W [Victor Wittner?]: Valuta und Prostitution

W [Victor Wittner? ]: Valuta und Prostitution. (1920)

Wer mit Sorge in die Zukunft unseres Vaterlandes blickt, den mag die wirtschaftliche Not, die auf uns lastet, fast noch weniger beängstigen als der sittliche Niedergang der Wiener Gesellschaft, der sich mit trauriger Offenkundigkeit vollzieht. Die Angehörigen der Wiener Mittelschichten wissen insgesamt, daß sie nicht leben können – und sie leben dennoch. Sie wissen, dass sie selbst und ihre Nachbarn und ihr ganzer Bekanntenkreis von dem bürgerlichen Einkommen, das sie haben, schlechterdings nicht die notwendigsten Bedürfnisse bestreiten können und dennoch geht man gleichmütig aneinander vorbei, begrüßt sich, seufzt ein wenig über die schlechte Zeit, ist aber noch leidlich anständig gekleidet und ist, statt nach allen Gesetzen der Logik zu verhungern, bisher auf rätselhafte Weise am Leben geblieben. Jeder ist für seinen Nachbarn ein Rätsel: Wie existiert der Mensch mit seiner Familie? Und jeder betrügt den Nachbar und umgekehrt. Sie betrügen einander mit geputzten, frisch aufgebügelten, gewendeten Kleidern, mit übermäßig gebürsteten Hüten, mit Stiefeln, die so geflickt und gewichst sind, daß „man es nicht merkt“. Es soll der Eindruck erweckt werden, daß man’s noch aushält, daß man noch Reserven hat. Ein namhafter Teil des Wiener Bürgertums – und nicht der schlechteste – sucht auf diese Weise mit äußerster Kraftanstrengung zu verbergen, daß er bereits proletarisiert ist. Ein anderer Teil freilich hat nichts zu verbergen, sondern zeigt ganz offen, daß es ihm gut geht. Das sind die Leute, die in ihren Geschäften betrügen und daraus die Mittel ziehen, in ihrem gesellschaftlichen Auftreten ungeniert zu protzen, während die anderen in ihrem Berufsleben rechtschaffen bleiben und daher als arme Teufel genötigt sind, zur Wahrung des sozialen Scheins mit umgedrehten Hemdkragen und ängstlich konservierten Bügelfalten zu hochstapeln. Diese verhältnismäßig unschuldigste Betrugsform wird von anderen Formen im privaten wie im geschäftlichen Leben hundertfach überboten.

Im Wiener Handel, besonders im Kleinhandel, haben wohl seit jeher ein wenig orientalische Usancen geherrscht. Aber eine so schamlose Willkür der Preisbestimmung, eine so souveräne Verachtung aller Gesetze einer soliden kaufmännischen Kalkulation, eine so brutale Vergewaltigung der wehrlosen Kundschaft, ist noch niemals dagewesen. Waren schon während des Krieges die herkömmlichen Bezugswege und Preisberechnungsmethoden außer Gebrauch gekommen, so hat der Kurssturz der Krone im letzten Jahre die kaufmännischen Traditionen vollends begraben. Nun gibt es keinen Halt mehr. Das Offert von gestern stimmt morgen nicht mehr – wozu also überhaupt kalkulieren? Man bezieht die Waren, man weiß nicht woher, man verkauft sie, man weiß nicht wohin, die Herkunfts- und Absatzbeziehungen sind verändert und ändern sich mit jedem neuen Tag, und so wird der Handel zum Glückspiel, in dem sich der Händler die Gewinste selber zumißt. Jeder Geschäftsabschluß ist eine Trefferziehung. Kann man sich über die Ausschreitungen der Börsenspekulation wundern, da der sogenannte solide Handel täglich die gleichen Ausschreitungen begeht? Jeder Warenpreis ist gegenwärtig ebenso willkürlich und aus der Luft geholt, wie die Börsenkurse. Man kann mit Tuch, Messing, Holz oder Zucker geradeso „spielen“, wie mit Skoda oder Alpinen.

Die Börse ist nur der für alle Welt offene Markt, während man bei den anderen Warenmärkten doch irgendwie Anrainer sein muß. Freilich genügt auch eine sehr entfernte Anrainerschaft. Es gibt Spezereiwarenhändler, die mit Telegraphendraht und Optiker, die die mit Stiefelsohlen Handel treiben. Keiner bleibt auf dem geraden Wege seines Berufes. Vor den obersten bis in die untersten Schichten hinab sucht jeder eine Nebenbeschäftigung, die möglichst mühelosen Gewinn abwirft und wird der ruhigen Übung und hergebrachten Ehrbarkeit seines eigentlichen Berufes entfremdet. Die Korruption ist tief in das öffentliche Beamtentum, noch viel tiefer in gewisse Kreise des Privatbeamtentums eingedrungen. Mann verkauft die Machtbefugnisse oder die vertraulichen Kenntnisse des Amtes. Aus allen Finanzinstituten heraus wird ein schwunghafter Handel mit Börsentipps getrieben. Die „Wissenden“ florieren. Kleine Bankbeamte geben ihre Gehälter als Trinkgelder an die Bureaudienerschaft ab, weil ihnen das Börsenspiel gestattet, auf größtem Fuß zu leben. Auf den Gängen der Bankgebäude treiben sich Schleichhändler herum, die hier für die erlesenste Ware leichten Absatz finden. Wie dieses Treiben auf die zahlreich weibliche Angestelltenschaft der Bank und der Kaufmannshäuser wirkt, braucht nicht gesagt zu werden. Die Sitten der Wiener Weiblichkeit von heute sind ein Kapitel für sich, wohl das schmerzlichste von allen. Wenn man die Preise auch nur der mittleren, der durchschnittlichen Konfektionsware in Rechnung zieht und auf der Straße die Kleider und Schuhe der jüngeren und reiferen Damenwelt mustert, so weiß man genug. Und wer unsere zahllosen, täglich sich mehrenden und täglich überfüllten Bars und Konzertcafés kennt und dort Beobachtungen und statistische Berechnungen anstellt, wird zu Schätzungen der Wiener Prostitution aller Gattungen kommen, deren nüchterne Ziffern man lieber für grauenvolle Phantasie halten möchte. Nie und nirgends hat es Verhältnisse gegeben, in denen der bestimmende Einfluß des wirtschaftlichen Unterbaues der Gesellschaft auf ihren sittlichen Überbau so augenfällig geworden ist, wie in dem Wien unserer Tage. Wenn man in Springers österreichischer Geschichte nachliest, wie da die demoralisierenden Wirkungen des Staatsbankerotts der napoleonischen Kriegszeit geschildert werden, findet man eine schlagende Übereistimmung zwischen einst und jetzt. Nur daß die engen Verhältnisse des Wien von damals, der von Festungswällen eingeschnürten, in idyllische Dörfer hinausquellenden Weltstadt, jetzt ins riesenhafte vergrößert sind – vergrößert der Umfang des Schauplatzes, vergrößert die düstere Intensität des Sittenbildes. Mit dem Schwanken und Sinken des Geldwertes schwanken und sinken die Grundlagen, auf denen eine scheinbar selbstherrliche Kultur sich in Generationen aufgebaut hat. Die Zusammenhänge zwischen Valuta und Preiswucher, zwischen Valuta und Sittenverderbnis, zwischen Valuta und Prostitution liegen für jeden, der sehen will, klar zutage.

Auch der Verwalter unser[er] Staatsfinanzen müßte dafür ein offenes Auge haben. Jeder Schritt, den er täte, um unseren Geldwert zu festigen, brächte uns auch der sittlichen Gesundung näher: jeder Schritt, den er unterläßt, bedeutet ein tieferes Hineintauchen in den Sumpf der Verkommenheit. Niemals hat ein österreichischer Ressortminister eine schwerere materielle und moralische Verantwortung getragen.

In: Der Morgen. 19.1.1920, S. 5.