Emil Arnold-Holm: Moderne österreichische Lyrik [Mitterer, Zernatto]

Emil Arnold-Holm: Moderne österreichische Lyrik [Mitterer, Zernatto] (1931)

Die österreichische Literatur erlebt jetzt in den Alpenländern eine wahrhafte Renaissance. Die neueste Erscheinung ist Guido Zernatto, ein junger Dichter, der für seinen ersten Gedichtband bereits einen Literaturpreis erhielt, eine Billinger verwandte Erscheinung. Er hat jetzt im Verlag Wolfgang Jeß, Dresden, einen neuen Gedichtband Gelobt sei alle Kreatur herausgegeben. Man liest und staunt, wieviel schöpferische Kraft es in unserer als so wenig schöpferisch verschrienen Zeit noch gibt, man wird gepackt von der Ursprünglichkeit dieser dichterischen Begabung, von all dem Großen und Schönen, das auf uns einströmt. In Zernattos Gedichten rauscht und braust die Natur, singt alle Kreatur mit zum Herzen dringenden Tönen ihr Lied der Lust und des Leides. Hier ist wieder einmal ein Dichter, fern allen Schlagworten und Modeströmungen, zeitlos und über den Wandel der Stile erhaben, wie die Natur zeitlos und über alles erhaben ist. Welche Naivität und Wärme des Empfindens und wie meisterlich beherrscht ist der lyrische Ausdruck des Empfindens! Zernatto hat den scharfen Blick eines Jägers für die Natur und die weiche Seele eines Dichters. Da sind die Gedichte „Kälbern“, „Herr und Hund“, „Brief einer Schwangeren“, „Am Mais, am Roggen, am Kleefeld vorbei“, „Märzsturm“, „Heimfahrt in den Abend“, „Wenn ich mich nachts von meinem Lager hebe“, „Das Kind“, „Totenklare“, von denen ich „Märzsturm“ zur Probe anführe:

            Jetzt hänget alle Fenster aus,
            jetzt laßt den Märzsturm in das Haus
            und atmet tief! Wie jungen Wein
            trink‘ ihn, wer kann, in sich hinein.
            Die Kinder weinen jetzt im Traum,
            die Alten aber spürens kaum;
            die Kranken sehen fürchterlich
            das Leben und den Tod vor sich.
            Die Weiber stehen auf und geh’n
            jetzt hin und her. Sie bleiben steh’n.
            Das Herz schlägt ihnen viel zu laut,
            wer heute kommt, zahlt keine Maut.
            Heut ist der Märzsturm aufgewacht,
            heut‘ weht das Leben durch die Nacht.
            O hänget alle Fenster aus:
            Das Leben kommt! Laßt es ins Haus!

            Zernatto hat sich mit seinem ersten Gedichtbändchen in die Reihe der großen österreichischen Lyriker gestellt. Es ist etwas in seinen Dichtungen, das unsere Liebe erweckt und ihnen Ewigkeitswert verleiht.

            Erika Mitterer, die fünfundzwanzigjährige Wiener Dichterin, hat durch ihren ersten Gedichtband Der heilige Tag bereits Aufsehen erregt. Nun ist jetzt wieder ein Gedichtband von ihr erschienen: Dank des Lebens (Verlag Rütten &Loening, Frankfurt am Main). Erika Mitterers Dichtungen sind nicht Frauenlyrik im traditionellen Sinne des Wortes. Weiblich im Gefühl, ist sie in ihrem strengen Willen zur Form gänzlich unfeminin. Sie hat etwas von männlicher Strenge und männlicher Zucht. Sie erinnert – ein wenig allzusehr – an Rilke, an den späten, hymnischen Rilke der „Sonette des Orpheus“. Hoffentlich emanzipiert sie sich von ihrem großen Vorbild und findet den Weg zu einer eigenen Form. Denn Erika Mitterer ist eine ungewöhnliche Begabung. Sie erweckt große Hoffnungen und gibt auch schon große Erfüllungen. Tiefe und Leidenschaft des Empfindens finden bei ihr Ausdruck in Versen, die voll reifer Formkultur sind. Eine hingebungsvolle Frauenseele singt und wir lauschen gern dem holden Klang dieser Stimme. Eine tief und schmerzlich erlebte Liebe ist das Thema ihrer meisten Dichtungen, von denen wir zur Probe das folgende reizende Gedicht anführen:

                        Sei nicht müde, mein Kind,
                        weil ich nicht bin.
                        Es kommt ja der Wind
                        noch zu dir hin.
                        Er bringt dir Fühlung mit
                        von allen Fernen;
                        vom Herzen reicht sein Schritt
                        bis zu den Sternen.
                        Sei nicht müde, mein Kind,
                        ich war dir zu nah.
                        Sieh, ich bin im Wind
                        immer da.

In: Neues Wiener Journal, 5.9.1931, S. 6.