Hermann Menkes: Lyrische Bekenntnisse

h.m.[enkes]: Lyrische Bekenntnisse. (1919)

(Danton [Robert Bodansky]: Wenn der Glorienschein verbleicht. – Hugo Sonnenschein: Slowakische Lieder. – Marek Scherlag: In der Fremde.)

In dieser Zeit aufgewühlten Denkens und Empfindens ist auch der in sich versponnene Lyriker zum Weltanschauen, Bekennen und zur leidenschaftlichen Stellungnahme gedrängt. So wurde auch das Gedicht zu einer Konfession, zu einem Dokument dieser Epoche. Bekenntnisbücher in diesem Sinne sind die drei Gedichtsammlungen, auf die die Aufmerksamkeit hier gelenkt werden soll. Aber sie sind es in ganz verschiedenartiger, individueller Weise.

Robert Bodanzky (Danton), der gewichtloserem, der UnterHaltung gewidmetem Schaffen bisher sich hingab, gibt ein von den edelsten Impulsen getragenes Bekenntnis zur Menschheit und deren Befreiung von ihrer bisherigen Versklavung durch Staat und Militarismus, während Hugo Sonnenschein und Marek Scherlag aus der Seele ihrer Nation ihre Dichtung schöpfen. Danton ist, wie sein berühmtes Vorbild, ganz von revolutionärem Geiste erfüllt. Seine Satire ist schonungslos, sein unfehlbar treffender Witz voller Bitternisse. Diese Gedichte und Epigramme waren schmerzliche Monologe während des Krieges, der großen Katastrophe aller Menschlichkeit. Danton, ein inbrünstiger Bekenner der Tolstojschen Weltreligion, hat im dumpfen Schweigen jener Jahre diese blutigen Satiren hingeschrieben, die hohnvolle Abrechnung mit der Grausamkeit wie mit der öffentlichen Lüge, mit den großen und kleinen Mächten der Gewalt, der Volksverführung durch die Phrase halten. Sein Wort wurde zu einem herunter­sausenden, feingeschliffenen Schwert. Die Gedichte sind das Dokument einer achtunggebietenden inneren Umwandlung zur großen und wahrhaften Humanität, Bodanzky rückt dem Dünkel, der Selbstsucht, dem in Grausamkeit ausgearteten Größenwahn zu Leibe. Er höhnt die falschen Menschheitserlöser, die in die Phrase versponnene Partei. Aber neben dem Haß schlägt in seinem Herzen auch eine innige erwärmende Liebe zu allen Bedrückten und Enterbten. Er ist ein Anarchist im edelsten Sinne, einer der sich gegen jede Art von Vergewaltigung wendet, gegen Krieg und Staat, für den er die große Menschheitsgemeinschaft setzen will. Von seinen kleinen, spitzen Epigrammen sagt er:

Wie derlei Epigramme entstellen,
Die Antwort kann leicht ich Euch geben.
Man braucht nur mit offenen Augen zu sehen
Und darf nicht vorbeigeh’n am Leben.
Dann muß man das Ganze in Reime fassen
Und Worte wählen, die Lügnern nicht passen.
Und Begeisterungsfunken schürt man zur Flamme,
Und so entstehen Epigramme.

Dem Wohltätigen ruft er zu:

Ich hör‘ Euch verworrene Worte stammeln,
Von Wohltätigkeit — von Geldersammeln
Für rekonvaleszente Soldaten,
Die ihre Pflicht türs Vaterland taten!
–  – Laßt sie krank sein, die armen Jungen,
Für einmal haben den Tod sie bezwungen.
Doch müßten sie nochmals ins Elend hinaus,
Dann läßt sie der grause Geselle nicht aus.
Und Ihr habt es dann allein verschuldet,
Wenn er zum zweitenmal Todesqual erduldet.
Sammelt nicht! — Macht nicht gesund diese Kranken,
Sammelt nur eines — Eure Gedanken!

Er spricht vom „großen Narren“:

Er schätzt nur eines — das eigene „Ich“
Und sagt er „wir“— dann meint er „sich“.
Doch spricht er vom Durchhalten und Entbehren,
Dann meint er „uns“ — das kann ich beschwören.
Der große Narr — den alle wir kennen,
Muß ich erst seinen Namen nennen?
Für seinen Wahnwitz, der toller als toll.
Da zahlt das Volk einen hohen Zoll,
Und schreit noch obendrein „Hurra“.
Ein ähnlicher Narr starb auf Helena.

Eine satirische Heerschau der Parteien gibt Danton-Bodanzky in seinem auch künstlerisch wertvollsten Gedicht: Der Zirkus ist geheizt. Auch die ironisch beleuchteten Prosaskizzen Held Jakob, König Kapita„, Leib Mendel wird man in diesem befreienden Büchlein. Wenn der Glorienschein verbleicht (Wien, Verlag „Bekenntnis und Befreiung“) genußvoll lesen.

Des jugendlichen Hugo Sonnenschein Slowakische Lieder (Genossenschaftsverlag, Wien, Bauermarkt 9) sind in ihrer Melodie und in ihrer Frische ganz auf volkstümlichen Ton gestimmt. Schmerzvoll verkündet der Dichter hier das Leid der Enterbten und Geduldigen.

Auf den Schultern meines Volkes
Liegt die Knechtschaft ein Jahrtausend.
Ein Jahrtausend scheuren Fesseln
Meiner Brüder Geist und Hände.

Diese Lieder haben eine vor Leidenschaft vibrierende Musik, eine Ursprünglichkeit, die ganz vom Atem der Natur durchweht, ist.

Dein Lied, du armer Mensch der Slowakei.
Ist ein Verzweiflungsschrei.
Ein Schrei der Seele, die in Banden ächzt
Und doch nach Freiheit lechzt.
Sie nehmen dir alles: dein Blut, dein Feld
Und dein Hirn, dein Geld.
Nur dein Herz und dein Lied, das können sie nicht.
Das klingt und zeigt der Sonne Licht.
Solang dir in der Brust ein Funke Leben glüht,
Solang hast du dein Herzenslied.
Dein Lied, du armer Mensch der Slowakei —
Deinen Verzweiflungsschrei.

Zugleich mit dem Brudervolke besingt Sonnenschein mit Tönen wehmütiger Erinnerung sein eigentlichstes, jüdisches. Diese empfindungsstarken, in Naturfarben glühenden Strophen, die oft zur kurzatmigen tragischen Ballade sich runden, prägen sich tief ins Herz ein.

Marek Scherlags ergreifende Weisen in seinem Buche In der Fremde. Neue Judenlieder (Berlin, Axel Juncker) er­klingen aus den stillen, sonnenarmen Gassen des Getto. Aus einer Flut von Erinnerungen strömen diese stillen, oft weh­mütigen Lieder, die eine Welt widerspiegeln, ihre feiertäg­lichen Freuden, ihre entsagungsvolle Tragik und ihr unscheinbares Heldentum. Der Dichter pflückt hier Blumen zwischen Ruinen, ist ein Schönheitssucher im glanzlosen jüdischen Alltag. Es ist nichts Starkes in diesen einfachen Gesängen, aber viel be­seeltes, leise atmendes Leben. Am schönsten, wenn dieses Leben dem Dichter von der bloßen Reflektion weg zum plastischen Bilde sich gestaltet wie in dem Gedicht Jankel:

Ein einsames Stämmchen am Wege im Wind,
So seh ich Jankel, das schwächliche Kind.
Gebleicht sein Gesichtchen vom Rauhfrost der Not.
Vater und Mutter sind lange tot.
Die Schule, ein feindlich geschlossener Kreis,
Und er so vereinsamt, verlassen, verwaist…
Wie Pfeilstich verletzt ihn das höhnische Wort:
„Du Judenjunge, du mache dich fort“.
Er bleibt und erfleht einen einzigen Strahl
Vom Licht ihrer Freundschaft, fürs Grau seiner Qual.
Schenkt ihnen sein Herz, sie lachen bloß,
Zertreten es spielend und ahnungslos.
Da schleicht er von dannen, verweint und zerquält.—
Ob Gott wohl die Tränen der Armen auch zählt?

In: Neues Wiener Journal, 5.7. 1919, S. 5 (16).