Iwan Goll: Moderne europäische Literatur

Iwan Goll: Moderne europäische Literatur (1925)

Das Wort „Europa“ beginnt nun endlich langsam in der Literatur die hochtrabende Bedeutung, die es vor zehn Jahren ungefähr noch hatte, zu verlieren und ganz natürlich zu wirken. Es war an der Zeit. In allen Ländern bevorzugen neugegründete Zeitschriften dieses Wort in ihrem Titel, und die alten, wie die „Neue Rundschau“ zum Beispiel, führen „europäische“ Rubriken ein. Der Krieg hatte die Länder in mittelalterliche Festungen verwandelt. Als langsam, sehr langsam die Barrieren fielen, ergriff jeden eine unersättliche Neugier, zu wissen, was der andere in der Zwischenzeit geschaffen hat. Und in diesem Stadium befinden wir uns noch heule. Mit einem schier unauslöschlichen Durst verschlingt man die Werke fremder Literaturen und vergißt oft dabei seine eigene. Das ist namentlich bei Deutschland verständlich, das jahrelang ganz allein auf sich angewiesen war.

Seine Nachbarn zu kennen und sein europäisches Wissen zu heben, ist gewiß die erste Forderung. Sie ist aber nicht die einzige. Als zweite kommt hinzu das europäische Gefühl. Und davon ist im deutschen Schrifttum noch wenig spürbar. So wenig, daß es trotz der sehr großen Dichter, die es besitzt, nicht viel Werke von europäischer Tragweite hat. Im Anfang des Ex­pressionismus, als auch Becher einen Lyrikband An Europa betitelte, und in den Ziel-Jahrbüchern war die Tendenz viel spürbarer als nachher. Die Revolution, statt sie zu öffnen, stutzte die Schwingen begeisterter Dichter, und die nahen Sorgen umnebelten die weiten Ideale. Heute? Der Expressionismus hat sich nicht hinausentwickelt. wie man es von ihm hätte erwarten müssen. Sein großer Fehler, ein sehr deutscher Fehler, war, sich im Abstrakten zu verirren und nicht den Mut gehabt zu haben, aus den großartigen Freiheits- und Extremitätsformeln sich in rein literarische abzukühlen, eine Kriegsindustrie in eine friedenswirtschaftliche umzuwandeln. Heute hat sich der Expressionismus totgelaufen und neben ihm, nicht einmal hinter ihm, marschiert eine (faute de mieux en couche sa famme) halbklassizistische Jugend. Das aber kommtdaher, daß niemand vom Ausland hat lernen wollen. Was die deutsche Wirtschaft so gut versteht, die Kunst und die Literatur hat es noch nie fertiggebracht, sich zu assimilieren. Die Sach­verständigen in der Malerei wissen es, daß ein Pariser Bad einen Maler gründlich stärkt. Und seit mehr als fünfzig Jahren gibt man den großen französischen Roman allen zum Vorbild und keiner oder ganz wenige profilieren davon. Es ist ja sehr schön, seine eigenen großen Rasseeigenschaften zu behalten, aber so eben sprechen wir erstens vom Roman, zu dem keine deutsche Eigenschaft befähigt, und zweitens von europäischer Literatur.

So weiß man auch noch viel zu wenig von den starken und bemerkenswerten Dichtungen, die in letzter Zeit in kleinen Nebenländern, in Jugoslawien, in Ungarn, in der Tschechoslowakei, in Rumänien und Spanien hervorsprießen und die alle nach einem europäischen Ideal tendieren. Dort überall sind ganze Sekten neuer junger Dichter erstanden, die ihre avantgardistischen Zeitschriften und Theorien haben und dabei sind, ein paar hohe Stockwerke am europäischen Turm mitzubauen. Sie stehen natürlich unter dem Einfluß der großen Zentralen. Paris, Rom. Berlin, Moskau, und manch ein Dichter, der Menschheitsdämmerung würde sich wundern, wie bekannt und wie kopiert er in Bukarest ist. Aber die wichtigste Beobachtung bei der Sache ist, daß der Expressionismus gegenüber den anderen Ismen den geringsten Einfluß ausgeübt hat. Europäisches Gefühl holt man sich, ganz natürlicherweise für alle Welt: in Paris. Die Ismen von Paris, die Schulen von Paris geben den geistigen Kurs an. Und wenn irgendein Ausländer irgendeine neue Idee oder Theorie, einen Ismus, zu propagieren hat, so trägt er ihn nach Paris, wie es Marinetti mit dem Futurismus, wie es die Spanier mit dem Kreationismus usw. getan haben. Man braucht absolut nicht die Achseln über diese Ismen zu zucken. Sie werden die Exponenten der heutigen Literatur bleiben, was man auch sage. Wer möchte heute die Größe des Impressionismus bezweifeln. Der Kubismus hat dieselbe Geltung.

Man lese doch lieber diese erste Literaturgeschichte der europäischen modernen Literatur nach: Litteraturas Europeas de Vanguardia, von Guillermo de Torre (Madrid, Caro Raggio, 1925). Ja so, sie ist auf spanisch geschrieben. Ja, heutzutage weilen die grundlegenden Dokumente und Studien in nebenstehenden Ländern geschrieben, die einen viel weiteren und objektiveren Überblicke über das, was in einer Hauptstadt geschieht, geben, als die Akteure selbst.

Gerade in Prag oder in Madrid ist es leichter möglich, daß einer den Geist von Paris und von Berlin amalgamiere und etwas Europäisches daraus mache, als in diesen Städten selbst, wo der Kämpfende geblendet ist. Gerade und nur in Madrid war es möglich, daß de Torre eine große Freske des heutigen dichterischen Schaffens in der Welt zusammenstellte. Er hat viele Zeitschriften gelesen, viele Ansichten gesammelt, deren Wert und Wirkung in seinem neutralen Schiedsturm auf den richtigen Generalnenner gebracht werden konnten. In Madrid braucht ein Literat keine Feinde zu haben, denn dort kann er dem nutzen und keinem in die Quere kommen. In Paris oder Berlin wird — auch mit Ismen — um das tägliche Brot und den ewigen Ruhm gekämpft. Da setzt es Haue. Da bleiben Rankünen. Und in Zukunft wird man sich mehr und mehr neutrale Kritikergerichte anschauen müssen.

Die Hauptkapitel des Torreschen Buches beschäftigen sich also mit der allerneuesten, der avantgardistischen Dichtung. Und er findet, daß unsere Zeit sich eine neue Ästhetik geschaffen hat, die man weder in eine romantische noch in eine rein klastische klassifizieren darf. Ihr Grundcharakter ist, vor allem für die romanischen Länder, die bisher den weitaus größten Stoff geliefert haben und sich in stetigem vulkanischen Ausbruch befinden: Kubismus, Dadaismus, Surrealismus lösten sich binnen zehn Jahren ab, eine sehr verfeinerte Sensibilität, ein starker Subjektivismus, ein Versuch, die neuen Werte der Zeit in die allgemein gültigen Formeln des Kosmos einzureihen und zu unserer Natur umzubiegen, und vor allem, diese „inquiétude“ der modernen Jugend, die manchen der jungen französischen Dichter dazu gebracht hat, von einem neuen „mal du siècle“, einem neuen Weltschmerz zu sprechen. Dies zwar mutet sehr romantisch an. Aber auf der anderen Seite stehen die objektiven, materiellen Theorien der Sprechkunst, die sich auf das rein Handwerkliche, das Gesunde in der Kunst beziehen. Hier verlangt die Lyrik nach einer extremen Reinheit, und zwar handelt es sich da nicht um die alte klassische gramma­tikalische Reinheit, im Gegenteil: fort von der Grammatik und zurück zum ureigenen Wort! ist die Parole. Le mots en liberté, ist die beliebte Formel vieler Dichter gewesen, von Apollinaire über Marinetti bis zu Majakowski. Reinheit ferner in dem Sinn, daß alles Gedankliche wie Unkraut aus der Lyrik gejätet werde und nur reine, bis aufs Urwort reduzierte Gefühle und Bilder gestaltet werden.

Auf 390 Seiten analysiert Guillermo de Torre (der selber einer der besten Dichter Jungspaniens ist, mit seinem Band: Helices) jede einzelne Bewegung und jede einzelne  Persönlichkeit, sammelt dann aber alles in allgemeine Formeln und legt selbst die Grundsteine der neuen Ästhetik. Einige Kapitelüberschriften werden hier am besten einen Begriff von den behandelten Themen geben: „Die Religion der Schnelligkeit“, „Geistige oder gefühlhafte Realität“, „Entmenschlichung der Kunst“, „Theorie der geistigen Ermüdung des modernen Menschen“, „Der Sieg der Metapher“, „Lob des Kosmopolitismus“, „Einfluß des Films auf die neue Literatur“ usw.

Dies Buch greift tief und weit. Es ist wirklich europäisch gedacht. Es sucht aus den Dichtungen so grundverschiedener Länder den einen bedeutsamen Sinn für unsere Zeit herauszudestillieren. Um so gewagteres Unterfangen, da die sogenannte europäische Literatur heute erst in ihren allerersten Anfängen steht und eine Reihe nichtromanischer Länder noch gar nicht genügend Zeit ge­habt haben, ihr ganzes Gewicht mit in die Wagschale zu legen.

In: Neues Wiener Journal, 15.9.1925, S. 3.