Kolnai, Aurel
Geb. 5.12.1900 als Aurel Stein in Budapest, gest. 28.6.1973 in London. Publizist, Philosoph, Soziologe.
Der aus einer jüdischen Familie stammende Stein/Kolnai wuchs in Budapest auf, wo er als Gymnasiast zunächst in linksorientierten Zirkeln verkehrte und sich für S. Freud interessierte. 1919 flüchtete er nach dem Ende der Räteregierung nach Wien, nahm die österreich. Staatsbürgerschaft an und begann das Studium der Philosophie an der Universität Wien, wo er 1926 promovierte. Bereits 1920 veröffentlichte er im Internat. Psychoanalyt. Verlag seine erste Studie Psychoanalyse und Soziologie, die u.a. in einem Feuilleton im NWJ (9.12.1920, 2-3) besprochen wurde. Schon 1923 folgte ihr eine weitere in der von S. Freud begründeten, von O. Rank und S. Ferenczi geleiteten renommierten IPA (Internationale Zeitschrift für Psychoanalyse) folgte. Die Wertethik von Max Scheler sowie die phänomenolog. ausgerichtete Philosophie von Edmund Husserl traten ab Mitte der 1920er Jahre schließlich in den Vordergrund und beeinflussten seine weiteren Studien. 1926 konvertierte er zum Katholizismus, dem zuvor eine Würdigung der sozialethischen Positionen der österr. Kirche vorangegangen war, zugleich seine erste Veröffentlichung in der Zeitschrift Der österreichische Volkswirt. Fortan zählte er zu deren ständigen Mitarbeitern und setzte sich insbes. mit Fragen des Liberalismus auseinander, u.a. in einer krit. Würdigung des Liberalismus-Buches von Ludwig Mises (15.10.1927) oder mit Fragen des Repräsentanz-Anspruches der Demokratie (8.1.1927). Seine Ansichten zum Verhältnis Staat-Kirche-Sozialreform fanden Ende der 1920er Jahre vermehrt Anklang in der katholischen Publizistik; seit 1929 veröffentlichte er auch in der Zs. Volkswohl des Katholischen Volksbundes und positionierte sich dabei u.a. gegen S. Freud und Th. Mann, wie kathol. Zeitungen anerkennend vermerkten. Im selben Jahr (1929) veröffentlichte Kolnai auch einen dreiteiligen Beitrag über das Recht der Parteien, der sich zugleich mit der aufkeimenden Infragestellung der Demokratie und den Alternativen, welche ein autoritäres bzw. diktatorisches System offeriere, auseinandersetzte, um am Ende doch für die zwar „umständliche“, aber „anspruchsvolle Form“ des demokratischen Ausverhandelns via Parteien als berechenbare Organisationsformen zu plädieren. Zur selben Zeit trat er auch als Vortragender in der Urania sowie in der Leo-Gesellschaft (u.a. zu: Autorität und Demokratie) in Erscheinung. Ebenfalls 1929 erschien eine erste Studie über den ›Ekel‹ im Husserl-Jahrbuch, die u.a. durch Ortega y Gasset ins Spanische übertragen wurde und die Grundlage für seine späteren, im Exil weiter ausgearbeiteten Überlegungen zu Ekel, Haß, Hochmut. Zur Phänomenologie feindlicher Gefühle (Buchausgabe 2008) bildete.
Das Erstarken autoritärer Strömungen im österreichischen politischen Katholizismus sowie im Umfeld der Christlichsozialen Partei und der Heimwehrbewegung veranlassten Kolnai allerdings 1930 zu einer scharfen Kehrtwende in Form einer kompromisslosen Bloßlegung der ständestaatlichen Phantasien als absolutistisch-diktatorische im mehrteiligen Beitrag Ständestaat ist Absolutismus, der postwendend in der Reichspost mit einer Verunglimpfung des Verfassers („krankhafte Anlage“ z.B.) quittiert wurde. Es ließ sich sogar als Gegenposition zu dem unter der denunziatorischen Leitvokabel ›Moralbolschewismus‹ angesehen 4. Int. Kongress der ›Weltliga zur Sexualreform‹ instrumentalisieren (RP,28.6. 1930,3-4). 1931 nahm Kolnai pointiert zur Remarque-Debatte Position und verknüpfte diese visionär mit der durch den Nationalsozialismus wie durch deren österreichische Ableger hochgespielte Anschlussfrage; 1932 entwickelte er sich zu einem vehementen Kritiker Seipels und dessen Verklärung durch die Reichspost und die christlichsoziale Führung, indem er ihm vorwarf, nach 1927 und insbesondere in den Jahren ab 1929 das „Machtinstrument des Heimwehrfaschismus“ genützt zu haben, um das Land in einen Verfassungskampf zu verstricken und Kompromisse mit der NS-Ideologie zu suchen, wie er in einem polemischen Nachruf im Österr. Volkswirt festhielt (13.8.1932,6). Zuvor trat er als Mitbegründer der Christlich-demokratischen Vereinigung in Erscheinung (27.4.1932), zu dessen stv. Präsident er gewählt wurde, außerdem veröffentlichte er erstmals in der AZ einen Beitrag, in dem er die sich abzeichnende Achse zwischen Teilen der (politisierten) Kirche Österreichs und dem Nationalsozialismus unter dem Titel Getauftes Hakenkreuz an den Pranger stellte (5.6.1932). Die Ausschaltung des Parlaments im März 1933 und den Weg in den sog. Ständestaat kommentierte Kolnai als „Paradestück aller gegenrevolutionär-faschistischen Bewegungen“ in seinem Essay Ständeverfassung in Österreich (Juni 1933, ÖVW). Während er zum Februar 1934 nicht öffentlich Stellung bezog, geißelte er kurz darauf umso deutlicher die Vorstellungen, die sich im deutschen bzw. nationalsozialistischen Rassendiskurs manifestierten als „Rassenwahn“. Kolnai erblickte darin einen „Willen zur totalen politischen und geistigen Gleichschaltung der Nation“. Kurz vor der Proklamation der austrofaschistischen (Mai)Verfassung hielt er ihr im ÖVW (21.4.1934) einen Nachruf und bekannte sich nochmals dazu, ihr trotz aller Kritik, mit der sie konfrontiert war, den Status einer bedeutenden, nun zu Grabe getragenen Errungenschaft zuzugestehen. Wohl aufgrund dieser akzentuierten Kritik des nach wie vor dem Katholizismus nahestehenden Intellektuellen, den die AZ 1933 an die Seite eines Ernst K. Winters platzierte, räumte ihm die Zs. Der Kampf in ihrem letzten (in Österreich erschienenen) Heft Raum für einen Grundsatzbeitrag über die Ideologie des Ständestaates ein, welche Kolnai unumwunden als „reaktionär“ klassifizierte. Nichtsdestotrotz konnte er im austrofaschistischen Ständestaat weiter publizieren, u.a. in offiziellen Zeitungen wie Christlicher Ständestaat und in dem nach 1934 gleichgeschalteten ÖVW, wo er z.B. 1936 den autoritären Ständestaat vom faschistisch-autoritären Ständestaat im Beitrag Neuösterreichische Staatslehre abzugrenzen versuchte. Nach dem Anschluss vom März 1938 blieb Kolnai zuerst noch in Wien, verfasste dort sein den Nationalsozialismus ideologiekritisch offenlegendes Buch The War Against The West, das im renommierten Viking-Verlag (N.Y.) erschien, flüchtete mit seiner Frau jedoch 1939 über mehrere Stationen in die USA, wo er sich 1940 in New York niederließ.
Weitere Werke:
Der ethische Wert und die Wirklichkeit (Freiburg 1927; engl.: Ethics, Value and Reality, 1977); Sexualethik. Sinn und Grundlagen der Geschlechtsmoral (Paderborn, 1930); The War Against The West (1938): https://archive.org/details/TheWarAgainstTheWest
A.K.: Das Recht der Parteien. In: Österr. Volkswirt, 27.7. 1929, S. 1153-1155 und 3.8. 1929, S. 1182-1186;
(PHK; work in progress)