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Rudolf Kalmar: Unter dem Doppelgeier… Von der Börse, den Börsianern und allem was dazugehört (1925)

Rudolf Kalmar: Unter dem Doppelgeier… Von der Börse, den Börsianern und allem was dazugehört. Zeichnungen von Fred Dolbin.

             Es ist ein frommer Brauch, den Hut zu ziehen, wenn man an der Börse vorübergeht, denn es liegt dort manches Liebe begraben: der Winter in Nizza, der Sommer auf Helgoland, das Badezimmer mit dreizehn Finessen und ein Sechszylinder mit Wasserspülung. Man träumte von diesen Dingen solange, bis die Kollegen vom volkswirtschaftlichen Teil anfingen, ihren täglichen Nachruf mit „andauernd flau“ zu überschreiben. Da wurden die Zeiten finster und bitter. Als sich die schmutzige Phantasie der Ökonomisten erst gar mit 1873 zu beschäftigen begann – in historisch-kritischen Betrachtungen und weil ihre Träger nichts besseres zu tun hatten – konnte das Ende nicht mehr fern sein.

             Gott hat es anders gewollt: die Börse steht noch immer.

             In schlichter Einfachheit lädt sie den Wanderer zu architektonischen Betrachtungen und zeigt ihm schamhaft die nackten Männlein am Dachrand. Es heißt, daß auch sie vor zwei Jahren noch eine wallende Toga besessen hätten. Wer weiß es?

                                                                                 *

             Ein Denkmal wiedergeborener Antike am Ringstraßenrand. Vom Boden an liegt eine Schicht lichter und lichter werdenden Schmutzes an dem marmorprotzenden Bau. Tritonen stechen mit goldenen Gabeln gegen die stürmende Pleite. Durch steinerne Wogen steuern Schifflein mit (wahrscheinlich) unsicherem Kurs und ein engmaschiges Drahtnetz, vor die Bogen des Atriums gespannt, hindert die Spatzen, das zu tun, was viele Börsianer schon lange getan haben.

             Just dort zwischen den dickwüstigen Säulen hat vor gut zwei Jahren ein Mann seine Höllenmaschine placiert: Konservenbüchsen mit Zündschnurzipfeln. Sie pflutschten am Abend auf, ohne Schaden zu stiften, fetter Ruß besudelte ein paar Marmorblöcke, Börsenräte kamen zum Lokalaugenschein, das Polizeipräsidium amtierte die halbe Nacht, rasende Reporter schnüffelten tagelang nach dem Attentäter und fanden ihn nicht. Er war entweder ein ganz kleiner, ein ganz ungeschickter Gauner, oder ein großer Witzbold. Noch heute sieht man einem Dachträger die Spuren von seiner Mordmaschine.

             So wenig hat sich an der Börse verändert. Nicht nur das: sogar noch weniger.

             Noch immer sitzen die Kibitze drüben im Café Wögerer, dem Fegefeuer vor dem Börsenhimmel und mimen volkswirtschaftliches Interesse.

             Man betritt die Börse (wie denn nicht) durch ein Hintertürchen und kommt zunächst nach einigem Hin und Her in einen Wartesaal dritter Klasse der österreichischen Bundesbahnen. St. Pölten, beispielsweise, doppelt genommen und frisch ausgekehrt. An graubraunen Wänden stehen biedere Bänke und langweilen sich in stiller Feierlichkeit. Wie die guten alten Ledermöbel im Rauchzimmer daneben, die im Verein mit großen Zeitungsständen das Angesicht: bürgerliches Kaffeehaus kopieren.

             Man ist prosaisch gestimmt und spricht daher von Kunst, von Musik, von Tingl-Tangl. Liest ein Feuilleton über Fritz von Unruh und wärmt alte Tratschgeschichten von irgend einer Frau Generaldirektor auf. Oder man schläft. Je nachdem. Was tuts?

             Keine Zahl schrillt auf aus dem wohlig warmen Zigarrenrauch. Nicht einmal das Erinnern an ein Bezugsrecht oder das Interesse für eine neue Emission. Egal… Man hat geruhsame Dinge im Kopf wie zur Urlaubszeit und kratzt nur manchmal unmerklich hinter dem Ohr ein wenig die Sorgen.

             Während im Saal drinnen dickflüssig und träge die österreichische Volkswirtschaft brodelt.

                                                                                 *

             Die Sensale im Schranken hocken melancholisch über ihren Büchern und kommen sich sehr überflüssig vor. Die Aufträge sind selten geworden. Man erledigt sie mit genießerischem Bedacht und malt zwischen dem ersten und dem zweiten Gähnen kunstvoll geschnörkelte Ziffern ins Register. Hie und da nur steigt – ritsche, ratsche – die Avisotafel mit einer Notiz hoch, ohne daß sich jemand darum kümmert. Hie und da putzt einer zum x-ten Maile seine Brillengläser.

             Und die Kulisse sieht zu. Man lehnt an der Mauer, lümmelt an einem Schreibtischrand, räkelt sich auf einem massiven Stockerl und stellt sich mit einem Bekannten nach dem anderen zu einer kleinen Plauderei.

             Abgerissene Redefetzen treffen das Ohr im Vorübergehen.

             „Hören sie zu: Sagt der alte Blau zur seinem Prokuristen…“

             „…die Schlanke, mit dem schreigelben Wuschelkopf…“

             „…und er bildet sich doch ein, daß das Kind…“

             „Nebbich!“

             Der Verkehrsturm in der Salgo-Kulisse ist mit Papierstreifen abgeblendet.

             Es interessiert sich kein Mensch für das ganze Brimborium.

                                                                                 *

             Endlich nach einer halben Stunde ruft irgendwo ein Kommissionär zum Geschäft. Mit gellender Stimme schreit er:

             „Ich kauf‘ zu viere… Ich kauf‘ zu viere… Ich kauf‘ zu viere…“

             Bei jedem Satz fliegt sein Arm mit scharfem Wurf durch die Luft. Trifft mit der Fingerspitze bald de, bald den. Tödliches Schweigen.

             Er kauft zu viere. Keiner rührt sich.

             Wieder platzt der Kommissionär los und geifert seinen Satz in das Gemurmel, bis ihm die Stirnadern schwellen und die Stimme kiekst. 

             „Ich kauf‘ zu viere… Ich kauf‘ zu viere… Ich kauf‘ zu viere…“

             Eine aufgeregte Hand peitscht die Luft. Die andere krabbelt nervös im Notizbuch.

             Endlich meldet sich einer: „Ich geb‘ um fünef…“

             „Ich kauf‘ um viere…“

             „Ich geb‘ um fünef…“

             „Ich kauf‘ um viere…“

Auge im Auge stehen die beiden Kämpfer // und drücken einander ihr Angebot zu. Die anderen lachen.

             „Ich geb‘ um fünef…“

             „Ich kauf um viere…“

Da zieht der Verkäufer die Schultern hoch und dreht sich gemächlich um. Es ist wieder einmal nichts gewesen.

             Schon spricht er mit einem Freund über Weihnachten am Semmering, da kreischt nach ein paar Minuten neuerlich die Stimme des Kommissärs: „Ich kauf‘ um viere…“

             Der andre schleicht langsam zu der Gruppe und lauert harmlos im Hintergrund.

             Auf einmal fährt er los, schleudert mit beiden Händen seinem Partner die Worte ins Gesicht: „Ich geb‘ um viereinhalb…“

             „Ich kauf um viere…“

             „Ich geb um viereinhalb…“

             „Gemacht… Dreimal…“

             Jeder kritzelt eine Klaue auf seinen Block. Dann verzieht man sich wieder zu den beschaulichen Gruppen.

             Schon im Abendblatt steht dann etwas von „andauernd flau, bloß kleinere Schlüsse getätigt“.

                                                                                 *

             Punkt 1 Uhr läutet eine Mistbauerglocke die Börse aus. Man notiert die Schlußkurse, telephoniert an sein Bureau um Orders und fragt zu Hause an, was es zu Mittag gibt. Sonst ändert sich nichts.

             Man kauft an der Nachbörse so wenig wie zwischen elf und eins.

             Und wenn man den vergessenen Doppeladler, der, aus alten Zeiten überkommen, noch immer einen Nebenraum schmückt, mit halbgeschlossenen Lidern anblinzelt, sieht man, wie sein Hals sich streckt, wie sein Schnabel wächst und die Augen zurücktreten.

             Jede Seite würgt einen gierigen Brocken: So wird ein altes Emblem zum Börsenzeichen: Doppelgeier.

In: Der Tag, 25.12.1925, S. 3-4.