Margret Hilferding: Geburtenregelung (1925)

Margret Hilferding: Geburtenregelung.

             Die Schwangerschaftsverhütung (Prävention) ist imstande, die Regelung der Geburten in bezug auf die Zeit und Modalitäten der Zeugung zu bewirken. Wenn sie sich auch nicht in jedem Einzelfalle als zuverlässig erweist, so ist ihr Einfluss auf die Geburtenbeschränkung unbestritten. Sie ermöglicht es, den Lustgewinn beim Geschlechtsverkehr von der Kinderzeugung abzulösen; die Kinderzeugung kann daher mit voller Berücksichtigung der Umstände, die wir in den früheren Artikeln als für die Fortpflanzung wichtig erörtert haben, unternommen werden. Die Auswahl in der Beschaffenheit der Erbmasse beider Eltern, die Wahl des nach äusseren und inneren Momenten günstigsten Augenblickes der Zeugung, die Quantität der Nachkommenschaft ist durch eine zweckmässige und konsequent durchgeführte Prävention gesichert. Die Aufklärung der Eltern in Beratungsstellen, durch Vorträge und Zeitungen wird erfolgreich sein, wenn gleichzeitig die Möglichkeit der Prävention durch leichte Erreichbarkeit der Präventivmittel gegeben ist. Die Krankenkassen könnten diese Aufgabe mit geringer materieller Belastung durchführen, wenn sie endlich das entsprechende Verständnis dafür hätten. Durch jede wohlgeglückte Prävention wird jene andere Methode der Geburtenbeschränkung überflüssig gemacht, von der wir zum Schlusse sprechen wollen. Es ist die Fruchtabtreibung.

             Der Versuch, mit gesetzgeberischen Mitteln die Fruchtabtreibung zu verhindern, stammt aus einer Zeit, in der dieser Eingriff als ärztliche Leistung nicht bekannt war. Er richtete sich damals gegen jene ganz rohen und brutalen Gewaltmittel, durch die Laien früher eine Abtreibung vorzunehmen versuchten. Das waren schwere Gifte, insbesondere Phosphor, und körperliche Verletzungen grober Art. Ihr Erfolg war stets eine Schädigung der Gesundheit der betroffenen Frau, oft mit tödlichem Ausgang, während die Abtreibung nicht immer gelang. Die Auffassung der Abtreibung als schwere körperliche Verletzung ist aus dem Wortlaut des Gesetzes (§ 144 und folgende) noch heute erkennbar. Von einem ärztlichen Eingriff konnte, wie gesagt, damals noch nicht die Rede sein; die Anwendung des Gesetzes auf ärztliche Operationen ist daher ein Anachronismus und es ist höchste Zeit, dass seine Änderung erfolgt. Über die Art dieser Abänderung tobt ein heftiger Kampf, den wir an den Erkenntnissen, die wir in früheren Artikeln gewonnen haben, beleuchten wollen.

             Wir müssen ohneweiters zugeben, dass bei dem ungeheuren Interesse, dass die Gesellschaft an Qualität und Quantität der Nachkommenschaft hat, ihr das Bestimmungsrecht auf zwar noch ungeborenen, aber doch lebende Mitglieder nicht abgesprochen werden kann. Eine Vernichtung solchen Lebens darf daher im Interesse der Gesellschaft nur bei solchen Keimlingen erfolgen, für die eine Prävention zu Recht bestanden hätte. Wenn der Gesellschaft aber ein Einspruchsrecht gegeben ist, so muss sie als Gegenleistung auch alle Pflichten übernehmen und teilen, welche der Vorbereitung und Bestätigung der Elternschaft (Mutterschaft) dienen. Sie muss die Eltern nicht nur über die Grundlagen der Bevölkerungspolitik aufklären, sie muss die Vorbedingungen für jede Bevölkerungspolitik erst schaffen. Die Frage der Ausschaltung kranker Erbmassen muss ebenso gelöst werden, wie die Frage der Aufzug des künftigen Kindes. Schwangerschafts- und Stillfürsorge, Behebung der materiellen und der Wohnungsnot, Erziehungsfürsorge in grösstem Umfange werden die Anerkennung und den Gegenwert für die Leistung der Elternschaft bilden.

             Es wird auch Aufgabe der Gesellschaft sein, in allen Fällen, wo sie auf das Leben des Nachkömmlings keinen Anspruch erhebt, also in irgendeiner gesetzlich festzulegenden Form die Einwilligung zur Fruchtabtreibung gibt, dafür zu sorgen, dass dieser Eingriff mit der geringstmöglichen Gefahr für die Mutter vorgenommen werden kann.

             Durch die Fortschritte der Operationstechnik und der Asepsis ist der ärztliche Eingriff zu einer Vollkommenheit gebracht, welche das Gefahrenrisiko für die Mutter bei wohlerwogener Auswahl der Fälle und technisch einwandfreier Durchführung sehr gering gestaltet. Vielleicht wird eine spätere Zeit erst noch mehr verringern.

             Dagegen steht noch immer jene ungeheure Zahl von Fällen, in denen oft geradezu veranlasst durch die Drohungen des § 144 die Frauen – und stets die ärmsten und hilflosesten – zum Pfuscher getrieben werden und die mangelhafte Fürsorge der Gesellschaft in bezug auf die Geburtenregelung mit der Gesundheit, mit dem Tode, mit Schande und Kerker bezahlen. Es muss ein Weg gefunden werden, um diesen Frauen zu helfen; und nur dann werden wir eine Abänderung des § 144 als gut ansehen können, wenn er die Ungerechtigkeit, Asozialität und Gefährdung von Menschenleben aus der Welt schafft, die jetzt zur Praxis jener Paragraphen und all derer, die sie handhaben, gehört.

             Wir müssen hier auf eine Bemerkung im ersten Artikel zurückkommen, die sich auf den Unterschied zwischen Geburtenregelung und Geburtenbeschränkung bezog. „Geburtenbeschränkung gründet sich auf das durchaus egoistische Motiv des persönlichen Wunsches, der persönlichen Fähigkeit zur Nachkommenschaft. Geburtenregelung geht hervor aus den altruistischen Beweggründen der gesellschaftlichen Notwendigkeiten in bezug auf Quantität und Qualität des Nachwuchses. Die Forderung der Geburtenbeschränkung ist die Forderung des verantwortungslosen Laien, die Forderung der Geburtenregelung ist die Forderung der ihrer Verantwortung bewussten Wissenschaft!“

In: Die Mutter, 1.4.1925, S. 6-7.