Karl Tschuppik: Kriegsliteratur

Karl Tschuppik: Kriegsliteratur (1929)

Zwei Bücher der letzten Tage, Ludwig Renns ‚Krieg‘ und Erich Maria Remarques ,Im Westen nichts Neues‘, beides Bekenntnisse der Frontgeneration, sind als die erfreuliche Gewähr dafür hingenommen worden, daß das Kriegserlebnis unverlierbar ist und fortwirken müsse, solange diese Generation atmet. Es war eine falsche Annahme, das Schweigen nach dem Kriege aus dem Willen zum Vergessen zu deuten; das vertiefte Erlebnis kommt erst jetzt zu Wort. Das Letzte und Tiefste, was unter Millionen Frontsoldaten empfunden wurde, ist wahrscheinlich noch zu erwarten.

Vor diesen Dokumenten des Krieges, die unvergleichbar sind und nichts mit der Kriegsliteratur früherer Zeit gemein haben, stellt sich als erste die Frage nach ihrer Wirkung ein. Man kann bei der Untersuchung außerachtlassen, ob die Kunst oder die exakte Reportage, ob Remarque oder Renn sich als wirksamer erweisen. Wichtiger ist: wo hört die Wirkung auf? Es ist eine Selbstverständlichkeit, wenn man sagt, daß der, Renn und Remarque gleichgesinnte Teil der Frontgeneration in beiden Bekenntnissen nur deutlicher, klarer wiederfindet, was er selber empfunden. Das Entsetzen, das die Bücher wachrufen, der Schrecken und die Erschütterung vor dem Bild der Hölle verleiten jedoch zu der Ansicht, der Krieg könne nur so und nicht anders erlebt worden sein.

Dem widerspricht die Tatsache, daß es neben der Million stummer Renns und Remarques eine andere Million gibt, die alles erlebt hat, was es an Barbarei, Vertierung, Scheußlichkeit gibt, und dennoch im Innersten unberührt die Hölle verließ. Objektiv liegt dasselbe Erlebnis vor: Morden, Todesangst, Qualen, Versinken ins Tierhafte, Schmutz, Gestank, Krankheit, Hunger, Überanstrengung des Leibes; in der Erinnerung aber stellt sich dieser Million das Erlebte anders dar, als den Renn und Remarque. Man darf sich nicht täuschen: die Bejahung des Krieges ist nicht nur eine Erfindung des Hinterlands; in jener ansehnlichen Masse, die jetzt noch mit Stolz den Stahlhelm als Symbol vor sich trägt, sind hunderttausende ehemaliger Frontsoldaten, mit Augen begabt wie die andern, mit Ohren, Nase und Nerven wie die eines Menschen. Sie haben gemordet und gelitten, Kameraden sterben gesehen, die Pest des Krieges an Kopf und Gliedern gespürt wie die andern. Und dennoch: diese respektable Armee wird auf einen Ruf bereit sein, morgen von neuem in den Krieg zu ziehen. Kann man das bestreiten?

Wie erklärt sich das Phänomen? Welche Motive sind so stark, daß sie das Höllenerlebnis zu glorifizieren und das Menschlichste, Allermenschlichste zum Schweigen zu bringen vermögen? Die Breughel-Bilder vom Kriege versagen hier ebenso wie die pazifistische Polemik, die sich um die Propagierung der Erkenntnis müht, daß der industrialisierte Krieg in seiner allzerstörenden Wirkung ein unzulängliches Mittel geworden ist, dem Feinde den eigenen Willen aufzuzwingen. Der Kriegsenthusiast denkt nicht an das Kriegsende, er denkt an den Krieg. Es berührt ihn nicht, daß der Krieg heute etwas Unabschätzbares, gänzlich Unberechenbares darstellt: dessen Bejahung also sich weder mit realpolitischen Erwägungen, noch mit nationalistischen Argumenten begründen läßt. Woher dann doch die Bejahung? Auch die Psychologie kommt zu keinem Schluß mit ihrer Behauptung, die Gefahr der Kriegsenthusiasten liege in ihrem Mangel an Phantasie. (Die Phantasie als die Fähigkeit gesehen, Erlebtes leibhaft zu rekonstruieren.) Des Rätsels Lösung ist einfacher. Sie führt ins Soziologische.

In unserer Gesellschaftsordnung leben Millionen „zwischen den Klassen“, über deren wahres Gesicht sich bisher alle Soziologen getäuscht haben. Sie sind nicht Bourgeois, nicht Kleinbürger, nicht Proletarier. Es sind Halbgebildete, Intelligenzen mindern Grades, deren Wollen und Können nicht ausreichte, die gewünschte Lebensbahn zu gehen; Unzufriedene, die im Beruf keinen Ersatz für die Kargheit ihres Daseins finden; Untaugliche im bürgerlichen Lebenskampf, die sich zu gut dünken, in die Reihen des Proletariats zu treten. Sie sind je nachdem Schreiber und Unterbeamte, Bureaudiener, Diurnisten, Hilfskräfte in Geschäften, Lehrer, Magazineure, Verkäufer, Agenten, Markenkleber, Aufseher, Türhüter, aber auch Professoren, Hochschullehrer, Ingenieure. Sie kommen von dem großem wirtschaftlichen Aufschwung vor dem Kriege her, der das rasche Emporblühen der Städte förderte, Millionen Existenzen aus ihrem angestammten Erdreich riß und in die großen Städte, in die Intelligenzberufe, in die Kaufmannshäuser, Magazine und Schreibstuben verpflanzte; die Industrialisierung des Lebens hat das ursprüngliche Denken und Fühlen dieser vom Lande stammenden jüngsten Städter verändert. Unsicher in Ihren Instinkten, unzufrieden in einer Ordnung, die augenscheinlich dem Erwerbssinn allein alle Vorteile des Daseins sichert, ihrem Ursprung nach aber zu bürgerlich, als daß sie der sozialen Opposition sich anschlössen, sehnen sie sich nach einem Regime, das ihre Fähigkeiten als die maßgebenden anerkennt.

Sie sind die eigentlichen Träger der militaristischen Ideologie. Denn nur in der Armee fanden sie das Glück, das ihnen im bürgerlichen Leben versagt blieb: über den Mitmenschen gestellt zu werden, einmal kommandieren zu dürfen (und sei es auch nur als Gefreite oder Korporäle). Die Deuter im Soziologischen stehen meist blind vor der Tatsache, daß gerade in dieser zum Dienen verurteilten Mittelschicht der Trieb nach Geltung ebenso stark ist wie in den andern Klassen. Er drückt sich nur, vermöge der anderen Fähigkeiten, anders aus. Nur der deutsche Arbeiter kennt ihn als Person nicht; die Leistung Karl Marxens hat hier wirklich das Wunder bewirkt, den Ehrgeiz des einzelnen in ein Gemeinschaftsideal zu verwandeln. Der unzufriedene Mittelständler, dem eine Erhöhung im bürgerlichen Leben versagt bleibt, konnte sich nur als Gefreiter, als Korporal und Feldwebel auszeichnen. Im Bureau, im Magazin und in der Schreibstube muß er kuschen und gehorchen; in der Kaserne durfte er befehlen. Das ist die psychologische Wurzel der militaristischen Ideologie, der wahre Grund, auf welchem der mittelständische „Heroismus“ wächst.

Der Krieg? Sie wissen es: er bedeutet Bajonettangriff, Todesgefahr, Verlausung, Krätze, Spital, Vegetieren in Kotlöchern, Schweinefraß und Vertierung. Er ist aber die große Zeit, die diesen Heroen die Erhöhung gewährt. Der Herr, der im Frieden kommandierte, muß jetzt seinem Bureaudiener parieren. Der Krieg ist das Avancement der Mediokrität.

Solange diese Wahrheit nicht so exakt dargelegt wird, daß auch die Mediokren die Scham lernen, so lange bleibt jede pazifistische Propaganda vergeblich. Mit den Argumenten der Menschlichkeit ist die Mauer der leeren Gehirne und vergifteten Seelen nicht zu brechen.

In: Der Tag, 10.2.1929, S. 19 bzw.: Die literarische Welt H. 2/1929, S. 1-2.