, von fünfunddreißig Zentimeter Durchmesser, der bei allen Fang- und Wurfbewegungen die Brustmuskulatur stark in Anspruch nimmt und dessen Masse den Körper zum Beispiel bei hochgestreckten Armen so kräftig rückwärts in den Bogen zieht, daß die gleiche Bewegung nachher ohne Ball dann leicht fällt. Die beschwerte Springschnur wieder verhindert die sich sonst beim Sprung leicht einstellende Verkrampfung der Arme. Alle diese Übungen werden zweckmäßig kombiniert, um je nach Bedarf dem Körper richtige Proportionen bei größter Leistungsfähigkeit zu verleihen und zu erhalten.

            Wenn das tägliche Pensum absolviert ist, dann kommt noch eine halbe Stunde durchgreifendster Massage, die die Bildung athletischer Muskelformen zu verhindern hat. Wenn man nun erwägt, daß all dies nur Vorbereitung des Materials, technische Angelegenheit war, daß dann erst die eigentlich produktive Arbeit der Künstlerin beginnt: Komposition und Studium ihrer Schöpfungen, so kann man ohne Übertreibung sagen, daß wir, von unserer Kunst besessene Tänzerinnen, im Vergleich zur Dame der Gesellschaft Schwerarbeiterinnen sind. Kommen dazu noch Engagements, die allabendliches Auftreten erfordern, so wird jeder einsehen, wie wenig das oft gebrauchte Bild einer flatterhaften Libelle für uns zutrifft.

            Einem sterbenden Tanzstil war zwar die Technik alles, doch obwohl wir modernen Tänzerinnen nicht mehr auf Zehen trippeln, nie als Selbstzweck die Beine möglichst hoch werfen und unnatürliche Verrenkungen vollführen, darf man nicht glauben, daß wir an uns weniger hohe technische Anforderungen stellen. Nur das ist der Unterschied: während das alte Ballett in seelenloser Technik aufging, stellen wir unser Können ganz in den Dienst einer geschlossenen Ausdrucksform – sei diese nun ein Musikstück, dessen Gefühlsgehalt wir rhythmisch bewegt verkörpern, oder eine mimische Idee, die wir sichtbar gestalten.

            Diese Verinnerlichung des modernen Kunsttanzes hat zur Folge, daß wir auch die Kleidung in den Dienst der Idee stellen, sie also auf ein Mindestmaß beschränken, wenn es die künstlerische Einheit erfordert. Besonders das mimische Moment im Tanz verlangt, das sich der Ausdruck nicht auf Kopf und Hände beschränke: der ganze Körper hat in harmonischer Einheit mitzutun. Dadurch sind unserer Kunst Themen zugänglich geworden, die dem alten Stil, der nur konventionelle Gesten kannte, verschlossen bleiben mußten. Mit „Nackttanz“ hätte das natürlich selbst dann, wenn wir aus künstlerischen Gründen nackt tanzen müßten, nichts zu tun – denn dieser benützt den Tanz nur als Vorwand für die Schaustellung des unbekleideten Körpers. Aber wir leiden unter dem Unverständnis vieler für uns wichtiger Faktoren im Theaterleben, die den „schönen Körper“ herausstreichen, ohne zu wissen, daß auch der schönste Körper mit Kunst noch gar nichts zu tun hat, wenn dieses allerdings unentbehrliche Material ohne künstlerische Formung bleibt.

            Früher waren Tanz und mimische Kunst durchaus voneinander getrennt – heute ist jede echte Leistung eine Mischung der beiden. Vom rein musikalischem Tanz bis zum Mimus oder Tanzdrama, von der Tordis bis zur Wigman, führt eine ungebrochene Linie, und es kann sehr zweifelhaft sein, ob das, was ich zum Beispiel als „Erweckung der Statue“ in der Haller-Revue darstelle, überhaupt noch Tanz genannt werden kann oder schon reine Pantomime ist.

            Eine ganz irrige Meinung herrscht in Laienkreisen zumeist über die Art, wie ein Tanz entsteht. Es gibt dabei, je nachdem, welchem der beiden eben erwähnten Extreme die Tänzerin zuneigt, zwei ganz verschiedene Typen. Die eine, die rein musikalische Tänzerin, wird von einer Musik, die durchaus keine „Tanzmusik“ zu sein braucht, angeregt und übersetzt die Sprache der Töne in die Sprache rhythmischer Bewegung im Raum, die mit ihren eigenen Formmöglichkeiten ein ganz Neues schafft. Bei der anderen beginnt die Produktion mit einer Bewegungsidee, die einen typischen Gefühlsverlauf – Erweckung, Genesung, Vision, Flucht usw. – oder, an der Grenze von Tanz und Pantomime, einen Menschentypus – Geizhals, Narr, Paria usw. – darstellt und, soferne sie auf Begleitmusik nicht überhaupt verzichtet, diese erst wählt oder hinzukomponieren läßt, wenn die Tanzkomposition vollständig feststeht.

Mag man diesen neuen Stil in der Tanzkunst nun Expressionismus oder sonstwie benennen, so muß doch jedenfalls allgemein anerkannt werden, daß wir mit den seelenlosen Konventionen, die der Ausdruck einer leeren und zeremoniellen höfischen Kultur gewesen sind, radikal gebrochen und die Tanzkunst wieder zum Ausdruck lebendiger Kämpfe und Leidenschaften gemacht haben, die einst an ihrer Wiege gestanden sind. Im Dienste dieser Erneuerung nehmen wir gern alle entsagungsvolle Arbeit auf uns, ohne die die Tänzerin das Luxusgeschöpf geblieben wäre, als das die Primaballerina in der alten Gesellschaft galt.

In: Die Bühne (1926), H. 75, S. 10f.

Fritz Beck: Zehn Jahre Foxtrott

Als im Jahre 1911 argentinische Gauchos (Viehhirten) ihre Kaschemmentänze einem attraktionslüsternen Publikum vorführten, ahnte noch immer niemand, daß damit bereits der erste Auftakt zu jenem Umschwung in der Tanzmode gegeben war, der sich vor genau zehn Jahren in seiner ganzen Ausdehnung und Bedeutung vollzog: Alle die 1918 aufgekommenen Modetänze waren nämlich in Schritt und Bewegung, wenngleich in jeweils anderem Rhythmus eingeordnet, dem alten Tango argentino entlehnt, und erst später nahm jeder Modetanz seine ganz bestimmte Richtung für sich an… Weit gefehlt wäre es indessen, den beispiellosen Erfolg des Tango argentino lediglich auf das Konto irgendeines gefinkelten Pariser Tanzprofessors zu buchen, verband sich doch von 1912 bis 1918 mit der Tanzmode, im Sinne des Tanzes, zugleich auch ein Umsturz in der Kleidermode, und vollzogen sich in weiterer Folge auch im Bilde unserer Gesellschaft gleichsam u m s t ü r z e n d e Veränderungen!

Die Ursache dieses ganz plötzlichen Eindrucks neuer, überraschender, zuweilen ungemütlicher Strömungen, die in engsten und weitesten Kreisen nich nur äußerliche, sondern auch ›innere‹  Umorientierungen erforderten, hätte gewiegten Seelenforschern bedeutsamen Anlaß zu tieferen und tiefsten Betrachtungen geben können: Wie die Weltgeschichte lehrt, sind es stets gewaltige w i r t s c h a f t l i c h e und p o l i t i s c h e Ereignisse, die sich naturgemäß auch innigst mit Umwälzungen in der Kleider– und Tanzmode zu verbinden pflegen; sie müssen aber nicht immer gerade als eine Folge von einschneidenden politischen Veränderungen einhergehen, sie können leicht begreiflich auch solchen voraneilen, gewissermaßen als untrügliches Anzeichen bevorstehender ›großer Dinge‹.

Die so rasch durchgreifende Beliebtheit der modernen Tänze, besonders nach Kriegsende, ist unschwer als Bruch mit allem Alten zu erkennen, und nichts legt heute mehr Zeugnis von heuchlerischer, verlogener und verschrobener Gesinnungsart ab, als das krampfhafte Festhaltenwollen an verflossenen Tänzen und Moden… Gewisse völkische und klerikale Kreise lehnen heute noch mit geradezu krampfhafter Aengstlichkeit und der Entrüstung kleinlicher, kurzsichtiger Beschränktheit die modernen Tänze (ebenso Bubikopf und kurze Kleidermode) ab, weil sie unausgesetzt ganz besonderen sittlichen Unrat wittern; sie ahnen nicht oder wollen nicht wissen, daß das sinnliche, geschlechtliche Moment bei den modernen Tänzen weit mehr zurückgedrängt ist als beim Walzer. Die Ausführung der modernen Tänze erfordert nämlich vor allem in vollstem Maße die Aufmerksamkeit der Tanzenden, und so wurde aus dem heutigen Gesellschaftstanz schon längst ein Mittelding zwischen SpielSport und Kunst. Die Bezeichnung der modernen Tänze mit Tanzsport hat also sicherlich ihre vollste Begründung!

Wenn indessen ältere Leute, die sich heute ebenfalls zu den modernen Tänzen bekannten, mit Wehmut und etwas Trauer an den alten Walzer zurückdenken, so verbindet sich damit bloß die traute Erinnerung an verflossene goldene Jugendzeit, bei der leicht begreiflich das Tanzvergnügen stets eine große Rolle zu spielen pflegt. Spricht man da von einer ›guaten alten Zeit‹, so sind darunter wahrhaft nicht die großartigen wirtschaftlichen oder politischen Verhältnisse von einst gemeint, sondern bloß die poesieumwobenen Tage eines flott und heiter verbrachten Jugendabschnittes…

Nichts verrät mehr die heutige, praktische, nüchterne, sachliche Einstellung zum Leben als die modernen Tänze! Der Foxtrott ist getanzte neue Sachlichkeit; der ungekünstelte Gehschritt, aus dem sich bekanntlich alle weiteren modernen Tanzschritte entwickeln, liegt der Natur des Menschen am allernächsten; das menschliche Geschöpf hat ja zwei Beine, Gehschritte gehören also zu seinen selbstverständlichsten, wesentlichen Bewegungen, der Zweivierteltakt entspringt daher gleichsam seiner innersten Natur! Der Zauber einer Marschmusik, der jede Müdigkeit verscheucht und die schlaffsten Gemüter wie elektrisiert aufpulvert, übertraf an Macht seit je den wiegenden Dreivierteltakt. Die österreichischen Militärmärsche sind es auch, die, so seltsam und geradezu unglaubwürdig es klingen mag, an der Entwicklung der amerikanischen Tanzmusik den größten Anteil haben: Sousa, der bedeutendste Marschkomponist Amerikas, verwendete nämlich zum Aufbau seiner Kompositionen das System der österreichischen Märsche als Muster; und der amerikanischen Tanzmusik wieder dienten Sousas Marschkompositionen als Vorbild zu ihren Schöpfungen, und die modernen Tanzschlager bestehen ja bekanntlich – wie es bei den österreichischen Märschen auch der Fall ist – im Prinzip aus Vorspiel und Trio, respektive Chorus (Refrain)…

Viel wurde wieder in letzter Zeit auch von einer Wiederkehr des Walzers gesprochen, und was hierbei besonders bezeichnend ist: immer wieder kommen diese Nachrichten  gleichsam aus dem Lager der Reaktion, die mit Wiener Tanzlehrern gar nicht spärlich beschickt ist! Natürlich ist für ein ›Modernwerden‹ des Walzers derzeit weniger Aussicht vorhanden als sonst; der Walzer ist tot: so tot wie die einstige k.k. österreichische Monarchie! Der moderne Tanz, der die breitesten Massen beherrscht, bleibt weiterhin Beherrscher des Tanzparketts, nicht nur Oesterreichs, sondern der ganzen Welt, und mögen hiergegen unsere wackeren ›Teutschvölkischen‹ und sittsamen Klerikalen noch so sehr wettern und der Linzer Bischof serienweise seine lächerlichen Hirtenbriefe an seine Schäfchen adressieren…

In: Arbeiter-Zeitung, 12.2.1928, S. 8.