Felix Salten: Der unanständige Tanz (1927)

Felix Salten: Der unanständige Tanz

             Man muß nicht gerade ein Bischof sein, um sich über die modernen Tänze zu entrüsten. Shimmy und Foxtrott, Blue und Tango haben eine ganze Menge andere Feinde, die ansonsten beileibe keine Seelenhirten sind. Erst noch der emsig zappelnde Charleston und der aufreizend drollige Black Bottom wecken erbitterte Gegnerschaft. Wie viele Leute geraten schon in Wut, wenn das Orchester spielt, das diese neuen Tänze begleitet. Der stöhnende Singsang des Saxophons, das Schlagwerk, bis zu rasenden Exzessen entfesselt, die gestopften Ziehposaunen und die Hörner, deren strahlendes Leuchten zu komischem Jaulen erlischt…, „ich bitte Sie, ist das noch Musik?“ Mit empörten Augenfunkeln wird diese Frage oft gestellt. Haß und Verachtung schwebt dann um die festgeschlossenen Lippen, wenn man lächelnd antwortet: „Ja.“

             Zumeist sind es sehr ehrbare und sehr ernste Menschen, die solchen Zorn gegen die Jazzkapellen sowie gegen die neuen Tänze aufbringen. Es sind Frauen und Männer, alte und junge, und ihr Ernst wie ihre Ehrbarkeit bleiben schließlich das Einzige, was ihnen zum Vorwurf gemacht werden kann. Weil ihre Abkehr von all dem modernen Wesen gar oft den pharisäischen Unterton hat: Herrgott, ich danke dir, daß ich nicht bin wie diese! Denn auch die anderen, diejenigen, die am Saxophon, am exzessiven Schlagwerk Gefallen finden, die anderen, die Shimmy tanzen, Charleston zappeln, Black Bottom zucken, jawohl, auch diese sind durchaus ernste und zum überwiegend größten Teil ehrbare Menschen. Sie denken sich weiter nichts, wenn sie derart auf den leichten, fröhlichen Schaumwellen der sonst so schweren Gegenwart dahinschaukeln.

             Den Bischöfen, Kardinalen und ihren untergebenen Priestern, den Prälaten, Kaplänen kann man den Widerstand gegen die neue Form des Tanzes, weiß Gott, nicht verargen. Sie sind […] dem Treiben dieser Welt doch ein wenig fern, sind ihm doch ein wenig fremd, und es gehört zu ihrem Beruf, in allem, was sie nicht ganz verstehen, in allem, was Gewohnheit nicht approbiert hat, Sünde zu wittern oder Entartung. Das dauert so lange, bis sie dahinter kommen, daß sich das Maß der Sünde in der Welt so ziemlich gleich bleibt, jetzt wie vor hundert Jahren […] Sie werden sich eines Tages erinnern, wie oft die Menschen wegen ihrer Sündhaftigkeit verdonnert wurden, wie man ihnen  von einem zum anderen Säkulum Entartung prophezeit hat; sie werden feststellen müssen, daß die Menschen mit der unaufhaltsam fortschreitenden Zeit im ganzen sanfter, humaner, // sittlich verantwortungsvoller geworden sind. Und wenn die Bischöfe sich auch kaum entschließen dürften, den Jazz und Fox zu segnen, was man von ihnen gar nicht verlangt, so werden sie doch auffhören, dem Saxophon und dem Charleston zu fluchen. Was man ruhig erwarten kann.

             Anders die Leute, die den Tanz der Gegenwart beschimpfen, um von ihrer brav konservativen Gesinnung Zeugnis abzulegen, um ihre Anhänglichkeit an alles „Gute, Edle und Schöne“ zu betonen oder um ihre Anständigkeit nur recht hervorzuheben. Die sind niemals und durch nichts zu versöhnen. Ws sie brave konservative Gesinnung nennen, ist ein Erstarrtsein in einer gewesenen, nie wieder kommenden und nie wieder möglichen Gesellschaftsordnung. Was ihnen das Gute, Wahre und Schöne bedeutet, gilt dem lebendigen Heute nur noch als der altväterliche Trödel von vorgestern. Und ihre Anständigkeit…, du lieber Himmel! Wenn man die Wahl hat zwischen Menschen, die sich unbedenklich und harmlos der Gegenwart hingeben, und Menschen, die säuerlich preziös ihre ausgezeichnete Anständigkeit hervorheben, soll man keine Sekunde zaudern, sich für die Unbedenklichen zu entscheiden. Anständigkeit bleibt unter allen Umständen stillschweigende Voraussetzung. Eine Anständigkeit, die überhaupt von sich redet, wird zur Beleidigung für alle übrigen Menschen, wird abgeschmackt und außerdem verdächtig. Mit diesen Leuten lohnt es gar nicht, zu diskutieren.

             Höchstens kann man mit denjenigen sprechen, die bisher nur aus Indolenz in die Verurteilung der neuen Daseins-, Umgangs- und Tanzformen eingestimmt haben. Mit denjenigen, deren Augen das Heute noch nicht sehen gelernt haben, deren Ohren die Gegenwart noch nicht zu belauschen vermochten, deren musikalischer Sinn sich dem modernen Rhythmus noch nicht anpassen konnte. Aber wie oft soll man ihnen denn sagen, daß neue Tänze allemal mehr mit sozialen und kulturellen Umwälzungen zusammenhängen, als mit gesteigerter Unsittlichkeit oder gar mit um sich greifendem Laster. Als man Sarabanden tanzte, Gavotten schritt und Menuette, waren die Menschen gewissenloser, verbuhlter und demoralisierter denn je vorher oder nachher. Im Ballsaal berührten die Paare einander freilich nur an den Fingerspitzen. Kein Herr hätte auch nur daran gedacht, daß es möglich sei, die Dame, die er zum Tanz führte, um die Mitte zu nehmen, sie im Arm zu halten. Aber alle Welt wußte, damals wie heute, aus Memoiren, aus Geschichtswerken, aus den reizenden Gemälden des Watteau, aus zahllosen Kupfern, die man jetzt pornographisch nennt, wie arg, wie orgiastisch, wie ungeniert es in den Alkoven, in den Boudoirs und in den famosen Gartenhäuschen zuging. Die königlichen Höfe, die damals mit den Feudalaristokraten herrschten und den Ton angaben, verhüllten ihre Ausschweifungen mit dem umständlichen Zeremoniell zimperlicher Manieren. Gewiß, der Tanz wird immer von erotischen Trieben bewegt, doch es bleibt immer ganz falsch, den Tanz als das Maß der Erotik, als das Kennzeichen für die Sitten oder die Sittenlosigkeit einer Epoche zu nehmen.

             Wie oft soll man die Leute daran erinnern, daß alle harten, alle herben Worte, die heute dem Foxtrott und dem Charleston gelten, schon einmal gesagt wurden, ebenso hart und ebenso herb. Vor mehr als hundert Jahren. Ueber den Walzer, der jetzt als der sittsamste aller Tänze gepriesen wird. Einst kam der Walzer gleichsam als Umsturzerscheinung, wie die modernen tänze jetzt als Folgen des Umsturzes kommen. Er kam nach der französischen Revolution, in der die Zierlichkeit des höfisch-adeligen Menuetts von der rasend triumphierenden Carmagnole zerrissen wurde. Er kam aus dem Bürgertum, das, auch unter dem politischen Druck nach Waterloo, geistig erwacht und befreit war. Im Walzer pochte der Rhythmus jener Zeit, schwang die herzhafte Aufrichtigkeit der einfachen, gesunden, tüchtigen Bürgerseele. Dennoch wurde der Walzer gerade so beschimpft wie heute Shimmy und Black Bottom beschimpft werden. Daß der Herr seine Dame um den Leib faßt, an sein Herz drückt, daß die Dame ihren Arm um die Schulter des Herrn legt, hat man damals genau so verspottet wie heute das zappelnde Gestammel des Charlestons. Sogar der böse Scherz, den man jetzt über die modernen Tänze macht, wurde damals vom Walzer im Umlauf gesetzt: So was tut man doch nur im Bett. Wie sich damals die konservativen Leute an das versunkene achtzehnte Jahrhundert klammerten, wollen die konservativen Leute jetzt vom versunkenen neunzehnten Jahrhundert nicht lassen. Lest die Witzblätter jener fernen Zeit, lest die Tagebücher, die Briefe der alten Damen und der alten Herren von 1810 oder 1820, der Leute, die in ihrer Jugend so zügellose waren , um später so tugendhaft zu werden, und ihr werdet, überrascht, zugeben, daß alles schon dagewesen ist. Damals begann, trotz Empörung der Alten wie der niemals Jungen, ein neues Jahrhundert, begann die Zukunft zu tanzen. Auch heute fängt ein neues Jahrhundert, fängt die Zukunft ihren Tanz an. Und ich fürchte, kein Sittenprediger, nicht einmal die Bischöfe werden imstande sein, da Einhalt zu gebieten.

             Ich kann mir nicht helfen, aber gerade die frech gewordene Erotik, von der immer so viel Geschrei hergemacht wird: gerade diese schamvergessene Sinnlichkeit finde ich in den modernen Tänzen nur sehr, sehr wenig. Sie sind oft genug, ich sagte das hier schon vor Jahren, ein Kopfrechnen mit den Füßen. Sie sind, besonders durch den Charleston, ein Fortsetzen des Sports im Ballsaale. Leichteste Leichtathletik. Körper//training, um die Linie zu erhalten. Gelenkigkeitsübung, bei der man, wie oft, kühl bis ans Herz hinan bleibt. Ich kenne von frühester Jugend an den Walzer und ich kenne den Shimmy, den Foxtrott, den Blue wie den Tango, und ich muß feststellen, daß keiner dieser vielgeschmähten Tänze auch nur annähernd die sinnliche Wirkung, den erotischen Zauber übt, wie der Walzer. […] Daß die älteren Damen und die alten Herren jetzt wieder so flott tanzen, müßte doch allen Sittlichkeitsaposteln, ob sie nun die Mitra tragen oder nicht, ein Licht aufstecken über die verhältnismäßige Harmlosigkeit der heutigen Tanzformen. Man wird schwerlich im Ernst behaupten wollen, daß alle alten Herren, die sich zum Jazz bewegen, nur der Begierde folgen, wieder im Arm eines jungen Menschen sich zu wiegen. Nein! […] Man stelle immerhin ein wenig Erotik mit in Rechnung, sie fehlt ja niemals gänzlich. Doch sie bleibt unter solchen Umständen so sehr im Hintergrund, ihr Einfluß ist so gering, daß all der Aufwand von Entrüstung dagegen gehalten, fast komisch erscheinen will.  

             Diese mondainen Tänze sind die Folge des Umsturzes. Aber nicht des Umsturzes europäisch-monarchistischer Gesellschaftsordnung. Bei diesem Umsturz geht es keineswegs um Kommunismus oder Fascismus. Keineswegs um solche Dinge, die mehr oder weniger europäische Lokalfarbe tragen. Sondern es ist ein Umsturz, der erst beginnt. Es ist die Erhebung der farbigen Rassen, der friedliche Negeraufstand, das Eindringen farbiger, uralter Kulturen in die weiße Kultur. Dieser Umsturz wird das Antlitz der Welt vom Grund aus verändern, wird dem Hochmut der weißen Rasse ein Ende bereiten und die Horizonte der Menschheit wunderbar erweitern. Natürlich gibt Amerika, besser die U.S.A., das Land, darin sich alle Völker, alle Nationen Europas zu einem neuen Volk vermischen, den Boden für diesen Umsturz ab. Alle diese Tänze, die also Vorzeichen für den Umsturz mehr als Begleiterscheinungen sind, alle diese Tänze kommen aus den Vereinigten Staaten und stammen aus Afrika. Alle diese Namen, Titel und Texte sind englisch und alle rühren von Niggern her. Man mag das, nach einer veralteten Denkweise, als Erniedrigung empfinden. Aber wer die aufschlußreichen Bücher von Frobenius gelesen hat, denkt anders. Frobenius ist einer der ganz wenigen Menschen, die schon vor zwanzig, dreißig Jahren den Kulturwert, den geistigen Besitzstand und die ungeheure Suggestivkraft der Neger erkannten.

             Anders denkt auch, wer wirkliche Jazzbands ohne Voreingenommenheit angehört hat. Ueber Musik fachgemäß hier zu sprechen, bin ich weder befugt noch gesonnen. Mag sein, daß die Klänge eines Whitman-Orchesters auch gar nicht Musik im hergebrachten Sinn sein wollen. Aber Stimmen der Zukunft sprechen da, eindringlich bis zum Erschütternden. Jedenfalls habe ich es oft erlebt, daß Berufsmusiker von Rang, etwa wie Busch in Dresden, sich dem Zauber eines Jazzorchesters begeistert hingeben, daß sic dem an Menschenstimme eigentümlich erinnernden Gesang des Saxophons gerade so entzückt lauschen wie ich und daß sie gleich mir elektrisiert werden vom harten, unglaublich polyphonen Schlag und Rhythmus der Trommeln. Wie mich diese Trommeln an das eintönige, nervenaufpeitschende Dröhnen afrikanischer Negertrommeln erinnern und wie mich die Durchdringung der Urwaldmusik mit geistigen Elementen der weißen Rasse… tröstet, scheint mit eine weite, eine große Welt als künftige Menschenheimat zu erstehen. Das Eindringen des amerikanisch-negroiden Wesens läßt sich an „Schlagern“ spüren, wie an dem vielgespielten „Ich hab‘ mein Herz in Heidelberg verloren“, wo das deutsche Lied vom Genre des Schmachtfetzens im exotischen Putz marschiert, wie an „Valencia“, das eine entfernte Verwandtschaft mit Bizet besitzt und vom feurigen Rhythmus der Gegenwart durchzuckt ist.

             Dieser Gegenwartsrhythmus hat etwas Unüberwindliches. Er wird sich von Sittenpredigten nicht aus der Welt schaffen lassen. So wenig wie die modernen Tänze, die eine Resultante aus Hygiene, Sport, Befreiung und Erotik sind, vor Entrüstungskundgebungen verschwinden. Die Leute, die im vergangenen Jahrhundert anfingen, Walzer zu tanzen, standen ethisch viel höher als die Gesellschaft, die zierlich Menuette schritt. Und die Leute, die jetzt Foxtrott tanzen, sind schon wieder um vieles weiter als die einstigen Walzertänzer. Die Menschheit wird immer besser und besser. Man muß nur an sie glauben, muß sie nur ein wenig lieben und sich Mühe geben, sie zu verstehen. Sie zu beschimpfen, ist freilich leichter. Und es ist so überaus bequem.

In: Neue Freie Presse, 30.1.1927, S. 1-3.