N.N.: Antisemitische Hetze in Wien
N.N.: Antisemitische Hetze in Wien. (1919)
Die Christlichsozialen und ihre alldeutschen Freunde wollen nicht locker lassen. Ihr kläglicher Zusammenbruch hat sie keineswegs eines Bessern belehrt. Noch immer glauben sie mit der Judenhetze ein „Geschäft“ machen zu können. Vor kurzem haben sie in Wien einen „AntisemitenbundGegründet im Juli 1919 durch den christlichsozialen Abgeordneten zum Nationalrat u. Mitglied der Burschenschaft Olympia...“ gegründet, dessen Programm folgendermaßen lautet?
Was will der Antisemitenbund?
Er will das deutsche Volk über die große ihm von Seite der Juden drohende Gefahr aufklären. Das wird in Versammlungen geschehen, durch Flugschriften, durch eine zweckdienliche Bücherei sowie durch Zeitschriften, die das Treiben der Juden gegen uns erörtern. Das deutsche Volk soll planmäßig zur Bekämpfung des jüdischen Elnitusses auf allen Gebieten des öffentlichen Lebens angehalten werden. […]
Der Antisemitenbund begnügt sich aber nicht mit dem theoretischen Programm, sondern er versucht auch, zur Tat überzugehen. Dieser Tage wurden in Wien folgende Flugzettel verbreitet:
Volksgenossen!
Die furchtbaren Massenmorde des Christenvolkes in Ungarn, sowie die vollständige Versklavung und Knechtung aller Nichtjuden durch die jüdischen Kommunistenführer, wie wir es in allen Ländern, wo das Kommunistenparadies errichtet wurde, in den scheußlichsten Formen erlebt haben, muß auch Euch, die ihr nicht dem vollständigen Untergang unseres Volkes ruhig zusehen wollt, im deutschösterreichischen Schutzverein Antisemitenbund, der unterschiedslos alle Parteien gegen dieses Wuchervolk vereinigt, als eifrige Mitkämpfer am Aufbau einer gesunden Volkswirtschaft vereinigt finden.
Erscheinet zu der am 14. Juli, um 7 Uhr abends, in der Jaroschauer Bierhalle, Endstation des 5-Wagens neben Zirkus Busch, stattfindenden Versammlung in der unter anderen Rednern, Schriftsteller Anton Orel „über die tieferen Ursachen und das Wesen des Judaismus“ sprechen wird.
Volksgenossen, nicht durch Jammern und Schimpfen werden wir das Judenjoch abschütteln, sondern, durch strammes Zusammenhalten. Erscheinen zur Versammlung ist daher Pflicht eines jeden Gutgesinnten.
Die Ortsgruppe Leopoldstadt des deutschösterreichischen Schutzvereines Antisemitenbund
Der Antisemitenbund versucht also auch, Propagandaversammlungen abzuhalten. Freilich, damit hat er wenig Glück. Die Sozialisten und Kommunisten vereiteln die Bemühungen. So fand Montag abends in der Jaroschauer Bierhalle die vom Antisemitenbund einberufene Versammlung zur Gründung der Ortsgruppe Leopoldstadt galt, der auch zahlreiche Kommunisten beiwohnten. Es kam zu stürmischen Szenen, weshalb sich die Leitung der Versammlung gezwungen sah, sie frühzeitig zu schließen. Schriftleiter Sedlak legte die Ziele des Antisemitenbundes dar, der als Schutzbund gedacht sei, um dem übermäßigen Einfluß des vordringenden Judentumes entgegenzuarbeiten. Der nächste Redner, Schriftsteller Orel, sprach unter fortwährendem Widerspruch der Versammlung. Zum Schlusse gab der Redner den Juden den Rat, nach Palästina auszuwandern und ruft in den Saal: „Was bleiben Sie denn in Oesterreich, wandern Sie doch aus!“ Mehr konnte er nicht mehr sprechen, denn es entstand hierauf ein ohrenbetäubender Lärm, die ganze Versammlung sprang von den Sitzen auf, es drohte, jeden Moment zu Tätlichkeiten zu kommen. Schließlich wurde eine Ordnerkette gebildet, die Antisemiten konnten das Lokal verlassen, worauf dann unter Lärm und Absingen von Liedern die Kommunisten als letzte aus dem Lokal abzogen.
In der Gemeinderatssitzung vom 10. d. M. interpellierten die jüdisch-nationalen Gemeinderäte wegen dieser Judenhetze. Bürgermeister Reumann erwiderte: „Der Interpellation liegen Klebezettel mit verschiedenen Zuschriften und ein Flugzettel bei, in dem gesagt wird, daß der Vernichtungsfriede ein Werk der Juden ist. Ich glaube, es ist nicht interessant, daß ich Ihnen diese zur Verlesung bringe. Es ist tief bedauerlich, daß in dieser schicksalsschweren Zeit eine gewisse Clique, sich derartige verhetzende, die Bevölkerung aufwiegende Dinge erlaubt. Es muß dieses Beginnen auf das schärfste verurteilt und tief verabscheut werden. Gerade in der jetzigen Zeit, wo wir so viel Zündstoff angehäuft haben, ist es eine Gewissenlosigkeit, noch mehr Zündstoff anzuhäufen. Hoffentlich wird im Betretungsfalle gegen die Verbreiter solcher verhetzender Flugschriften mit jener Schärfe, die in der Gegenwart geboten ist, vorgegangen werden. Ich möchte aber noch bemerken, daß in Wien nicht der Boden für eine derartige Hetze gefunden wird und ich bin vollkommen überzeugt davon, daß die Massen der Arbeiterschaft sich nicht zu Judenpogromen werden hinreißen lassen. Ichglaube, es genügt, wenn in öffentlicher Gemeinderatssitzung der Versuch zur Aufhetzung auf das schärfste verurteilt wird.
In der Gemeinderatssitzung vom 13. d. M setzte wieder eine Hetze gegen die jüdischen Flüchtlinge ein.
Bürgermeister Reumann berichtete über die Erwerbung des Flüchtlingslagers in Steinklamm durch die Gemeinde Wien.
Dr. Glasauer (christlichsozial) äußerte Bedenken, ob dieses Lager für den beabsichtigten Zweck geeignet ist. In Wien herrscht eine kolossale Wohnungsnot. Aus Lundenburg vertriebene deutschösterreichische Staatsbürger müssen auf einem Rangiergeleise in Hütteldorf ein Freilager halten, während noch 70.000 Flüchtlinge aus Galizien und der Bukowina allein hier sich aufhalten. Die Agitation mit den Flugschriften ist für die Juden gar nicht gefährlich. Die Flugschriften, die die Kommunisten haben, nämlich das Papiergeld, stehen den Antisemiten nicht zur Verfügung. Pogrome entstehen dadurch, daß sie von denjenigen, gegen die sie sich richten, veranlaßt werden. Wenn die Juden es überall so machen, wie die jüdischen Flüchtlinge in Wien, so kann ich Pogrome zwar nicht begrüßen, aber für verständlich und eventuell entschuldbar halten.
Dr. Schiwarz-Hiller: Warum für entschuldbar?
Dr. Glasauer: Ich kann sie für erklärlich halten.
Dr. Schwarz-Hiller: Diese Rede erinnert an eine Zeit, zu der in diesem Saale jede Gelegenheit benützt wurde, um eine Judendebatte hervorzurufen. Die Flüchtlinge werden immer als die Schuld der ganzen Verhältnisse hingestellt. (Rotter: Arme Hascherln!) Dr. Schwarz-Hiller: Jawohl, arme Hascherln! Die Sache liege aber nicht so unbedenklich, wenn man gerade in einem Zeitpunkt, in dem gewisse Momente die Bevölkerung beherrschen, auf gewisse Leute mit dem Finger zeigt. Die Flüchtlinge haben das Anrecht des Hierseins, weil sie durch ihre Flucht die Bejahung des Österreichertums gezeigt haben.
Nach weiteren Reden wird der Antrag angenommen.

