Karl Marilaun: Gespräch mit Bela Balazs. Dichter und Flüchtling

Karl Marilaun: Gespräch mit Bela Balazs. Dichter und Flüchtling. (1920)

Die Neue Wiener Bühne führt heute seine „Tödliche Jugend“ auf und wie die Dinge gegenwärtig liegen, dürfte man in Budapest von einem Erfolg oder Nichterfolg dieses mit der ungarischen Boulevarddramatik nur sehr lose verknüpften Herrn Bela Balazs nicht viel Kenntnis nehmen. Denn dieser noch junge Mann ist heute im Budapest Horthys das, was man einst im Österreich des Grafen Stürgkh „subversive Elemente“ nannte. Ein politisch Bemakelter, der nach dem Zusammenbruch des Kom­munismus aus Ungarn flüchten mußte, weil auch er — reineren Herzens als mancher Budapester Terrorist und Desperado — an den Anbruch eines goldenen Zeitalters glaubte und das vermutlich todeswürdige Verbrechen beging, den Budapester Proletariern die Theaterlogen der Vertriebenen vom Jockeiklub aufsperren zu lassen.

Da der Jockei- und Gentryklub inzwischen wieder in seine gottgewollten Rechte eingesetzt wurde, ist es ziemlich selbstverständlich, daß der Name des Herrn Balazs nicht mehr wie einst in den Literaturzeitschriften des jüngsten Ungarn, sondern auf jener ominösen Liste geführt werden dürfte, die sich mit den Auslieferungsmöglichkeiten der ins Ausland geflüchteten Kommunisten befaßt. Grund genug, daß er auf eine Budapester Uraufführung eines Stückes wenig Werk legt und momentan nicht einmal darauf rechnen darf von der ungarischen Kritik teils in einen rot-weiß-grünen Himmel gehoben und teils auf der Erde der Boulevardkaffeehäuser in Fetzen zerrissen zu werden.

„Etwas Ähnliches“, sagt er, „war ja jahrelang mein Budapester Schicksal. Wenn ich als Zweiundzwanzigjähriger, nach der Premiere meines Erstlingsstückes Fräulein Doktor, Anlagen zum Größenwahn gehabt hätte, würde nichts im Wege gestanden sein, mich nicht nur für den jüngsten, sondern ungefähr auch für den vielversprechendsten ungarischen Autor zu halten. Zu jener Zeit war ich wahrhaftig berühmt, aber man soll einen Dichter nicht vor seiner zweiten Premiere loben. Das Schicksal meines zweiten Stückes, das mir weit mehr als mein erster dramatischer Glücksfall am Herzen lag, und in dem ich ein mich wirklich bewegendes Problem zu gestalten versucht hatte, war recht merk­würdig. Frühere Anhänger fielen von mir ab, und so enthusiastisch sie mich einst gelobt hatten, so empört rückten sie jetzt von mir weg. Nur die Jugend, die allerdings nicht gerade zur Gefolg­schaft der gewissen erfolgreicheren Budapester Boulevarddichter ge­hört, blieb mir jetzt erst recht treu; und da Gegensätze bei uns seit jeher ziemlich lebhaft ausgetragen zu werden pflegen, mußte ich mich daran gewöhnen, daß die einen jedes von mir geschriebene Wort als Dogma betrachteten und die andern gereizt auffuhren, wenn überhaupt nur mein Name, das rote Tuch, genannt wurde.

Ich habe mich mit diesen Dingen ziemlich gelassen abzu­finden versucht, denn schließlich glaube ich nicht, daß noch so laute Anerkennung oder noch so heilige und gereizte Ablehnung am Wert oder Unwert des Geschaffenen irgend etwas zu ändern imstande sind. Ich schrieb, was und wie ich mußte, und nahm mir vor allem kein Blatt vor den Mund, wenn ich in den von uns Jungen gegründeten und gelesenen Zeitschriften zu künstlerischen, kulturellen und Theaterproblemen Stellung zu nehmen versuchte. Ich mag, wie jeder ehrliche junge Künstler, als radikal gegolten haben, weil ich die Kunst in den Händen ihrer privilegierten Hüter für schlecht aufgehoben hielt; weil ich mit dem Betrieb unserer heutigen Theater niemals einverstanden war und der Bühne eine ideale Mission zuteile, an die allerdings solange nicht gedacht werden kann, als unsere Theater der platten Unter­haltung geistig unbemittelter und nur finanziell leistungsfähiger Kreise dienen zu müssen glauben.

Ich war also, wenn man will, schon zu einer Zeit „Kommunist“, da der Kommunismus wohl etwas wie die Religion und das Glaubensbekenntnis eines anständigen Menschen sein konnte, aber jedenfalls noch nicht in Politik, Macht und Parteischlagworte umgemünzt war. Und ich brauchte nichts von meiner inneren Orientierung aufzugeben, als man während der kommunistischen Ära an mich herantrat und mir sagte: „Nun hast du die Gelegenheit, deine Ideen in die Wirklichkeit umzu­setzen, das Theater zu einem Erziehungsmittel auszugestalten, die Jugend, das Volk, den Proletarier an der Kunst teilnehmen zu lassen.“

Was sollte ich nun tun? Ich bin kein Politiker, war es nie und werde mich nie für politische Dinge in dem Maße interessieren, daß ich einem Parteistandpunkt meine  künstlerischen und geistigen Interessen unterzuordnen vermöchte. Ich verhielt mich innerlich zu der Frage, ob der Kommunismus als politische Partei die Menschheit glücklich oder besser machen kann, durchaus passiv und wahrscheinlich auch skeptisch, aber ich habe natürlich die Möglichkeit, das Volk mit wirklicher Kunst ver­traut machen zu dürfen, mit Begeisterung ergriffen. Ich öffnete, da man mir eine Intendantenstelle und damit gewisse Machtbefugnisse über die mir anvertrauten Theater anbot, das Theater dem  Proletarierpublikum, ich rief unsere Jugend; ich spielte vor Leuten, die vielleicht noch nie im Theater waren, vor „Ungebildeten“ und Unverbildeten, unsere Klassiker und sah, daß sie hier wirkten wie am ersten Tag; ja, daß wir selbst Bernhard Shaws Candida mit tiefster Wirkung spielen konnten. Mit Politik und Parteikommunismus hatte dies alles wohl sehr wenig zu tun und ich war als der von den Kommunisten ernannte Theaterintendant nicht der Politiker eines zufälligen Macht­regimes, sondern einfach ein Künstler, der das, wofür er theoretisch schon seit Jahren kämpfte, nun endlich in die Tat umsetzen konnte. Als ich das Volk ins Theater rief, tat ich es nicht als politisierter Handlanger einer Partei, sondern in der festen Überzeugung, daß ich es mir selbst schuldig sei, nicht in dem Augenblick auszukneifen, in dem mir ein Glücksfall die Möglichkeit in den Schoß wirst, meine Ideen zur Ausführung zu bringen.

An der kommunistischen Machtpolitik hatte ich als Künstler keinen Teil, keinen Nutzen, kaum ein Interesse, (wenn ich mir vielleicht auch sage, daß ich mich selbst als Antipolitiker noch eher zu einem problematischen Parteikommunismus als zu einer Horde machtberauschter, königlich ungarischer Husaren schlagen würde. Diese innere Orientierung bin ich mir schuldig, solange ich vor mir selbst als anständiger Mensch bestehen will. Die Konsequenz dieser Überzeugung fühle ich gegenwärtig am eigenen Leib. Ich lebe im Exil, mein Vaterland ist mir verschlossen, meine Zukunft liegt ganz im Unbestimmten. Ich trage die schlechten Kleider eines Flüchtlings und weiß nicht, ob und wann wieder ein Werk von mir in der Sprache, in der es gedacht, gefühlt und niedergeschrieben ist, auf eine Bühne der Heimat, kommen wird, der ich als Verfemter gelte. Tragisch empfinde ich das nicht als Mensch, der sich nichts vorzuwerfen hat, sondern nur als Dichter, der sein Werk bis auf weiteres heimatlos weiß.“

In: Neues Wiener Journal, 27.2.1920, S. 3.