René Fülop-Miller: „Dividuum“, der Massenmensch

René Fülop-Miller: „Dividuum“, der Massenmensch (1923)

             Die neuen Lebensformen des kollektiven Menschen in Sowjetrußland sind unmittelbar aus dem sozialen Kampfe hervorgegangen. Dank einer straff organisierten Kollektivität wurde die für unerschütterlich gehaltene Zarenmacht gestürzt, sind die früher Unterdrückten zur herrschenden Klasse geworden. So ist es natürlich, daß sich das ganze Streben und Sehnen der zur Macht gelangten Klasse im heutigen Rußland darauf richtet, diese Kollektivität zu befestigen, alles aus dem Wege zu schaffen, was ihr widerspricht. Die Masse ist also die wichtigste Erscheinung im neuen Rußland; die Masse, die man heute freudejubelnd oder wider den Gegner empört auf den Straßen von Moskau fluten sieht – sie, der große Erfolg, die ureigene Schöpfung der russischen Revolution –, sie bildet unleugbar eine neue Realität im russischen Leben. Wenn sie sich mit ihrem Riesenkörper vom Theaterplatz über die breiten Straßen und Plätze dahinbewegt, wenn sich ihr Riesenleib in zähen Zuckungen aufbäumt, wenn sich ihm dröhnendes Gebrüll entringt oder wenn die Masse sich selbst friedsam über die Straßen Moskaus hinlagert, wie ein phantastisches Vorweltwesen, den Tag, die Sonne, ihre Kraft beschaulich genießend, immer, in allen ihren Äußerungen vergißt man völlig den einzelnen Arbeiter in seiner Arbeitsbluse oder die betriebsame Beamtin aus dem Sowjetamte, den Rotgardisten und den jungen Studenten und erkennt: hier ist eine einzige große Masse wirklich und lebendig. Wer sich noch außerhalb dieser Masse zu setzen vermag – ein Fremder, ein einzelner, also ein anderer –, errettet sich wohl das Gefühl, daß es auch hier noch Menschen gibt, ahnt aber schon dumpf in ihnen das fremde, das andere Wesen! Fremd die Stimme, die da aus Menschenkehle dringt, fremd die Bewegung, die sich dem Menschenleib entringt! Und deshalb empfindet sie der einzelne wie eine feindliche Macht, von der er nur mehr geduldet wird, die ihn aber früher oder später zu vernichten droht. Das ist das Bezeichnende: die Masse, die dem einzelnen heute in der russischen Stadt entgegentritt, wir als eine neue, andersartige Wesenheit unmittelbar empfunden. Die an die Revolution glauben, sagen, es sei der neue Mensch; so werde der neue Typus Mensch aussehen, der von nun an herrschen soll! So sah ich ihn, den hier im Sowjetlande vielgepriesenen und als siegreich und stark verkündeten Zukunftsmenschen, das neue „Dividuum“, den Massenmenschen!

             Einer, der zur Revolution gehörte und an jenem Tage mit mir umherwandelte, wies auf die Masse hin, die sich jetzt majestätisch und siegesbewußt vor uns bewegte, und sagte: „Die Organsation und ihr Geschöpf, der kollektive Mensch, sind die großen Errungenschaft des Jahrhunderts. Um seinetwillen, des Kommenden willen, mußten wir die Welt des einzelnen, sein Eigentum, seine Interessen und endlich die Seele, mit der er sein Eigenleben legitimierte, erbarmungslos zerstören! Wir erkannten das Geheimnis, daß die Erlösung des Menschen vom Leiden und damit sein Heil nicht in der Entwicklung seines geistigen Innenlebens bestehe, sondern allein in der Zusammenfassung und Organisierung jener Elemente, die die Millionen gemeinsam verbinden, des gemeinsam Menschlichen. Alles aber, was die vielen voneinander scheidet, was den Menschen Einzelbedeutung vorspiegelt (und dies ist eben die Seele!), muß abgeschafft werden! An Stelle des inneren Menschen entsteht so der herrliche äußere Mensch, den gemeinsame Interessen, gemeinsame Bewegungen und gemeinsame Aktionen verbinden. Jawohl, wir wollen den äußeren Menschen schaffen, denn nur er ist stark, und willen ihn organisatorisch, auf mechanistischer Grundlage, herstellen, denn nur der Mechanismus ist verläßlich.“

In: Neues Wiener Tagblatt, 30.9.1923, S. 2-3.