Bertha Pauli: Jugend von heute (1924)

Bertha Pauli: Jugend von heute.

             „Sechs Pagen und sechs Mädchen, weiß gekleidet, mit rosenroten Leibchen, mit Schleifen und wirklichen Rosen verziert, tanzen herein und gruppieren sich zu beiden Seiten der Tür. Dann hüpft die Jugend herein, weißes Trikot, rosenrote Weste, am Kragen mit Rosen garniert, grünem Frack, dreieckigen Hut mit Rosenschleife. Das Beinkleid mit rosenroten Bändern gebunden.“ So schwebte unserem großen Volksdichter Raimund die Verkörperung der Jugend vor für jene unvergängliche Szene im „Bauer als Millionär“, die Wilhelm Scherer den schönsten Allegorien der Weltliteratur zur Seite gestellt hat. Und jedem Österreicher, der sich ihrer traulich schlichten Symbolik erinnert, summt es im Ohr: „Brüderlein fein, Brüderlein fein…“

             Wie würde ein heimischer Poet unserer Zeit die Jugend verkörpern? Wohl bleibt sie im Grunde dieselbe, so lange Menschen atmen, dieselbe in ihrer Elastizität gegenüber den Schlägen des Schicksals, ihrer Lebenskraft und Empfänglichkeit und dem Reichtum an Hoffnung, der sich vor ihr ausbreitet wie ein Märchenwald und sie trennt von dem fernen düsteren Allbezwinger Tod. Und doch, den Rosenflor, die Atlashöschen und den hüpfenden Dreivierteltakt würde ein Künstler von heute kaum mehr wählen, um die Jugend zu versinnlichen. Die Ausdrucksformen unserer Zeit sind andere geworden. Die Jugend ist ewig wie der Sonnenaufgang; aber ihre Vertreter hienieden schauen nicht mehr mit denselben Augen in die Welt wie die Kinder des Vormärz, und die ältere Generation betrachtet mit stark geänderter Empfindung den Frühling des Daseins. Wir sind vertrauter mit seinen Stürmen. Wir haben – vielleicht genauer als unsere Vorfahren – das Leid der Jugend kennen gelernt. Wir sind uns bewußter der physischen Entbehrungen und des geistigen Mangels, die Tausende nur kümmerlich heranreifender Körper und Seelen bedrücken, wir sehen deutlicher die physischen Kämpfe der Pubertät, der wachsenden Erkenntnis, die sich oft verzweifelt auflehnt gegen die Nüchternheit und Niedrigkeit des alten Jammertales. Und wir erfahren gegenwärtig auch mit Schaudern, wie der jugendliche Idealismus, der einst „den Himmel offen“ sah und in enthusiastischer Hingabe sich entlud, erstickt, pervertiert wird in Rohheit. Zuweilen scheint es, als lösten sich für unsere Jugend „alle Bande frommer Scheu“, die der Zivilisation unentbehrlichen Hemmungen, hervorgerufen durch innere Würde und Menschlichkeit, aber keineswegs die Bande des Vorurteils und aller Art geistiger Beschränktheit. Unerhörte Vorgänge wie die Exzesse an unserer Universität, Schandtaten wie die Mißhandlung einer Studentin durch ihre männlichen Kollegen werfen grelle Schlaglichter auf die Generation, die unsere Zukunft bedeutet. Und leicht erliegt man der Ver-//suchung, sich die Jugend von heute statt mit dem Rosenzweig mit der Waffe des Meuchlers oder mit Gummiknüttel und Schlagring vorzustellen. Das Eklatante, das Sensationelle ist es ja, was urteilsbestimmend wirkt – und so oft Fehlurteile erzeugt. Nie soll vergessen werden, daß den jungen Leuten, die ihre Rowdymethoden als Propaganda für Deutschtum ausgeben (in Wahrheit gibt es keine plausiblere Entschuldigung für das gehässige Vorurteil gegen den ‚boch‘!), eine weit zahlreichere österreichische Jugend gegenübersteht, die Menschenwürde ebenso für sich erstrebt und bewahrt als im anderen achtet. Die Ausschreitungen jugendlicher Vertreter höheren Wissens, die nicht ahnen, daß Bildung – wie einst Geburtsadel – verpflichtet, sind zum Teil zu verstehen durch die andauernde Kriegspsychose, genährt von Frankreichs Gewaltpolitik. Nichts wirkt verderblicher auf Völker und Individuen, als schnöde Gewalt wehrlos ertragen zu müssen. Das überreizte Nationalgefühl entlädt sich am fiktiven „inneren Feind“, weil es ohnmächtig ist gegen den Bedrücker jenseits der Grenzen. Getretenes Ehrgefühl artet bei sittlich wenig widerstandsfähigen Charakter leicht in Rohheit und Grausamkeit aus. Man hat Juden, Protestanten und andere „innere Feinde“ oft fälschlich der Brunnenvergiftung angeklagt. Poincaré vollführt noch Schlimmeres: er vergiftet Seelen.

             Nur mit Vorbehalt, nur mit größter Bereitschaft zu Korrekturen und Richtigstellungen kann der Beobachter ein halbwegs richtiges Bild der Jugend von heute entwerfen. Die Individualitäten der Heranwachsenden scheinen mannigfaltiger geworden als früher, zum mindesten äußern sie markanter ihre Verschiedenheit. Um die gemeinsamen Züge des Nachwuchses mehrerer Völker festzustellen, bedürfte es einer Studienreise. Welche gewaltigen Gegensätze, wie viele Typen und Persönlichkeiten im Werden bekunden sich unter den jugendlichen Bewohnern unseres jetzt relativ so kleinen Vaterlandes! Vom Häuptling einer Kinderdiebsbande zum heroisch sich durchhungernden Jünger der Wissenschaft, vom Luxusbackfisch zur jungen Arbeiterin, die am Abend ihres harten Werktages Volksbildungskurse hört, und zur Offizierstochter, die mit ihren Lektionen die Mutter erhält – ganz abgesehen von der wenig gekannten […] in den Zirkel ihrer vom Lauf der Monde abhängigen Beschäftigung gebannten bäuerlichen Jugend. Wer wagte da rasch und entschieden ein zusammenfassendes Urteil zu fällen?

             Bei aller individuellen Differenzierung, trotz des natürlichen Fortbestehens unabstreitbarer Merkzeichen jugendlichen Wesens zeigt die kommende Generation im allgemeinen ein andres Gehaben als Österreichs Nachwuchs vor einigen Jahrzehnten. Zwei Momente haben bei dieser Wandlung in hohem Maße mitgewirkt: der verschärfte Existenzkampf und der Sport. Das Haustöchterchen in seiner wohlgehüteten Zierblumenlieblichkeit stirbt allmählich aus, und bei den jungen Männern bildet sich frühzeitig ein scharfer Sinn fürs Praktische, der zu resoluter Selbständigkeit, Unternehmungslust, bisweilen auch schließlich zur Abkehr von geschäftlicher Ehrenhaftigkeit führt. „Nach Golde drängt, am Golde hängt doch alles! Ach, wir Armen!“ mußte schon Fausts Gretchen in früher Selbsterkenntnis seufzen. Für Hans und Grete von 1923 ist dieser Ausspruch gewiß nicht minder zeitgemäß, nur der elegische Ausklang entspricht moderner Jugendstimmung schwerlich. Jünglinge und Mädchen müssen heute ins feindliche Leben, beide lernen wetten und wagen, Daß bei der weiblichen Jugend ihre immer noch stärkste Waffe im Kampf ums Dasein, der Reiz ihres Geschlechtes, in vielen Fällen zum Einsatz im mehr oder minder hohen Glücksspiel wird, wen darf es wundernehmen? Die Naive, das unbeschriebene Blatt, dem erst der Gatte Inhalt und Farbe gab; la petite oie blanche, dient nur mehr zur Charakteristik einer vergangenen Epoche. Glücklicherweise ist darum echte Mädchenhaftigkeit, instinktive Scheu vor der Herabwürdigung des Liebeslebens durch Zynismus und Brutalität nicht untergegangen. Wohl aber ist der Brunhildtypus seltener geworden in einer Zeit, die mit dem Recht auf Betätigung auch den Anspruch auf Freude für jeden Menschen anerkennt und zugleich durch die wirtschaftliche Not edle Befriedigung des Genußtriebes furchtbar erschwert. Aber in sieghafter Stärke erhält sich wie in frühern Jahren ökonomischer Wirrsal und moralische Erschlaffung auch gegenwärtig die Mädchenreinheit als Ideal und Distinktion einer Elite aller Klassen.

             Der Begriff der Frauenehre hat eine Wandlung erfahren, aber er dauert fort. Das freie Bündnis einander achtender und liebender Menschen, auch ohne Standesamt oder Priestersegen, ist im Ansehen gestiegen. Gegen unauflösliche Eheketten protestieren alle Vertreter geistigen und sittlichen Fortschritts. Aber die Käuflichkeit der Liebesbezeugungen gilt nach wie vor als Erniedrigung, deckt sich durch Hüllen und Schleier aller Art, und auch die Widerstandslosigkeit junger Mädchen gegenüber den Wallungen weiblichen Instinkts wird trotz mancher Propaganda des Wortes und der Tat nicht zum Vorbild, nicht zur Regel. Und darauf kommt es an.

             Aus wirtschaftlichen Erwägungen, ohne stufenweise Vorbereitung, in der sittenlockernden Nachkriegszeit wurde eine vom Zufall bestimmte Form der Koedukation in unseren Mittelschulen eingeführt für junge Menschen im krisenreichen Übergangsjahr zur Vollreife. Kein sittliches Ärgernis hat sich daraus ergeben. An unserer Akademie der bildenden Künste werden hochbegabte Mädchen als Schülerinnen neben ihre männlichen Kollegen aufgenommen. Trotz der manchem Beurteiler gefährlich aufreizend erscheinenden Atmosphäre der Bildhauer- und Malerwerkstätte arbeiten dort junge angehende Künstlerinnen von einwandfreier Ehrbarkeit im alten engen Sinne dieses Wortes. Es gibt auch heute noch Wiener Frauen, die kein Einsiedlerdasein führen, auch lebhaft und vertraut mit der Jugend verkehren, und dennoch jene Mädchen aus der Chronique scandaleuse, denen eine Einschiffung nach Cythera nicht mehr bedeutet als ein Spaziergang, nur vom Hörensagen kennen. Die stetig wachsende soziale Bildungs- und Fürsorgearbeit, namentlich in unserer Stadt, die günstigeren Wohnungsverhältnisse der früher wirtschaftlich benachteiligten Schichten wirken dahin, daß auch die jungen Töchter der Volkes zu einem Frauendasein heranreifen können, das in der Liebe weder Erwerb noch Rausch, sondern seine Krönung sieht. In der modernen Bühnendichtung, der die Jugend so gern ihr Ohr leiht, kommt // die Poesie des Mädchenstolzes langsam wieder zu Ehren. Und selbst im Lager der radikalen Umwerter aller Wert, der Kommunisten, erhob eine Frau vor nicht ganz drei Jahren ihre Stimme zugunsten des Ideals der Monogamie. Sie lehrt: „Der Wille, die einzige geliebte Person für den andern zu sein, ist in jedem Kulturmenschen vorhanden, wenn überhaupt von Liebe die Rede sein darf. Und wie die Dinge heute und für eine sehr lange Zukunft (vielleicht für immer) liegen, wird eine Einwilligung zur Untreue nie aufrichtig gegeben und längere Zeit nicht ohne häßliche Reibungen ertragen werden können. Am leichtesten und besten wird ein monogames Verhältnis wertvoll gestaltet werden können. Wenn die Menschen, vor allem die jungen Menschen wirklich ernsthaft an die bewußte Gestaltung ihres Lebens herangehen, werden sie von selbst zu der Überzeugung gelangen, daß aus all den Wirrnissen und Niedrigkeiten ihres Trieblebens nur ein Weg wirkliche Erlösung, Reinheit, Schönheit bringen kann – die Liebesgemeinschaft mit einem Menschen, mit dem sich zu verbinden, nicht nur erotisches Glück, sondern auch Steigerung des gesamten übrigen Lebens bedeutet.“ Als Kriterium des monogamen Verhältnisses bezeichnet die Bekennerin dieser Lehren den festen „Willen zur Dauer und Ausschließlichkeit“ des Bündnisses. Es ist nicht allzu schlecht bestellt um das ideelle Rüstzeug gegen einen Rückfall in primitive Erotik, wenn von der alleräußersten Linken solche Mahnungen an die Jugend ergehen.

             Die Beziehung jugendlicher Menschen zueinander reiner, natürlicher, kameradschaftlicher zu gestalten, ist einer der großen Vorzüge jener systematischen, freiwilligen Übungen der Körperkraft und Gewandtheit, die wir Sport nennen. Das Wort (es ist gemischten englisch-französischen Ursprungs) kam erst bei der vorigen Generation in Mode, wie die Betätigung, die es bezeichnet. Während aus den Erinnerungen an das achtzehnte Jahrhundert das Bild sportlichen Vergnügungen nur selten auflebt – wie etwa der Schlittschuhlauf in Weimars klassischen Tagen – haben sie sich in neuester Zeit auf unserem Kontinent in allen Gesellschaftsschichten ausgebreitet, manchmal sogar auf Kosten der Geistesbildung. Im Jahre 1878 wurde der Name „Sport“ in das Wörterbuch der französischen Akademie aufgenommen, ein Erweis für den Zusammenhang von Sprachwissenschaft und Kulturgeschichte. Wenige Neueinführungen haben auf die Mentalität und Lebensweise der Jugend so starken Einfluß geübt wie der Sport. Die zweckmäßige Tracht verscheucht die Prüderie, die kräftige Bewegung weckt Selbstsicherheit und Unabhängigkeitssinn, die mannigfachen Anforderungen an die Geistesgegenwart stählen die Widerstandsfähigkeit. Der freie Wettbewerb mit dem anderen Geschlecht, das Beisammen der Mädchen und Burschen im Freien, oft im Kampfe mit den Unbilden der Jahreszeit, stumpft ab gegen die Regungen der Lüsternheit, ungeachtet der allgegenwärtigen Schlingen Aphrodites, denen völlig zu entgehen, unnatürlich und unmöglich ist. Unter dem Einfluß des Sportes wich die Sentimentalität, die süßliche Galanterie einer früheren Zeit aufrichtigeren, wenn auch oft rüderen Umgangsformen. Vielleicht läßt sich die Meinung vertreten, daß erst der Sport unsere Jugend zu dem gemacht hat, was sie ist.

             Und sie ist nicht kernfaul, nicht schlecht. Die erschreckenden Auswüchse, bedingt durch eine Zeit politischer Gärung ohnegleichen, dürfen nicht hindern, das Gute zu sehen. Der Protest der freigesinnten Studenten gegen die Exzesse verblendeter Gewalttäter war schön und würdevoll. Eine nach Tausenden zählende Schar junger Arbeiter und Arbeiterinnen hat am Jahrestag der Gründung unserer Republik in der Volkshalle der Aufführung einer Szene aus Romain Rollands „Die Zeit wird kommen“ beigewohnt. Wie eine Mahnung klangen die hehren Worte der Einsicht und Eintracht, daß ein anderes Frankreich lebt als Deutschlands Vernichter: das Frankreich des Märtyrers der Geistesfreiheit Jaurès, des kühnen Anklägers Zola und all der Großen, deren Wirken durch den französischen Imperialismus gehöhnt und verleugnet wird. Und diese Worte fanden begeisterten Widerhall bei den jungen Hörern. Es gibt eine Jugend des echten, aufklärenden, roheitsfremden Idealismus, auch im Österreich von heute. Wie würde ein Künstler sie darstellen? Nicht in einer Gestalt, Jüngling und Mädchen nebeneinander, vielleicht im knappen Sportkleid, Hand in Hand, mutig und froh ins Weite schauend, einer besseren Zukunft entgegen – trotz alledem.

In: Neue Freie Presse, 4.1.1924, S. 1-3.