Käthe Leichter: Die beste Abwehr (1933)

„Diese deutsche Erfahrung hat vor allem gezeigt, daß die furchtbarsten und schwersten Opfer, die eine Arbeiterklasse im Kampf gegen den Faschismus bringen muß, immer noch leichter sind als die Opfer, die ein widerstandsloses Niedergeworfenwerden der Arbeiterklasse auferlegt.“

Otto Bauer auf der Internationalen Sozialistischen Konferenz.

Die deutsche Katastrophe hat der Arbeiterklasse der ganzen Welt die Verpflichtung auferlegt, ihre Taktik zu überprüfen. Dabei kann es sich nicht nur darum handeln, festzustellen, ob dieser oder jener Zeitpunkt versäumt, diese oder jene Situation richtig genutzt, diese oder jene Entscheidung falsch war, ob hier die Führer und dort die Massen es an Initiative oder Tatkraft haben fehlen lassen. Diese jetzt so häufige Methode der kritischen

Auseinandersetzung sieht die Erscheinungsformen, aber nicht die tieferen Ursachen für die Überrumpelung der Arbeiterbewegung durch den Faschismus. Nur wenn wir gewissenhaft prüfen, ob die Gründe manchen Versagens nicht tiefer zurückliegen, ob die Perspektive, die die Arbeiterbewegung innerhalb der bürgerlichen Demokratie der Nachkriegsjahre geleitet hat, auch die sein konnte, die uns zum Kampfe gegen den Faschismus befähigt, nur wenn wir

daraus die nötigen Konsequenzen ziehen, wird uns jene innere Umstellung gelingen, die der Augenblick erfordert. Denn dadurch, daß die Konterrevolution nicht überall gleichzeitig, nicht überall mit einem Schlag als hundertprozentiger Faschismus auftritt, ist der Arbeiterbewegung, die in anderen Ländern vom Faschismus bedroht ist, eine Frist gegeben, von deren richtiger Nutzung es abhängen wird, ob der entscheidende Gegenangriff erfolgreich abgewehrt werden kann. Selbstkritik also, nicht um in nachträglicher Selbstzerfaserung nicht wieder Gutzumachendes festzustellen, sondern um jene gefährliche Lähmung zu vermeiden, von der wir heute wissen, daß sie auch das Schicksal einer großen,

mächtigen Arbeiterklasse sein kann, und um jene Aktionsfähigkeit zu gewinnen, die allein den Faschismus erfolgreich abwehren kann.

Dazu scheint es aber vor allem notwendig, der sozialistischen Bewegung den Glauben an die Automatik, an die Unabwendbarkeit wirtschaftlichen und geschichtlichen Geschehens zu nehmen, der sie in diesen letzten Jahrzehnten nur allzusehr beherrschte. […] //

Der Überschätzung der Automatik des wirtschaftlichen Lebens in einer Zeit, in der die Automatik der kapitalistischen Wirtschaft zerstört ist, entspricht der Glaube an den demokratischen Automatismus in einer Zeit, in // der die Demokratie vom Klassengegner gesprengt ist. Man kann der österreichischen Sozialdemokratie gewiß nicht den Vorwurf machen, daß sie diese Situation nicht vorausgesehen habe. Kein anderes sozialistisches Programm hat die Sprengung der Demokratie mit solcher Klarheit vorausgesehen wie das Linzer Programm der österreichischen Sozialdemokratie, in dem nicht etwa als Möglichkeit, sondern als sicher festgestellt wurde: „Die Bourgeoisie wird nicht freiwillig ihre Machtstellung räumen.“ Und doch wissen wir heute, daß in seiner Konzeption der Machteroberung eine Lücke klafft. Daß die Staatsmacht mit Gewalt zu erobern sei[n] wird nur defensiv, nur für den Fall zugegeben, daß alle Anstrengungen, in die Wehrmacht des Staates einzudringen, mit demokratischen Mitteln die Staatsmacht zu erobern, gescheitert sein sollten. Aber wissen wir nicht aus der Erfahrung dieser letzten Jahre, daß nicht nur wir unsere Strategie der Revolution, daß auch die Bourgeoisie ihre wohlfundierte Strategie der Gegenrevolution hat? Nur in Zeiten, in denen die Arbeiterklasse geschwächt ist, geschwächt durch politische Selbstzerfleischung wie in Italien, geschwächt vor allem durch die Krise, durch die verminderte Möglichkeit der Anwendung gewerkschaftlicher Kampfmittel, geschwächt durch politisch ungünstige internationale Konstellationen, wird die Bourgeoisie die Demokratie sprengen. Der Gegner weiß sehr gut, wann die politische Konjunktur für ihn günstig ist —, und nur dann wird er, durch keinerlei ideologische Bindungen gehemmt, an die Aufrichtung der bürgerlichen Diktatur gehen. Ja, er wird es sogar mit Sicherheit nur dann tun, wenn er nicht nur über illegale Kampftruppen, sondern auch über Teile des Staatsapparats verfügt, kurz, wenn ihm die Chance des Sieges winkt. Indem wir so unseren Entscheidungskampf auf den Zeitpunkt verlegen, in dem der Gegner die Demokratie sprengt, verlegen wir ihn von selbst auf einen Augenblick, in dem wir ökonomisch, international und innerpolitisch die Schwächeren sind, die Gefahr, den Kürzeren zu ziehen, also sehr groß ist. 

Kein Zweifel, daß heute, da sie in großen Teilen Mitteleuropas zerstört ist, die Demokratie erst vielen erstrebenswert erscheint. Und doch, wenn uns heute so oft die Wiedereroberung dieser Demokratie als Hauptaufgabe gestellt wird – das, so fühlen viele in der Partei, war nicht der Sinn des Linzer Programms, daß wir, wenn der Gegner den Boden der Demokratie gesprengt hat, ob der entschwundenen Demokratie klagen, statt ihm auf den Boden zu folgen, den er uns durch die Sprengung der Demokratie aufzwingt. Freilich haben wir dabei an eine andere ökonomische und internationale Situation gedacht, aber das war ja eben die Illusion. Solange wir unsere Taktik als Defensivtaktik auf den Angriff des Gegners aufbauen, werden wir notwendig in einen Zirkel geraten, der uns einmal nicht kämpfen läßt, weil der Gegner uns nicht genügend provoziert, das andere Mal, weil er uns zu erfolgreich angreift. […]//

Sehr treffend hat der Belgier Spaak auf der Internationalen Konferenz gesagt: „Es ist ein Irrtum, zu glauben, daß eine Partei, die jahrelang festgelegt ist auf die Regeln und Methoden des rein demokratischen Kampfes, mit einem Schlage, wenn der Faschismus kommt, sich umstellen kann auf gewaltsame Abwehr im illegalen Kampf.“ Die Schwierigkeiten dieses Umstellungsprozesses haben wir in den letzten Monaten erfahren.

So entsteht ein optimistischer Fatalismus, der ebenso gefährlich sein kann wie der pessimistische. Der da fatalistisch glaubt, der Faschismus sei unabwendbar, wird gewiß nicht die Kraft aufbringen, ihm entgegenzutreten. Aber auch der da meint, Faschismus, das sei nur eine Form der Reaktion wie vieles andere, das alles habe es schon gegeben und sei doch nicht so schlimm, man müsse nur abwarten, bis wieder „unsere Zeit“ kommt, wer also auf die Selbstzersetzung und Selbstauflösung des Faschismus hofft, ohne daß die Arbeiterklasse in Aktion zu treten brauche, oder gegen andere Formen der Konterrevolution abgestumpft wird, weil sie doch keinen hundertprozentigen Faschismus darstelle, begeht mit seinem fatalistischen Optimismus, der alles von den Ereignissen und nichts von der Kraft der Arbeiterklasse erhofft, diese Arbeiterklasse aber dadurch als handelnden Faktor gewissermaßen aus dem Gang der Entwicklung ausschaltet, einen ebenso schweren Fehler wie der, der den Faschismus für unabwendbar hält. Der ökonomische Determinismus, der nur fragt, was diese Krise bedeutet, und nicht, wie man sie auswerten kann, findet hier seinen ideologischen Überbau in einem politischen Fatalismus, der fasziniert auf das Kommen wie auf das Verschwinden des Faschismus wartet, ohne die Frage so zu stellen: Was tut die Arbeiterklasse, um den Faschismus gar nicht erst groß werden zu lassen oder ihn, „wenn er dennoch ausbrechen sollte“, zu stürzen)?

Ist es Geringschätzung der Demokratie, wenn ihre bloße Zurückeroberung mit ihren Freiheitsrechten, ihrem Parlamentarismus wenig Leidenschaften auslöst? Gewiß lernen Tausende erst heute den Wert der Demokratie schätzen. Als Zustand wäre sie freilich hundertmal erwünschter als die faschistische Diktatur. Was aber enttäuscht hat, ist die Dynamik der demokratischen Entwicklung. Daß auch die bürgerliche Demokratie für uns arbeitet, schien uns nach unserer marxistischen Überzeugung sicher: infolge des Zunehmens der Lohnarbeiterschaft, der Proletarisierung immer größerer Schichten, die auf dem freien Boden der Demokratie nun auch zu uns stoßen mußten. Aber auch hier ist die Entwicklung nicht so automatisch, nicht so mechanisch verlaufen. Die Proletarisierung ist in ungeheurem Ausmaß eingetreten, aber nicht in der Form der Zunahme der Lohnarbeiterschaft, sondern im Gegenteil: durch Hinausschleudern immer größerer Massen aus dem Produktionsprozeß, durch Deklassierung von Mittelschichten, aber nicht zu Lohnarbeitern, sondern zu Paupers. Nicht die Vereinheitlichung, sondern die Ökonomische Zerklüftung des Proletariats war die Folge von Nachkriegszeit, Rationalisierung und Weltwirtschaftskrise. Hier sind Schichtungen entstanden, die durchaus nicht automatisch die Scharen unserer Bewegung vergrößert, sondern im Gegenteil dem Faschismus die Möglichkeit geboten haben, mit pseudosozialistischer Phraseologie in die Arbeiterklasse, in ihre Randschichten nach oben wie nach unten, einzudringen. Gewiß wäre auch das nicht ohne Versäumnisse von unserer Seite so leicht gewesen. Wir haben in einem Zeitpunkt, in dem die Krise schon weit fortgeschritten war, noch immer im wesentlichen die Politik der beschäftigten Arbeiter gemacht, um deren Löhne, um deren Rechte im Betrieb, um deren Sozialpolitik vor allem gerungen wurde. Freilich kann man auch gerade da der österreichischen Bewegung nicht den Vorwurf machen, daß sie das Problem nicht gesehen hat. Der Gewinnung der Mittelschichten, dem Kampf um die Arbeitslosenversicherung hat ein Großteil unserer Energie in den letzten Jahren// gegolten. Aber wir haben dabei beide psychologisch nicht richtig eingeschätzt. Wir waren überzeugt, daß die Mittelschichten so eng mit der kapitalistischen Ordnung verknüpft sind, daß wir zu ihnen im wesentlichen mit Forderungen kamen, die ihnen den Bestand der kapitalistischen Wirtschaft zusicherten —, und haben dabei ihren bei Deklassierten besonders affekthaften Antikapitalismus übersehen. Wir haben die Arbeitslosen von vornherein für so revolutionär gehalten, daß wir geradezu fürchteten, ihre revolutionären Leidenschaften loszulösen und uns darauf verließen, daß unser parlamentarischer Kampf um ihre Unterstützung sie ohnehin an uns fesseln würde – aber dieser parlamentarische Kampf wurde immer unfruchtbarer, mußte Verschlechterungen in Kauf nehmen, für die wir verantwortlich gemacht wurden. Langandauernde Arbeitslosigkeit aber – das wissen wir heute – revolutioniert nicht immer, sie schafft nur allzu leicht Resignation.

Auch hier waren sozialistische Leidenschaften zu wecken. Wo wir es versäumten, trat Indifferenz ein, der beste Boden für den Faschismus. So kann die Demokratie, wenn nicht richtig ausgenützt, sehr wohl auch mit zunehmender Proletarisierung nicht eine automatische Vergrößerung der sozialistischen Reihen, sondern im Gegenteil den „Feind von innen“, den „Faschismus“, der sich auf die Randschichten der Arbeiterbewegung stützt, erzeugen. Nicht die Demokratie, aber die in den meisten Ländern miterlebte Dynamik der bürgerlichen Demokratie, in der die Kapitalisten bemüht sind, so bald wir stärker werden, ihre Geldmittel zum Aufzüchten einer faschistischen Massenbewegung, die den Marxismus niederkämpfen soll, zu verwenden, in der sich also letzten Endes die Demokratie gegen uns auswirkt, ist in schlechtem Ansehen bei der Arbeiterschaft. Und sie ist es um so mehr in der heutigen Zeit, in der es so klar ersichtlich ist, daß der Gegner weit größere Machtmittel und viel geringere Hemmungen zur Verfälschung der Demokratie in seinem Sinne hat. Ist es denkbar, ihm diese einmal angewendeten und bis zum Faschismus gesteigerten Machtmittel ohne stärksten Gegendruck zu entwinden, ist es überhaupt denkbar, daß, wenn sich die Arbeiterschaft aus der furchtbaren Umklammerung der faschistischen Gefahr befreit haben wird, sie nach den bisherigen Erfahrungen ihren Unterdrückern Freiheit und Muße geben wird, sich wieder zu sammeln und das Spiel von vorne anzufangen?

So entsteht in der Arbeiterklasse der leidenschaftliche Wunsch, als Endziel unseres Kampfes mit dem Faschismus, nicht wieder die bürgerliche Demokratie, sondern die sozialistische Machteroberung zu sehen. So entsteht aber auch der starke Drang, diese Macht nicht nur zu erobern, sondern auch durch eine „Erziehungsdiktatur“ (Aufhäuser) als Weg zur sozialistischen Demokratie gesichert zu wissen. Es ist ein Schritt vorwärts, wenn Bauer im Kampf und auf der internationalen Konferenz die Ansicht vertreten hat, daß die Demokratie, um die gekämpft werden soll, eine sozialistische, eine ökonomisch fundierte Demokratie sein muß. Aber das allein genügt nicht. Es gilt, die geänderte ökonomische Grundlage, es gilt die neue Staatsform gegen die unvermeidbaren Gegenaktionen der Bourgeoisie zu sichern, die Macht mit diktatorischen Mitteln zu behaupten, um vor Rückschlägen gesichert zu sein und zu verhindern, daß die Machtergreifung durch das Proletariat eine bloße Fortsetzung der „Schaukelpolitik“ in der bürgerlichen Demokratie scheint, in der auch eine sozialistische Regierung unfehlbar wieder von einer bürgerlichen abgelöst wird, weil der Gegenagitation gegen die sozialistische Regierung freier Spielraum gelassen und erst spät die Frage aufgeworfen wird, warum die Arbeiterschaft so „großherzig und gnädig. in der Stunde ihres Sieges mit demselben Gegner umgegangen ist“. (Bauer auf der Internationalen Konferenz.)

In der Augustnummer des Kampf wendet Bauer gegen dieses Bekenntnis zur Diktatur im wesentlichen ein, daß es uns bei der Erfassung der Mittelschichten hinderlich sein könnte. Aber eindrucksvoll weist einige Seiten weiter Dan nach), daß wir diese Schichten psychologisch falsch// beurteilt haben, daß sie weit eher mit offener sozialistischer Agitation zu gewinnen waren, als mit vorsichtigen Parolen. Und hat uns nicht Hitlers Aufstieg gelehrt, daß gerade der rücksichtslose Machtwillen die ungeschminkte Betonung der Diktatur bei diesen herumgeworfenen Anlehnung an eine starke Macht suchenden Schichten, vielleicht am stärksten wirkt? Wenn wir vor uns selbst entschlossen sind, diese Diktatur nur soweit sie unbedingt notwendig ist und nur als Überleitung zur sozialistischen Demokratie zu gebrauchen, innerhalb der Arbeiterbewegung auch in der Diktatur die Selbstbestimmung zu wahren, wenn wir vor allem nicht selber die Diktatur mit einem Schreckensregime identifizieren und etwa wie Karl Kautsky”) zu einer Gegenüberstellung von Humanität und Bestialität kommen, so können wir getrost diesen Weg als den unseren verkünden. In den heute von Zweifeln erschütterten Massen unserer Mitglieder und unserer Anhänger wird es unzweifelhaft das Gefühl stärken, daß nicht so leicht wieder „eine Revolution zugrunde gehen kann“ und daß ein neuer Umsturz in Mitteleuropa kein neues 1918 bedeutet.

Und wähnen wir doch selber nicht, daß uns der Gegner wegen unseres Wortradikalismus haßt! „Austrobolschewiken“ sind wir in den Augen des Österreichischen Bürgertums nicht wegen des Linzer Programms und etwaiger kräftiger Worte in Reden und Leitartikeln, sondern wegen des Mieterschutzes, der Breitner-Steuern, der Betriebsräte und der sozialen Lasten. Unsere revolutionären Worte hätten sie wenig gestört, unsere Reformen, die den Profit und den Machtbereich des Unternehmers im Betrieb eingeschränkt haben, haben ihre Nervosität geweckt. Auch die vorsichtigste Programmformulierung und Schreibweise hat die deutsche Sozialdemokratie nicht vor dem Haß der Gegner schützen können, den gerade ihre reformistische Tagespolitik in der Schaffung eines neuen Arbeitsrechtes und in der Verwaltung Preußens geweckt hat. Wollten wir auf die Gegenagitation Rücksicht nehmen, so müßten wir nicht auf unsere sozialistische Zielsetzung, sondern in Wirklichkeit auf unsere Tagespolitik verzichten. Und tatsächlich sehen wir ja auch, daß der erste Angriff des Faschismus überall vor allem diese sozialen Errungenschaften beseitigt. So ist heute der Reformismus in eine Sackgasse geraten. Rät er uns, was in allen Ländern der Fall ist, um der sozialen Institutionen, um der tatsächlichen Werte, um all dessen willen, was die Arbeiterschaft bei der Auseinandersetzung mit dem Gegner zu verlieren hätte, still zu halten und den großen Einsatz nicht zu wagen, so ist das nach den nbisherigen Erfahrungen gerade der sicherste Weg, diese Errungenschaften aufzuopfern. Denn schrittweise, aber zielbewußt, baut heute die Gegenrevolution Sozialpolitik und Sozialversicherung, Selbstbestimmungsrecht im Betrieb und Mitbestimmungsrecht der Gewerkschaften, Gemeindeautonomie und soziale Wohnungspolitik ab. Die Einrichtungen und Werte, die heute vielfach die Arbeiterschaft in ihren Kampfmöglichkeiten hemmen, weil ihr Verlust gefürchtet wird, gehen, so bald der Gegner unseren Gegenangriff nicht mehr fürchtet, am sichersten verloren. „Die Zwecke der Defensivaktion selber können nur noch durch eine Offensivaktion erreicht werden“, sagt de Mahn, „Das Prinzip der Demokratie verbietet es, ein absoluter Demokrat zu bleiben“, Irlen. Ebensogut könnte man sagen, daß die Reformen nur mehr mit revolutionären Mitteln behauptet werden können und daß gerade ihre Erhaltung verbieten müßte, Reformist zu sein. Nicht wenn wir auf die loyale Zusammenarbeit mit dem Gegner bauen, sondern nur wenn er uns fürchtet, wird sein Angriff auf unsere sozialen Positionen ausbleiben.

Wenn man dem Feind unmittelbar gegenübersteht, ist es notwendig, rücksich[t]slos zu fragen, wo Lücken in den eigenen Reihen sind. Für den Sozialismus bedeute das heute manche innere Umstellung, schmerzhaft für die, die von der geruhsamen Entwicklung der ersten Nachkriegsjahre schwer wegfinden, hoffnungsvoll für die, die in sozialistischer Selbstzufriedenheit und Erstarrung immer die größte Gefahr, in dem ständigen Ringen um den rechten Weg die //sicherste Gewähr für den Sozialismus gesehen haben. In Deutschland muß sich heute diese Regeneration des Sozialismus unter der furchtbaren Niederdrückung durch den Faschismus vollziehen. Sorgen wir dafür, daß sie uns nicht erst vom Faschismus aufgezwungen werde, sondern uns im Gegenteil befähigt, ihn abzuwehren.

In: Der Kampf, H. 11 (November) 1933, S. 446-452 (Auszüge)

O.M. Fontana: Werden der Dichtung. Versuch einer Selbstanalyse (1929)

Die neuere, wieder aus Spezialfertigkeiten und Einzelwissen zu einer geistigen Zusammenfassung strebende Medizin hat für das rätselhaft Bestimmende und Beharrende im Menschen den Ausdruck: Tiefenperson gefunden. Was macht nun den Dichter? Daß diese Tiefenperson, die im sogenannt normalen Menschen taubstumm bleibt, im Dichter zu hören und zu reden vermag. Wie diese Tiefenperson wird und ist, ergibt sich aus der Konstitution des Individuums und ist aus ihr wissenschaftlich eindeutig abzuleiten. Aber unableitbar, ein Geheimnis – warum die Tiefenperson in jenem taubstumm bleibt, in diesem hört und spricht. Auch so: ich (oder mir lieber: ein anderer) vermag zu sagen, aus welchen Lebensvorgängen heraus, kurz: wie ich dichte und in welcher Weise dieses Gedichtete dem

Ganzen meiner Person entspricht. Aber warum ich dichte, gerade ich in der Reihe meiner Ahnen – wer kann das sagen, besonders im Westen der Kultur, wo jeder glaubt, glauben muß, mit ihm beginne das Leben neu.

Soviel über die Gründe des Dichtens, über sein Geheimnis. Seinen Erscheinungen läßt sich mehr und auch mehr an der Oberfläche Liegen­des abgewinnen. Etwa die Frage: was ist zuerst beim Dichten da – das Gesicht eines Menschen oder seine Seele? Ich kann darauf nur ant­worten: je nachdem, einmal ist es dieses, das andere Mal jenes. Ein Gesicht, dem ich begegne, vermag mich zu verstören und tagelang zu be­schäftigen. Es geht in mir unter, um in neuer Form, mir unbewußt, wieder zu erstehen. So entstand mein Roman Erweckung. Begegnung eines Verlorenen war seine erste Keimzelle. Einen seelischen, einen geistigen Inhalt bis an sein Ende durchzugehen – ich weiß weniges, was für mich verlockender ist. So wurde der Roman, an dem ich jetzt arbeite und der Weiter leben heißt. Er wurde aus der Erkenntnis und dem Durchdenken jener Situation und jenes Lebens­inhalts, die mich und meine Gefährten des Schick­sals bestimmten und bestimmen: unsere Jugend und unser Mannestum.

Wie aber Darstellung immer Gestalt werden muß – das ist der Kampf des Dichters. Ein langer zäher Krieg, in dem große Siege oder Durchbrüche sehr selten sind, in dem es um ein kleines Grabenstück Welt oder Mensch geht. Ich möchte sagen: an seinen inneren Niederlagen wächst der Dichter. Er wird von ihnen nicht er­drückt, er muß sie überwinden. Das gibt ihm Kraft der Erneuerung, das ist seine Wintererde. Dichter ohne diese Inneren Niederlagen gehören jenem Jungentypus an, in dem der Frühlingssaft dichtet und der mit 35 Jahren vertrocknet, erledigt ist.

Wie einer Gestalt, einer Vision, einer Er­kenntnis Welt zuwächst, wie sich dieses Absolute der Tiefenperson mit der Vielfalt der Er­scheinungen mengt, die wir beglückt Leben nennen – das ist das Erlebnis des Dichters. Und auch: wie das von ihm Gedichtete Eigenleben gewinnt, wie sein fiktiver Mensch irgendwohin zu gehen beginnt, wo ihn der Dichter überrascht wiederfindet, und wie eine Idee sich zu ihrer letzten Konsequenz durchringt und den Dichter mit sich reißt. Das sind Dinge, die der Dichter mit sich selbst auszutragen hat, die den Betrachter nicht küm­mern, die aber über Glück oder Unglück, über Gelingen oder Mißlingen eines Werkes ent­scheiden.

Der Kampf des Dichters geht nach zwei Fronten, nach einer geistig inhaltlichen und nach einer formalen. Das Gehörte und Geschaute muß nicht nur Leben bekommen, es muß auch die Grenzen des Lebens erhalten, in denen es jenseits des Chaos, der Anarchie sich erfüllen kann. Ich glaube nicht, was sehr viele und sehr anerkannte Dichter glauben, es gebe feste Formen, in die alles gegossen werden könne. Es genüge zum Bei­spiel in der Epik bei A zu beginnen, um in der Reihe des Alphabets notwendig Z zu erreichen. Ich glaube, daß jedes Leben anders ist und daß darum jeder Roman, jede Geschichte anders sein muß. Ein Baumblatt ist ein Baumblatt, aber jedes ist anders gewachsen. Von innen her. Auch die Form einer Dichtung kann nur vom Inhalt her bestimmt sein. Ich habe darum in meiner

Erweckung dem Aufbrechen verhärteten Menschenseins die knappe große Sinnbildlichkeit

zu geben versucht, die jener ewige innere Vorgang beansprucht. Ich habe in dem Roman von der Insel Elephantine (Katastrophe am Nil) eine Gesellschaft innerhalb ihres Zusammenbruchs an­schauen wollen und sie darum in eine flackernde, nervöse Bilderfolge gestellt. Ich habe in dem Roman Gefangene der Erde den Weg eines Menschen, der den der Menschheit wiederholt, den Weg von der Schönheit des Barbarentums über den Zwiespalt der Zivilisation bis zur Schönheit seelischer Menschhaftigkeit durchschreiten wollen. Wie konnte ich den anders erzählen, als indem ich di« Stationen dieses Wegs, die Unbefriedigung, das Sucherische bis zur letzten Mündung immer wieder und in vielen Spielarten sichtbar machte!

Wann ist eine Dichtung fertig? Ich glaube: nie. Wie die Erde, die Welt, der Mensch ja auch nie fertig ist. Nur die schlechte Dichtung ist fertig. Der Schöpfung fehlt immer der i-Punkt. (Der Wahn, ihn setzen zu können, macht alles Menschenwerk so glückhaft und tragisch zugleich.) Die Schöpfung ist niemals und nirgendwo Kalli­graphie. Die Dichtung sollte es auch nie sein wollen. Wenigstens ich hüte mich davor. Ich glaube: die Dichtung, die wirklich Dichtung ist, bleibt immer im feurig flüssigen Zustand. Nur das erhält sie am Leben, nur das läßt die späte­ren Zeiten zu ihr wiederkehren und, sich in ihr spiegelnd, sich selber wiederfinden. Darum ist nicht der Staub der Bibliotheken, nicht die Literaturkritik oder Professorengeschichte, nicht die Klassikerausgabe jüngstes Gericht des Dichters und der Dichtung, sondern nur das Leben selber, das der Dichter, so er einer ist, immer will und

bis an seinen Grund erlebt. Nichts scheint mir lächerlicher als der Versuch, für „gesammelte

Werke“ zu schreiben.

Ich liebe die Zeit, weil ich in ihr schwebe wie eine winzige Mücke im Licht. Ich liebe die ewigen Dinge, weil sie allein dem Menschen die Kraft zum Höchsten geben: zu lieben. Im Ersten und im Letzten glaube ich, nicht das Individuelle macht den Dichter groß und gültig, sondern das Anonyme.

In: Wiener Allgemeine Zeitung, 16.4.1929, S. 5.

Otto Neurath: Weltanschauung und Marxismus. (1931)

Ist der Marxismus selbst eine Weltanschauung (stützt er sich auf eine ganz bestimmte Philosophie) oder ist er mit deren Lehren verschiedener philosophischer Systeme vereinbar?

Diese Frage setzt stillschweigend voraus, daß es neben wissenschaftlichen Aussagen noch andere sinnvolle gäbe, die mit ihnen sinnvoll verknüpft werden können, die „philosophischen“ oder „weltanschaulichen“. Diese Annahme ist falsch. Es gibt neben der Wissenschaft keine sinnvollen Sätze philosophischer Systeme. Der Marxismus ist als Wissenschaft weder auf eine bestimmte philosophische Grundlegung angewiesen noch hat es einen Sinn, zu fragen, ob er mit verschiedenen Weltanschauungen vereinbar ist.

Es ist insbesondere dem „Wiener Kreis“ um Schlick und Carnap zu verdanken, daß der Nachweis erbracht wurde, man könne nur Scheinsätze neben den Sätzen der Wissenschaft formulieren. Ohne diesen Nachweis hier im einzelnen zu führen, seien seine Grundgedanken kurz dargelegt. 

Unter Wissenschaft wird hier ein System von Formulierungen verstanden, das uns die Möglichkeit gibt, Voraussagen über bestimmte Vorgänge zu machen. 

Nur solche Voraussagen werden zugelassen, von denen man angeben kann, wie sie bestätigt oder widerlegt werden können. Sagen wir zum Beispiel schönes Wetter voraus, so müssen wir angeben können, was für Kontrollaussagen der Wetterwarten einlaufen müßten, damit die Voraussage als bestätigt gelten soll. 

Um zu den Voraussagen zu gelangen, werden die vorhandenen Beobachtungsaussagen gesammelt, Aussagen über Regen und Temperatur, über Luftdruck und // Feuchtigkeit, bis man über Gesetze verfügt (Vorgang der Induktion), die uns die Möglichkeiten geben, durch geeignete Verknüpfungen von Korrelationen Voraussagen zu machen, die dann durch Kontrollaussagen (in A hat es geregnet, in B war Sonne usw.) überprüft werden. […]

Nicht immer kann man über Einzelvorgänge Voraussagen machen, manchmal nur über Gruppen von Vorgängen. Man kann etwa mit genügender Genauigkeit die Sterblichkeit einer Bevölkerung im nächsten Jahr voraussagen, nicht aber, ob ein bestimmter Mensch im nächsten Jahre sterben wird (Statistische Voraussagen).

Die wissenschaftliche Sprache wird so eingerichtet, daß die Beobachtungsaussagen durch Aussagen über eine einheitliche Ordnung ersetzt werden können. In allen wissenschaftlichen Aussagen wird angegeben, wann und wo sich etwas ereignet, wobei die Aussagen eines Blinden, der taub ist, eines Tauben, der blind ist, den gleichen Wortlaut haben. An die Stelle der Worte „periodisch auftretendes Hell und Dunkel“ und der den gleichen Vorgang beschreibenden Worte: „periodisch auftretendes Laut und Leise“ (wenn zum Beispiel ein Blinder mit Hilfe eines Telephons und einer Selenzelle Lichtvorgänge wahrnimmt) tritt eine gemeinsame Formulierung, in der die periodische Schwingung mit ihren sonstigen Eigenschaften ausgedrückt wird; so wie man etwa von einem „Würfel“ spricht, gleichgültig, ob man ein Sehender oder ein Tastender ist. Diese gemeinsame Sprache, die allen Sinnen, allen Menschen gleich gerecht wird, ist die Einheitssprache der Wissenschaft; ist „intersubjektiv“ und „intersensual“.

Am vollkommensten ist diese Sprache in der Physik ausgebildet worden. Sie für alle Disziplinen auszubauen, ist Aufgabe des Physikalismus. Er begründet die Einheitswissenschaft mit ihrem Schatz von Gesetzen, die alle so formuliert werden, das jedes mit jedem kombiniert werden kann. Will man zum Beispiel voraussagen, wie sich ein Volksstamm bei Gewitter benehmen werde, so muß man ebenso die Gesetze des Gewitters wie der Soziologie kennen. Es gibt zwar Gesetze einzelner Wissenschaften, die man aus der Einheitswissenschaft herausschneiden kann, man kann aber nicht jede Voraussage einer bestimmten Wissenschaft zuweisen. 

Die physikalische Einheitssprache der Einheitswissenschaft bemüht man sich so aufzubauen, daß Scheinsätze von vornherein ausgeschlossen werden. Eine Rechenmaschine läßt nicht zu, daß man Rot mit fünf multipliziert oder die Tugend aufs Quadrat erhebt. Aber unsere Sprache erlaubt, daß man von einem „Nachbar ohne Nachbar“ spricht, von einem „Sohn, der nie Vater oder Mutter gehabt“. Daß das sinnleere Begriffe sind, sieht man freilich leicht ein, Aber viele Menschen hängen an Begriffen, wie: „Kategorischer Imperativ“, und sehen nicht ohne weiteres ein, daß das eine sinnleere Wortverbindung ist. […] Eine gut gebaute wissenschaftliche Sprache verfügt über eine Syntax, die Scheinsätze, zum Beispiel über das „Nichts, das nichtet“ (Heidegger), von vornherein unmöglich macht. 

Die Ausschaltung der Scheinsätze ist sehr wichtig. Aber die dann noch übrigbleibenden Aussagen, die grundsätzlich durch Beobachtungs-// aussagen kontrolliert werden können, können noch immer falsch sein! Die gesamten Sätze primitiver Magie zum Beispiel sind irdisch, durchaus durch Beobachtungsaussagen kontrollierbar, und doch sind nur wenige davon in unserem Wissenschaftssystem wiederzufinden. Das gleiche gilt von astrologischen und anderen Behauptungen. Es bedarf ganz anderer Mittel, um zu zeigen, daß eine durch Beobachtungsaussagen grundsätzlich kontrollierbare Behauptung nicht zutrifft.

[… 450]

Beschreibt man das Verhalten des Einzelmenschen im Individualbehaviorismus, so beschreibt der Sozialbehaviorismus in der empirischen Soziologie das Verhalten von Gruppen, die miteinander durch Reize verbunden sind. Menschengruppen werden ebenso wie Ameisenhaufen untersucht. Metaphysiker, wie Sombart, möchten freilich die Lehre von den Menschenhaufen in eine grundsätzlich andere Wissenschaftskategorie wie die Lehre von

den Ameisenhaufen verweisen, weil es bei den Menschengruppen ein „Verstehen“ gebe. Es läßt sich zeigen, daß alles, was damit gemeint sein kann, sich auf räumlich-zeitliche Ordnung zurückführen läßt, so daß der Monismus des Physikalismus ungebrochen ist.

[…]

Für die empirische Soziologie ist zum Beispiel die Lehre vom Staat eine Lehre von Soldaten, Richtern, Bürgern, Bauern usw. mit ihren Telephonen, Straßen, Häusern, Gefängnissen, Gesetzbüchern usw. Die Nationalökonomie ist eine Lehre von den Beziehungen zwischen Gesellschaftsordnung und Lebenslagenverteilung.

Der Marxismus ist in diesem Sinne empirische Soziologie. Wer als Marxist nach Korrelationen zwischen den einzelnen soziologischen Vorgängen sucht, bedarf keiner philosophischen Grundlegung. Man mache Voraussagen über das Eintreten von Krisen, Revolutionen, Kriegen, über die Lebenslagenverhältnisse einzelner Klassen! Die marxistische Einstellung zeigt sich darin, welche Korrelationen angenommen werden. Man hebt gewisse Vorgänge als „Überbau“ hervor und stellt fest, wie ihr Auftreten mit bestimmten Vorgängen der Produktionsordnung „Unterbau“ zusammenhängt. Der Marxist wird ganz besonders darauf achten, alle wissenschaftlichen Formulierungen, also auch die eigenen, als Überbau in Abhängigkeit vom Unterbau zu sehen, das heißt, er wird erwarten, daß gewisse Theorien erst dann auftreten, wenn soziale Umwälzungen im Gange sind. Er wird daher von der Umgestaltung der Gesellschaftsordnung Änderung der theoretischen Aussagen erhoffen.

Andererseits ist die Theorie als physikalistisches Gebilde nicht nur Symptom für bestimmte Änderungen der Lebensordnung, sondern selbst ein Faktor dieser Umgestaltung. So ändert man durch Verbreitung bestimmter Lehren die Ordnung, und schafft so neue Grundlagen für den Ausbau der Theorie. So ist im Marxismus Theorie und Praxis— beides als räumlich-zeitliches Gebilde— aufs engste miteinander verbunden. Die bürgerliche Lehre vom „neutralen“ Gelehrten, der „von außen her“ den Ablauf der Ereignisse studiere, fällt damit weg.

Es ist bemerkenswert, daß Marx und Engels, auch darin ihrer Zeit weit vorauseilend, die vielfach metaphysisch gefärbte Sprache ihrer Umgebung dazu verwendeten, um zu modernen Wendungen vorzustoßen, die vielfach geradezu an den Behaviorismus heranführen. (Deutsche Ideologie): „Die Phrasen vom Bewußtsein hören auf. Die selbständige Philosophie verliert mit der Darstellung der Wirklichkeit ihr Existenzmedium. Der »Geist« hat von vornherein den Fluch an sich, mit der Materie »behaftet« zu sein, die hier in der Form von bewegten Luftschichten, Tönen, kurz, der Sprache, auftritt. Die Sprache ist das praktische auch für andere, also auch für mich selbst existierende wirkliche Bewußtsein.“

Wer die Traditionen des Empirismus hochhält und sich daran erinnert, daß die Materialisten die hier angedeutete Lehre vorbereiteten, wird sie als „Materialismus“ bezeichnen. Wer sich davor scheut, weil die Kirche den Materialismus verfemte, das Bürgertum ihn verachtet, oder wer sich davor scheut, weil die älteren Materialisten, am Mechanismus festhaltend, nicht ohne gelegentliche metaphysische Exkurse einen Standpunkt vertraten, der gerade der beschwingten geschichtlichen Auffassung des Marxismus Hemmungen bereitete, wird die neutralere Bezeichnung „Physikalismus“ vorziehen.

Marxismus als Wissenschaft macht sinnvolle Voraussagen und enthält sich aller Scheinsätze, er hat daher weder positiv noch negativ mit den Scheinsätzen der Philosophen etwas zu tun, mögen sie wie immer formuliert sein. Um den historischen Anschluß zu gewinnen, mag die Beschäftigung mit philosophischen Lehrmeinungen sehr nützlich sein, aber wenn man einmal unter diesem Gesichtspunkt sich weltanschaulichen Studien zuwendet, ist die Erforschung der Theologie wichtiger, weil sie historisch großen Einfluß ausgeübt hat und ausübt und weil die gesamte idealistische Philosophie abgeschwächte Theologie ist.

Diese völlige Trennung von Marxismus und Weltanschauung sagt aber noch gar nichts darüber, wie sich ein Marxist, der in der Arbeiterbewegung wirkt, nun zu konkreten Vertretern weltanschaulicher Scheinsätze innerhalb der Arbeiterbewegung zu verhalten hat, wie zu den Vertretern der Weltanschauungen außerhalb der Bewegung. Die Arbeiterbewegung faßt Menschen gleicher Klasseneinstellung zusammen. Sie ist darauf aus, bestimmtes klassenkämpferisches Verhalten wichtig zu nehmen, und ist an sich weltanschaulichen Einzelneigungen gegenüber eher tolerant. Es ist geradezu ein Element bürgerlicher Taktik, die weltanschaulichen Unterschiede innerhalb der Arbeiterklasse zu betonen, um so die Klassenfront zu sprengen. Anders freilich steht die Sache, wenn die religiöse Gemeinschaft gleichzeitig politische, antiproletarische Gemeinschaft ist. Aber auch dann sind die marxistisch geschulten Freidenker nicht der unmarxistischen Anschauung, daß durch Aufklärung allzuviel zu erreichen sei, sie begnügen sich vielmehr meist damit, die Glaubenslosen zu sammeln und nur zu verhindern, daß die Kinder wieder von Jugend an einer sehr oft antiproletarisch verwerteten religiösen Erziehung ausgesetzt sind. Auch die idealistischen Philosophen treten vielfach, wenn auch unbewußt, als Werkzeuge antiproletarischer Mächte auf und können zu einer Bekämpfung im Interesse proletarischer Entfaltung herausfordern.

Innerhalb der Arbeiterpädagogik kann die Toleranz gegenüber idealistischer Philosophie manchmal dazu führen, daß die Jugend bürgerlicher‘ Ideologie näher gebracht wird, als durch die Zeitumstände ohnehin geschieht. Aber das sind Einzelprobleme, deren Beantwortung durch die Situation des Klassenkampfes bedingt ist, nicht aber durch die theoretische Einsicht, daß der Marxismus als Wissenschaft mit Weltanschauung weder positiv noch negativ irgend etwas zu tun hat.

In: Der Kampf 10 (1931), S. 447-451.

Else Feldmann: Umherziehende Kinder. (1919)

Ein grauenhaftes Schauspiel kann man jeden Nachmittag in der Kärntnerstraße und am Ring sehen. Eine Völkerwanderung von Kindern zieht aus Favoriten, Meidling, Ottakring, Hernals, der Brigittenau und andern Gegenden in die Innere Stadt ein.

Die Kinder verdienen durch Bettel und Prostitution vierzig bis fünfzig Kronen täglich: aber sie kaufen sich keine Stiefel oder Kleider, sie betteln sich kleine Vermögen zusammen;

aber sie werden nach wie vor zerrissen und barfuß herumlaufen; die Lumpen sind ein notwendiges Requisit ihres Geschäftes, und sie werden sich davor hüten, sie abzulegen.

Jetzt erst kommt alles angeschwommen, was die viereinhalb Jahre Morden aus Völkern gemacht haben. 

Wie eine Karikatur, wie ein Verhängnis, gegen das es nichts gibt, sind die Kinderhorden anzusehen, die in keine Schule gehen, sondern mit ihren Geschwistern und Kameraden ausziehen, Geld zu suchen. Die Mütter – Väter gibt es fast keine – haben die Jahre hindurch alle Demütigungen und Erniedrigungen ertragen. Sie mußten sich auf der Straße anstellen, um die paar Kronen für den Kopf ihrer Männer; mit diesem Gelde mußten sie sich weiter die Nacht hindurch auf dem kalten Pflaster, um das bißchen elender Nahrung herumwälzen; der kleine Greisler konnte sie nach Belieben hinauswerfen; der Kohlenhändler konnte ihnen nach Laune Kohle verkaufen oder auch nicht. Die Mütter sahen langsam ihre Kinder in langen, elenden und verschärften Leiden zugrunde gehen. Zuerst kam die Vernachlässigung des Körpers. Ich habe Arbeiterfrauen gesehen, die ihre Kinder jede Woche zweimal badeten. Sie hätten sich lieber die Finger weggehackt, ehe sie sich von der Nachbarin hätten nachsagen lassen, ihre Kinder wären schmutzig. Dieselben Mütter mußten es ertragen, daß in dem kalten Winter, wo man keine Kohlen, kein Licht, keine Seife hatte, die Kinder infolge Unreinlichkeit massenhaft an Hautausschlägen (Scabies) erkrankten.

Durchschnittlich jedes zweite Kind hatte Scabies, und da diese Krankheit sehr leicht übertragbar ist, auch auf Erwachsene, kam es zu einer Epidemie, von der nur deshalb nicht viel in der Öffentlichkeit verlautete, weil sie ja nicht lebensgefährlich, bloß eine Pein mehr für die Armen war.

Dann war noch da das Hungern und mit ihm der moralische und sittliche Verfall der Kinder; das Stehlen, Eingesperrtsein der Jugendlichen, die Prostitution der jugendlichen Mädchen aus Not. In den Syphilisspitälern gibt es in einem Jahr tausende junge Mädchen und Burschen, darunter erschreckend viele unter vierzehn Jahren. Das Asylspital hat einen ständigen Belag von über vierhundert jugendlichen Prostituierten. Man bedenke, was das allein für die Fortpflanzung heißt. Es sei nicht zu verkennen, daß, aus der Not heraus, einige ganz gute Einrichtungen geschaffen wurden; besonders drei wären lobend hervorzuheben: die Jugendgerichtshilfe, die Tagesheimstätten und die Waldschule. Aber ist dies mehr, als ein Tropfen auf einem heißen Stein? Es ist und bleibt bei allem guten und besten Willen ein armseliges, bejammernswertes Dilettantentum der Kinder- und Jugendfürsorge.

Wer hat daran ein Interesse, daß die Kinder nicht verkommen, sondern tüchtige und brauchbare Menschen werden? Vor allem doch der Staat. Wie darf also der Staat die Kinderfürsorge zum größten Teil noch immer der privaten Wohltätigkeit überlassen? Bürgerliche Frauen, freiwillige Kräfte, und wenn sie das Muster von Frauen wären, taugen im allgemeinen nicht dazu. Nur geschulte, herangebildete Pädagogen, Menschen mit Herz und Verstand, staatlich angestellte, gut bezahlte – damit sie den Idealismus nicht verlieren – mit Pflichtgefühl und sozialer Einsicht, die besten Menschen, die wir haben, müssen herangezogen werden zur Kinder- und Jugendfürsorge, und niemals Frauen, die einem einsamen Tag, leeren Stunden entrinnen möchten! //

Denn dabei kann nur wieder etwas Halbes herauskommen, und die Halbheiten sind es, die uns zugrunde gerichtet und auf den Bettelstab gebracht haben; wir müssen für immer mit ihnen aufräumen.

Es ist vollkommen sinn- und Zwecklos, wenn unsere Politiker jedes Selbstbewußtsein verlieren und wie trostlose Melancholiker, wie Hysterische sich zusammensetzen und über unseren Untergang jammern.

In den Tagen des August 1914 hörte man von allen Leuten: wir müssen den Krieg haben; alle Klassen, reich und arm, jung und alt, Mann und Frau schrien sich gegenseitig zu: wir müssen Krieg haben! Hurra, der Krieg! Literaten, Künstler, Poeten, Philosophen, die etwas auf sich hielten, sie alle schrien: Hurra den Krieg! Die Sozialdemokratie schrie: Hurra, in den Krieg! — Vergessen waren die treuen Gelöbnisse, vergessen waren die Brüder in Frankreich, in England, in Rußland, die arbeitenden Menschen aller Länder, die Brüder eines Gedankens, einer Seele.

Und so schreien sie heute: Wir sind ein unglückliches Land, wir sind bankrott, wir müssen uns beugen, wir müssen uns am allertiefsten erniedrigen, wir müssen den letzten Rest Ehrgefühl preisgeben.

Nein, es ist nicht wahr; wir müssen uns nicht beugen und erniedrigen, oder wenn wir es müssen, dann können wir es sozusagen praktisch, aber ideell müssen wir es nicht. Auf unseren Idealismus, auf unser Menschensein dürfen wir nicht verzichten. Gewiß, wir müssen essen, und wir müssen uns dieses Essen durch Demütigung verdienen. Aber nicht allein vom Essen können wir leben, wir brauchen noch andere Güter, wir brauchen die Idee, wir brauchen das Menschentum, wir brauchen Begabung, Tüchtigkeit, den Keim des Guten und Wahren im Volke.

Wenn unsere Regierung aber zusieht oder sich blind stellt, wie die Kinder, durch die Verhältnisse böse und schlecht geworden, durch Not und Entbehrung bestialisch und verbrecherisch, zerrissen und zerlumpt durch vornehme Straßen ziehen, um Geld zu suchen, so kann sich diese Regierung die Folgen selbst zuschreiben, wenn in wenigen Jahren ein Geschlecht von Verbrechern herangewachsen sein wird. Wenn sie in einigen Jahren – statt jetzt die Kinder zu sammeln und Baracken und Waldschulen zu errichten, wo nur ein freies Plätzchen ist – die Zuchthäuser, die Korrektionsanstalten, die Spitäler werden hinstellen müssen.

Die Mütter, die jede Liebe, jede Scham, jeden Stolz in diesen Jahren des Leidens und Duldens verloren haben, schicken heute selbst ihre Kinder auf die Straße, damit sie betteln; der reiche Erlös lockt auch die anderen an; es werden immer mehr und mehr, die ausziehen, einer Heuschreckenplage vergleichbar. Schaue einem solchen Kind, das dich anbettelt, in das Gesicht, und du wirst erschrecken, wenn du zu sehen verstehst. Sie fühlen sich wie erlöst. Sie sind unbändig frei, glücklich, seit sie auf die Straße gehen und Geld bekommen, ohne zu arbeiten – aber langsam fault alles, was bisher noch rein und kindlich in ihnen war; langsam zerfrißt wie von einer Säure alles, was noch menschlich in ihnen war. Ärger als der Krieg, als die Verstümmelten, Verkrüppelten, Blinden sind die bettelnden Kinder der Straße; sie sind wie freigelassene Wahnsinnige mit ihren entsetzlichen Trieben, die in den Kellerwohnungen bei den Ratten Keime in sich ausgenommen haben, die sich vor dem Grand Hotel entwickeln und in kurzer Zeit zu einem erschreckenden Bild von Riesengröße gestaltet haben werden.

Die Regierung muß ein Mittel finden, Kinder vom Hausieren mit Blumen und anderen Dingen, Betteln und Zeitungskolportage zu entfernen. Eine Regierung muß die Macht und Kraft haben, etwas so Entsetzliches, wie es die umherziehenden Kinder sind, sofort abzustellen, will sie nicht warten, bis diese ihr über den Kopf wachsen.

In: Neues Wiener Journal, 25.5.1919, S. 8-9.

Hermann Bahr: Amerika, du hast es besser! (1921)

Gern wird der Goethespruch zitiert: 

Amerika, du hast es besser
Als unser Kontinent, das alte, 
Hast keine verfallene Schlösser
Und keine Basalte.
Dich stört nicht im Innern
Zu lebendiger Zeit
Unnützes Erinnern
Und vergeblicher Streit. 
Benutzt die Gegenwart mit Glück!
Und wenn nun eure Kinder dichten,
Bewahre sie ein gut Geschick
Vor Ritter-, Räuber- und Gespenstergeschichten.

Aber klingts nicht eigentlich höchst seltsam und befremdend in Goethes Mund gerade, des allem Vulkanischen abgesinnten, nur ‚ruhiger Bildung‘ vertrauenden, im Grunde stets bedächtig konservativen Mannes, der nicht aufhört, allem ‚Sansculottischen‘ ingrimmig zu widerstreben und der Überhebung spottet, die so gern, ‚ganz original‘ und ‚Autochtone‘ wäre, nicht ahnend, daß jeder, wer es auch sei, doch immer, wie er sich auch wehren mag, selber auch schon ‚Überlieferung‘ ist? Der alte Herr, sonst so feierlich, sich den Forderungen „lebendiger Zeit“ leidenschaftlich unwirsch verschließend, selber „unnützes Erinnern“ mit zur Vergangenheit abgewendeter Andacht ehrfürchtig hegend, wie kommt er auf einmal zu so jugendlich dreist auf die Gegenwart dringender Vermessenheit, wenn er sie freilich gleich selber, wie vor den eigenen Worten, bevor sie noch ganz ausgesprochen, erschreckend, schon halb wieder zurücknimmt, indem er sie, sich zu den „Kindern“ wendend, bloß auf das „Dichten“ einzuschränken scheint?

Er kam dazu durch Nachsinnen über „wunderbare Verhältnis des inneren produktiven Sinns zu dem praktisch äußeren Tun“: der Dichter, der sich, nach unmittelbarem Ausdruck seiner Erinnerung ringend, dabei fortwährend durch „unnützes Erinnern“ an Überlieferung gestört fühlt, indem ihm Überlieferung Fremdes in sein Eigenes mischt, der Dichter ist es, der in dieser Qual aufschreit, und mit den „Ritter-, Räuber- und Gespenstergeschichten“, vor denen er die Kinder beim Dichten durch ein gut Geschick bewahrt wissen möchte, meint er, was wir höflicher die „literarische Tradition“ zu nennen gewohnt sind. 

Zwar als Einfall, als erster Gedanke, taucht der Neid auf, Amerika, das es so viel besser hat als das abendliche Geschlecht von Erben, schon acht Jahre vor dem Gedicht auf. Im Nachlasse Goethes ist ein Foliobogen gefunden worden, überschrieben „Aufblühender Vulkanismus“, datiert vom September 1819, da hat er notiert: „Eines verjährten Neptunisten Schlußbekenntnis.  Abschied von der Geologie….Nordamerikaner glücklich, keine Basalte zu haben, keine Ahnen und keinen klassischen Boden“; er hätte das eigentlich auch nennen können: Eines verjährten Klassizisten Schlußbekenntnis! Aber zunächst blieb das noch jahrelang ein bloßes Aperçu, zum Gedicht ward’s ihm erst 1827, da fälltes im Briefwechsel mit Zelter auf einmal gereift vom Baume seiner künstlerischen Erkenntnis. Dieser Briefwechsel ist ja überhaupt ein einziges langes Zwiegespräch von der Kunst, in das nur immer wieder Tageswünsche, Tagessorgen wunderlich hineinrufen. Um jene Zeit ist eben Georg Zelter der letzte Sohn des tapferen Musikanten, gestorben, und den Vater bohrt der Schmerz noch tiefer ins Studium der griechischen Tragiker, er liest hintereinander die beiden Ödipus des Äschylos Sieben vor Theben und Antigone, die Schutzflehenden und den Agamemnon, liest dazu noch auch den Aristoteles wieder und, vielleicht selber im Stillen verwundert über die nie versagende tröstende Kraft der Alten, ruft er dann aus: In Summa (wenn ich dich und mich selber verstehe), aller Zweck der Kunst ist die Kunst selber, so auch das Kunstwerk.“ Und als Kommentar zu diesem so bedenklich artistisch klingenden Satz gibt ihm nun Goethe die Antwort: „Ich sagte neulich: Il faut croire à la simplicité, zu deutsch: Man muß an die Einfalt, an das Einfache, an das urständig Produktive glauben, wenn man den rechten Weg gewinnen will. Dieses ist aber nicht jedem gegeben: Wir werden in einem künstlichen Zustande geboren und es ist durchaus leichter, diesen immer mehr zu bekünsteln, als zu dem Einfachen zurückzukehren.“ Das faßt Zelter hinwieder sogleich in der vollen Bedeutung auf und erläutert, was Goethe allgemein aussprach, nun an einem besonderen Fall, an // seinem geliebten Johann Sebastian Bach, dessen „Originalität“, so bewundernswert in ihrer unerforschlichen Fülle, dennoch habe „dem Einflusse der Franzosen, namentlich des Couperin, nicht entgehen können“. Das Thema des „unnützen Erinnerns“ ist damit angeschlagen […]

Hat es denn nun aber Amerika wirklich besser?

Was Goethe damals an Amerika besang, davon hat es damals selbst noch lange keinen Gebrauch gemacht: denn Walt Whitman war ja damals erst ein Bub von acht Jahren und bis zu seinen Leaves of grass, die 1855 erschienen, hat Amerika ganz einfach unserem Kontinent, dem alten, nur immer schön brav nachgedichtet und seine Kinder blieben keineswegs durch ein gut Geschick bewahrt vor Ritter-, Räuber und Gespenstergeschichten, denn bis zu en Leaves of grass war alle Dichtung Amerikas nichts als aufgewärmtes Englisch, von ergreifender Schönheit zuweilen, doch ohne jeden Hauch des „urständig Produktiven“, im Grunde durchaus nur aufgeschwappte Diktion Englands und überhaupt bloß englischer Schaum ohne jeden eigenen Gehalt, ohne Spur eines amerikanischen Grundelements. Dieses fuhr erst aus jenem gewaltigen

One’s Self I sing – a single separate Person
Yet utter the word Democratic, the word En masse,

mit dem die Leaves of grass anheben, aus jenem zu den Sternen aufjauchzenden Ausbruch: 

Of Life immens in passion, pulse and power, 
Cheerful – for freest action form’d, under the laws divine,
The Modern Man I sing

mit einem solchen Donnerschlag in die Welt, daß man meinen möchte, Goethe selbst in seinem merlinisch leuchtenden Grab müsse noch freudig erschreckter erstaunend aufgehorcht haben, denn einen Urlaut des urständig Produktiven von solcher Urgewalt hatte ja das Abendland seit den Zeiten des Volksepos nicht mehr vernommen. Welchen Gebrauch aber hat Amerika selber von Walt Whiteman gemacht? 

Zunächst eigentlich gar keinen. Emerson, der freilich dieses „Ungetüm, ein Ungetüm von nie gesehener Art,mit schrecklichen Augen und Büffelkraft, aber unleugbar ameri-// kanisch“ sogleich in seiner ungeheuren Schönheit erkannte, wurde daheim kaum gehört, und nur unter dem Druck der wachsenden Bewunderung in England entschloß sich Amerika, seinem ersten Dichter schließlich wenigstens ein grandioses Leichenbegängnis zu bereiten. Dann aber blieb es lange drüben wieder still, während in England, Frankreich und Deutschland Macht und Ruhm der »Grashalme« mit jedem Jahre mehr verlauteten. In England warben so mächtige Fürsprecher wie Rosetti, Swinburne und Buchanan für ihn, den Deutschen ward er 1868 durch einen schallenden Ruf Freiligraths in der „Augsburger Allgemeinen Zeitung“ bekannt, die erste deutsche Übersetzung der Grashalme erschien freilich erst 1889 bei dem guten alten Schabelitz in  Zürich, der Hebamme jeder literarischen Verwegenheit um jene Zeit, und ebenso seit den achtziger Jahren wirkt Whitman auch auf Frankreich, ein Franzose ists, Léon Bazalgette, dem wir das tiefste Buch über Whitman verdanken: der erste Teil, Walt Whitman, L’homme et soin Œuvre, ist schon 1908, der zweite, ,Le Poème Evangile de Walt Whitman, eben jetzt erschienen, beide im Verlag des Mercure de France.  War aber in Amerika selbst keine Wirkung Walts vernehmlich? Ich weiß es nicht. Ich weiß nur, daß, als ich vor bald zwanzig Jahren in einer rheinischen Stadt über Whitman sprach, nach meinem Vortrag eine junge Amerikanerin von rauschender Schönheit und heute noch in meiner Erinnerung fortleuchtenden Augen auf mich los stürzte, stürmisch begeistert, mir enthusiastisch dankend, dann aber auf einmal zutraulich treuherzig fragend, ob es denn. eigentlich diesen Dichter auch ,,wirklich« gegeben, ob er nicht bloß von mir erfunden, denn sie habe daheim den Namen noch nie gehört, und es könnte ja sein, daß ich mir nur einen Spaß gemacht und ein lustiger »Swindler«, oh, ein sehr angenehmer!, wäre.

Von Whitman vernahm die Welt zum erstenmal den Urlaut Amerikas (denn Edgar Poe war von einer Höhe der Einsamkeit, in der jede Spur der eigenen Zeit wie des eigenen Stammes verlischt, sozusagen das absolute Nichtsalsgenie, fast unheimlich in seiner völligen Isoliertheit von allen zeitlichen wie persönlichen Zügen), von Whitman empfing Amerika sich selbst, mit den Leaves of grass ward die Dichtung Amerikas geboren, es konnte jetzt eine Kunst ohne jeden „Schaum“, von allen Einwirkungen fremder „Diktion“ frei, nirgends  „bekünstelt“, in unschuldiger Selbstherrlichkeit erwachsen. Ist sie’s? Aus unserer Ferne läßt sich jedenfalls keine gewahren. Die sichtlichen Dichter der Völker sind allerdings ja nicht immer die wahrhaftigen; diese kommen oft erst lange nach ihrer Zeit zum Vorschein, sie sind ihr zu weit voraus: wieviel wissen denn heute, ob in fünfzig Jahren Brezina der größte Dichter unserer Zeit sein wird? Unter den sichtlichen Dichtern Amerikas von heute, die Claire Goll uns jetzt in ihrer Anthologie jüngster amerikanischer Lyrik Die neue Welt (S. Fischer Verlag, Berlin, 1921) bringt, fand ich keinen, der bewiese, daß es Amerika wirklich besser hat. Man spürt freilich die Wirkung Whitmans sehr, aber so sehr, daß nun auch aus ihr wieder nur ein „Schaum“, eine bald jedermann geläufige „Diktion“ wird, und wenn sie sich mit Whitman „bekünsteln“, ist das Natur?, wenn man ihnen den Zwang, den sein gewaltiges Vorbild ausübt, anmerkt, ist das Freiheit? Und man wird sehr nachdenklich, wenn man bemerkt, daß die schönsten Stücke dieser Sammlung Volkslieder von Indianern sind: sie schlagen an Unmittelbarkeit der Eingebung und an Gewalt des Ausdrucks alle Künste der „gebildeten“ Dichter, und wo von diesen einer einmal einen bezwingenden Ton hat, stellt sich heraus, daß es im Grunde der Ton Whitmans oder von Indianern ist. „Die heiligen Lieder,“ erzählt Claire Goll von den Indianern „darf nur der singen, dem sie von Geistern mitgeteilt wurden.“ Ja das wär’s eben offenbar! Aber in Ländern mit Literaturen, scheint’s, teilen die Geister nichts mehr mit, die Geister verstummen und darin hat es jetzt auch Amerika nicht mehr besser!

In: Neue Freie Presse, 4.12.1921, S. 1-3.

Roda Roda: Zwei Planeten. (1923)

Die Interviewer kamen und gingen wieder. Jeder redete zu mir. Und ob ich nickte oder verneinte – ganz gleich – jeder schrieb, was er selbst gesagt hatte, als meine Meinung nieder. Nachdem der zwölfte Interviewer gegangen war, trat eine kleine Pause ein. Ich wartete unruhig auf den dreizehnten. Vergebens, er blieb aus. Da beschloß ich, mich selbst zu interviewen. Ich habe es nun schon so oft mitgemacht – ich weiß, wie man es anstellt.

Herr Roda, sind Sie schon lange in Amerika? 

Drei Monate, Mister… Verzeihen Sie, ich habe Ihren Namen nicht verstanden; ich weiß nur, daß darin etliche lange – oa – vorkommen. 

Wollen Sie noch eine Zeitlang bleiben?

Bis ich mich unmöglich gemacht habe. Also etwa fünf Wochen, schätze ich. So lange hat man mich bisher noch überall geduldet.

Gefällt Ihnen Amerika? 

Wie originell Sie fragen! Es geht mir hier wie dem türkischen Eulenspiegel Naßreddin. Er lag zu Bett und schlief. Da träumte ihm, sein Nachbar zahle ihm neun Groschen auf die Hand. „Gib mit auch den zehnten,“ bat Naßreddin. Der Nachbar weigerte sich und sie stritten. In der Erregung des Streits erwachte Naßreddin und fand seine Hand leer. Rasch schloß er die Augen wieder: „Laß sein, Nachbar, ich begnüge mich schon mit neun Groschen.“ – Auch mir scheint Amerika wie ein schöner Traum. Ich fürchte zu erwachen und wieder in Europa zu sein. 

Demnach befinden Sie sich in Amerika sehr wohl? 

Es ist ein grundsätzlicher Irrtum der Geographie und eine Pedanterie unsrer europäischen Schulmeister, Amerika einen andern Erdteil zu nennen. Amerika ist ein anderer Planet. Eure Technik, euer Optimismus, eure Arbeitskraft – schön und großartig. Ich glaube auch wenn ihr Dummheiten macht, müssen es kapitale Dummheiten sein. 

Oh!

Widersprechen Sie nicht! Alles ist imposant. Schon die Einwohnerzahlt von New York: 20 Millionen. 

Wie kommen Sie zu dieser Ziffer? 

Durch Addition natürlich. Es war ein Italiener bei mir der sagte, es gäbe hier 20% Italiener, anderthalb Milliionen. Ein Jude gab anderthalb Millionen Juden an. Dann Deutsche, Russen, Skandinavier, Franzosen, Tschechen, Südslaven, Rumänen… von allen gibt es hier mir als in irgendeiner Stadt Europas. Wenn Sie alles zusammenrechnen, finden Sie, daß New York über 300 Prozent Einwohner hat, insgesamt 20 Millionen.

Einige New Yorker sind doch auch hier geboren. 

Die hatte ich vergessen. Dann geht die Rechnung noch höher. Hier reicht eben alles in den Himmel – nicht nur die Paläste. Es ist hier ein Schlaraffenland. Candys, Candys aller Ecken, und immer neue Läden entstehen; in längstens drei Jahren wird New York eine einzige Konditorei sein. – Dies Land verblüfft mich immer mehr. Ihr habt Elevators, die fahren; die Zentralheizung gibt Wärme – Wunder für einen Europäer. – Ich weiß mich hier gar nicht zu benehmen. Man gibt mir einen zugeschnürten Packen in die Hand; ich versuche die Schnur zu zerreißen, wie man das bei uns immer mit zwei Fingern macht; zu meinem Erstaunen aber reißt die Schnur nicht; da zücke ich mein Messer, und es zeigt sich, daß die amerikanische Schnur härter ist als das Messer. – Eurer Leder kommt aus der Gerberei; unseres aus der Papierfabrik. Eure Butter kommt vom Land. Eure Kartoffel sind nicht faul. Und ihr habt Fleisch, das man schneiden kann. Die Milch hier ist durchsichtig. Ihr habt Kaffee aus Bohnen. Wenn Schnee in New York fällt, ist er schwarz: nicht einmal der Schnee in Amerika ist wie bei uns. – Was ihr Verkehr nennt, hieße bei uns schon Panik. – So elegant wie bei euch die Tippmamsellen sind bei uns nur die aktiven Prinzessinnen – und Sie wissen, daß die meisten Prinzessinnen nicht mehr aktiv sind. – Es ist wahr, manches bei euch mutet uns sonderbar an. Ihr alle seid polizeilich gar nicht gemeldet, und eure Polizisten tragen keine Waffe; der Kirchturm ist das niedrigste Gebäude der Stadt; dafür treibt die Kirche Lichtreklame; man zündet Licht nicht an, um zu sehe, sondern um beachtet zu werden; der drahtlose Telegraph ist das Spielzeug eurer Kinder; die Kinder befehlen; der Vater kocht und putzt der Frau die Stiefel. – Amerika ist das Land, wo man liegend rasiert wird, stehend ißt und von der Tagesarbeit ausruht, indem man stundenlang einem kleinen Ball nachläuft. Man behält hier in der Eisenbahn den Hut auf und nimmt ihn im Fahrstuhl ab; elf Greise entblößen die Häupter, wenn ein zehnjähriges weibliches Rotznäschen in den Fahrstuhl tritt. Dafür gibt es hier auf der Straße keine Hunde, Sperlinge und Kinderwagen; bei uns genießen die Hunde öffentliche Freiheiten, die keinem Menschen zustehen. – Komisch ist euer Wetter: ihr habt von Jänner bis Juni April. Auch in Venedig ist es naß; dort gibt es aber Gondeln.

Sie sprachen von Dummheiten. Meinten Sie die Prohibition? 

Habt ihr Prohibition? Verzeihen Sie – ich bin erst drei Monate im Land – da hatte ich es noch nicht bemerkt.

In Deutschland trinkt man wohl immer noch viel? 

Meist Tee. Man macht Tee bei uns, indem man Heu in lauwarmem Wasser wäscht.

Demnach eine neue Industrie? 

Ja, manche Industrien in Deutschland blühen. Es erzeugt zum Beispiel unsre Reichsdruckerei mehr Banknoten als irgendeine Anstalt auf Erden. In der vorigen Woche entstanden soviel Banknoten, daß man nur ein Band aus ihnen zu bilden brauchte, und man konnte es um die ganze Erde wickeln. In dieser Woche ist der Rekord gebrochen wurden; die Banknotenerzeugung reichte dreimal um den Mond. Eine achtunggebietende Leistung. Da kommt ihr nicht mit. 

Sie haben darum auch die große Teuerung in Deutschland. 

In New York ist alles viel teurer. Ein Mantel kostet hier neunzig Dollar. Das sind zwölf 

Millionen Dollar…Dafür kaufe ich mir in Deutschland ein Landhaus, nehme eine Hypothek darauf und schaffe mir aus der Hypothek einen Mantel an. – Allerdings steigen bei uns die Preise von Tag zu Tag. Ich habe eine interessante Erfindung gemacht. Bisher mußte ein Kaufmann bei uns einen Mantel ins Schaufenster hängen und infolge des sinkenden Markkurses den Preis stündlich ändern. Wie viel Mühe macht das bei soviel Mänteln! Ich habe nun eine Uhr konstruiert, die den Preis angibt und selbständig jede Stunde um 10.000 Mark hinaufspringt. Ein Mantel, der heute 240 Tausend Mark kostet, kostet morgen das Doppelte. 

Schweres Leben in Deutschland. 

Verschieden schwer – je nach Ständen. Wer von seinen Kapitalzinsen zehren muß, hungert, // das ist klar – denn die Kaufkraft des Geldes sinkt ja so sehr. Anders die Arbeiter: sie hungern, weil ihre Löhne nicht Schritt halten mit der Markentwertung. Bei dieser Sachlage können die Intelligenzberufe unmöglich gedeihen. Die Dichter, zum Beispiel … es kostet das einfache Bespannen einer Leier mit fünf Saiten schon fünfzigtausend Mark; das kann sich ein Dichter nicht leisten. Darum gibt es auch keine weichen Gefühle mehr in Deutschland. – Am besten haben es noch die Ärzte. Zwar gehen sie müßig, weil niemand Zeit hat, krank zu sein – doch die Ärzte verkürzen sich das Warten auf Patienten sehr angenehm, indem sie einander telephonisch nach ihrem Befinden befragen – in der Hoffnung, eine Todesnachricht zu hören – wodurch sich der Konkurrenzkampf etwas mildern würde. 

Eure Staatsmänner?  

Wir sind bereit, euch 10 davon zu schicken, wenn ihr uns im Austausch dafür ihr Gewicht in Speck und weißen Bohnen gebt. Graf Lerchenfeld wiegt 160 Pfund.

Sind auch die Rechtsanwälte brotlos?

Sie haben alle Hände voll zu tun mit der Scheidung der Kriegsehen. Man plant jetzt ein Gesetz, das die erste Ehe jedes Menschen überhaupt für ungültig erklären soll. Es wäre eine große Zeitersparnis für die Gerichte. 

Und nach diesem Europa wollen Sie zurückkehren?

Gern – ich habe ja meine Familie dort. Ich bin achtzehn Jahre verheiratet – unsere Ehe ist die älteste Künstlerehe der Welt. Und ich beabsichtige, die Ehe fortzusetzen. Wie meine Frau im Augenblick darüber denkt, weiß ich allerdings nicht: ihr Kabel von gestern abend war noch sehr zärtlich. 

Sie leben in München?

Ganz richtig. Einstweilen sind die Franzosen noch nicht da. Die Franzosen wollen, wie man hört, aus dem Ruhrgebiet zunächst nach Berlin vorstoßen, um es zu besetzen, und hierauf nach Wladiwostok weitergehen. Dann kommt wohl ihr Amerikaner daran. Das kann noch Monate dauern. Marschall Foch soll sich mit dem Einmarsch in New York nicht beeilen – sonst kommt er mit seinen Truppen hier im Hochsommer an, wo alle besseren Menschen in den Seebädern sind. 

Der Interviewer sieht nach der Uhr. Ich merke, ich habe seine Geduld erschöpft und drücke ihm zum Abschied warm die Hand.

„Mein Herr“, sage ich ihm, „Sie können ruhig behaupten, eine Stunde mit dem größten Satiriker Deutschlands verplaudert zu haben. Meine Kollegen sind nämlich zur Zeit so beschäftigt mit Selbstanbetung, daß sie meine Überhebung gar nicht merken werden.“

In: Prager Tagblatt, 12.8. 1923, S. 3-4.

Felix Salten: Sieger und Besiegte. Brief an einen amerikanischen Freund (1919)

Kein einziger Mann lebt heute auf der bewohnten Erde, dessen Genie gleichen Schritt zuhalten vermöchte mit der Genialität der Ereignisse. Keiner, der imstande wäre, die Fülle und das rasende Tempo des Geschehens zu bewältigen, die Begebenheiten, durchblickend bis zu ihrem letzten Sinn, zu verstehen, ihre Folgen, verschauend, zu erkennen, oder gar den Gang der Dinge zu lenken. Einzelne Personen besitzen die Macht, aber wie sie von ihnen gehandhabt wird, fehlt dieser Macht die Güte, fehlt ihr die Reinheit, oft selbst die Würde, und daraus allein ergibt sich, wie sehr sie auch jeglicher Größe ermangelt. Das ist ein Unglück, verehrter Freund; nicht bloß für uns, die wir besiegt sind, sondern auch für diejenigen, die, augenblicklich, als Sieger gelten, und somit ein Unglück für diese ganze, verwirrte, bis zu ihrem Grundschlamm aufgewühlte Welt.

Wir alle stehen nicht auf der Höhe unserer Erlebnisse, sondern beträchtlich tiefer. Die Begebenheiten haben uns überrannt sie waren stärker als wir. Ein Bergsturz von Ereignissen, der nun schon seit fünf Jahren, ohne Halten, ohne Pause, mit mehr und mehr anschwellender Wucht auf uns niedergeht, hat uns verschüttet. Wir sind jetzt, nach beinahe fünf Jahren beständiger Katastrophen, in den Nerven, im Fühlen wie im Denken betäubt, gleichviel ob Sieger oder Besiegte, und wir find alle zusammen nicht mehr normal. 

Ihr Gedanke, daß die Vertreter des Geistes, die führenden Männer der Wissenschaft, der Kunst und der Technik nach dem Friedensschlusse irgendwo zusammentreten sollen, um in einem Kongreß die zerrissenen Kulturfäden neu zu knüpfen ist sehr schön und sehr verlockend. Vor zwei Jahren, vor einem Jahr, selbst noch vor einem halben Jahr hat man einen ähnlichen Plan auch bei uns erwogen und mancherlei Hoffnung damit verbunden. Seither sind aus dem Westen, besonders aus Amerika, viele schöne Worte und viele verlockende Gedanken zu uns gedrungen. Wir haben ihnen volles Vertrauen geschenkt, vielleicht zu großes Vertrauen: bis heute aber haben wir keine einzige Tat gesehen, noch keine einzige, die all die schönen Worte wahr machen und unseren guten Glauben rechtfertigen würde. 

Erblicken Sie immerhin einen Zweifel in dieser Äußerung;  er kann und soll nicht geleugnet werden, auch wenn er Sie etwa verstimmt. Denn dieser Zweifel schmerzt diejenigen, die ihn hegen, weit mehr, als er die zu kränken vermag, gegen welche er sich richtet. Bedenken Sie, wie weit die Menschen heute voneinander entfernt sind. Vor fünf Jahren beklagten wir es noch, wie viel Zeit ein Brief nach Amerika brauche, glaubten eine pathetische Wahrheit auszusprechen indem wir sagten, der Ozean liege zwischen uns, und hatten doch, binnen zwei Wochen, auf jede Frage, einer vom andern, die Antwort, hatten doch in unserem Leben, diesseits und jenseits des Ozeans, einen gleichmäßigen Rhythmus, der sich von Ufer, zu Ufer wahrnehmen ließ. Heute trennt uns eine größere Distanz als die Breite der Atlantis; selbst zwischen unseren nahen Nachbarn und uns liegt heute größere Entfernung. Zwischen uns liegt der ungeheure Bann dieser fünf Jahre, liegt das unermeßliche und // unentwirrbare Geschehen und zwischen uns liegen außerdem noch die Folgen einer Absperrung, die in solcher Dauer, in solcher demoralisierender Vollkommenheit, ohne Beispiel ist. 

Das Beispiellose, das Niemals-Dagewesene kennzeichnet ja alle Ereignisse, die wir bis heute erlebt haben, und sicherlich alle, die wir in naher Zukunft noch erleben werden. Es ist niemals noch dagewesen, daß der Kulturkomplex der weißen Rasse durch eine eiserne Grenzlinie in zwei Teile zerstückt und daß diese Teile jahrelang einander geschlossen geblieben wären. Jahrelang haben wir nichts voneinander gewußt, als was uns die Generalstabsberichte voneinander erzählten. […] Diese beiden Völkergruppen, zusammen die Führer und Erbauer der Welt, sind seit fünf Jahren gezwungen, ohne einander zu leben, müssen sich daran gewöhnen, ohne einander auszukommen, obgleich das wider ihre Natur geht, obgleich es Verrat an ihrer gemeinsamen Erdensendung bedeutet. Das ist beispiellos und … unverantwortlich. 

Als der Krieg ausbrach, sahen und begriffen die edleren Gemüter hüben wie drüben voller Schmerz, daß die Menschen einander noch zu wenig kennen. Die Menschen müssen einander kennen lernen – hüben wie drüben galt das als das höchste Ziel kommender Friedenstage, stand als erstes und wichtigstes Beginnen, als heiligste und eiligste Menschheitsbemühung. Aber wie furchtbar sind wir einander heute entfremdet. Wir verstehen uns weniger als je, kennen uns noch weniger, als wir uns je gekannt haben, und heute, da der Krieg schon drei Monate beendet ist , sind wir im Begriffe, uns mit jedem Tage mehr und mehr voneinander zu entfernen. Arme Soldaten im Feld, die nach dem Kampfe alle Feindschaften beiseite ließen, um einander in Todesnot und Körperqualen Beistand zu leisten, hilflose, arme Teufel, die sich nicht einmal mit Worten, sondern nur durch Blicke, durch Gebärden, oder durch ein Lächeln verständigen konnten, haben für die Annäherung der Menschen in einer einzigen Stunde mehr geleistet, als sämtliche Staatsmänner zusammen in diesen wichtigen drei Monaten auch nur versuchten. 

Es ist ja natürlich, dass man bei Ihnen den seelischen und geistigen Zustand, in welchem wir uns während des Krieges befanden nicht verstehen konnte. Auch wir haben den seelischen und geistigen Zustand, in welchem man bei Ihnen lebte, nicht begriffen. Daß wir alle, diesseits und jenseits der Feuerlinie, ganz im Anfang von einem Fieber erfaßt und geschüttelt, von einem Rausch umnebelt und hingerissen wurden, braucht niemand in Abrede stellen, der sich jetzt nicht von Feigheit und falscher Scham zu stotternden Verlegenheitslügen gezwungen sieht. Sie können nun freilich darauf hinweisen, daß wir von unseren Machthabern betrogen und in die Irre geführt worden sind. Aber bei solchem Hinweis, wenn anders Sie sich überhaupt seiner bedienen wollen, müßten Sie fest davon durchdrungen sein, daß man in Frankreich, in England, Italien und bei Ihnen immer nur die volle Wahrheit zum Volke gesprochen hat. Sie müßten überzeugt davon sein, daß Ihre Machthaber heute wenigstens die Wahrheit sagen, oder daß sie sie morgen sagen werden.

Vortrefflich, wenn Sie gegründete Ursache zu dieser Überzeugung haben, doch dürfte es Ihnen schwer fallen, sie auch uns zu suggerieren. Denn hierzulande schwindet das Zutrauen in die Gerechtigkeit Ihrer Staatsmänner von Tag zu Tag wie das Licht einer tief herabgebrannten Kerze. Ihre Staatsmänner haben erklärt, daß sie Ordnung stiften wollen, und haben binnen drei Monaten die Welt noch mehr verwirrt, als sie es ohnehin schon war. Sie haben die Menschlichkeit als oberstes Gesetz proklamiert, und obgleich sie seit drei Monaten die unumschränkteste Macht in ihren Händen halten, die es je auf Erden gab, haben sie in eben diesen drei Monaten jedes niedrige Verbrechen gegen die Menschlichkeit geduldet, wenn es (wie in Lemberg, in Marburg, in Posen und an hundert anderen Orten) von ihren Verbündeten begangen wurde. […] Ihre Staatsmänner haben tausendmal beteuert, daß sie uns die Freiheit bringen werden, aber was heute aus den Beratungszimmern, Bankettreden, Manifesten und Geboten dieser Staatsmänner uns anspricht, was jetzt als furchtbare Drohung über uns schwebt, ist eine so harte Knechtschaft, daß der Zwang, den wir von unseren Militärmonarchen erlitten haben, dagegen noch milde erscheint. 

Da Sie Deutschland und das ehemalige Österreich-Ungarn aus eigener Anschauung kennen, werden Sie wohl kaum im Zweifel darüber sein, daß es, hier wie dort, eine ungeheure Zahl von Menschen gibt, denen die Sache des Fortschrittes und der Freiheit, die geistige und materielle Erlösung der breiten Masse teuer ist. Wie zahlreich diese Menschen sind und dadurch auch, wie befähigt, die Kraft des Volkswillens zu repräsentieren, hat der rasche, widerspruchslose Sieg der Revolution übrigens hinlänglich bewiesen. Nun, mein verehrter Freund, diese Menschen befanden sich während des Krieges in einem inneren Zwiespalt, den man einen tragischen nennen darf. Eine Niederlage konnten sie ihrem Vaterlande, das sie liebten, keinen Augenblick wünschen. Von einem Sieg aber mußten sie eine ungeheure Verschärfung des militaristischen und monarchischen [?]  // fürchten, die brutale Vernichtung aller geistigen Freiheit für lange Zeit. […]

Während der letzten drei Monate ist man sich in Deutschland wie hier über vieles klar geworden. Unzählige Menschen empfinden heute schon die unterwürfige Art, mit der man sich vor der Entente auf die Knie wirft, die Demut, mit der man vor ihr auf dem Bauch kriecht, als widerlich und beschämend. Unzähligen Menschen steht heute schon die Tatsache fest vor Augen, daß wir nicht durch das Schwert besiegt wurden, wie Herr Clemenceau behaupten will, sondern daß wir uns, fasziniert von den vierzehn Punkten, im vollen Vertrauen auf die Verheißungen, die aus Washington kamen, ergaben. Diese Verheißungen haben die Gestalten Hindenburgs und Ludendorffs, an die man nicht mehr glauben wollte, verdrängt und an ihre Stelle die Gestalt Wilsons gesetzt, an den man glauben will. Wenn das feierliche Versprechen der vierzehn Punkte nicht bis in seine letzte Silbe ernst gemeint war, dann sind wir hundertmal ärger betrogen als wir je von unseren Machthabern betrogen wurden.

Alle Träger des Kriegsgedankens, alle Vertreter der Eroberungspolitik sind weggefegt, der Militarismus ist entwurzelt und niemand steht Ihren Staatsmännern jetzt noch gegenüber, an dem die Rache nehmen dürfen. Sie haben erklärt, daß ihr Kampf nicht dem Volk gilt. Nun hat das Volk sich selbst befreit, hat den Krieg, den es verurteilt, beendigt und erwartet sein Heil von diesen vierzehn Punkten. Bis jetzt ist weder von irgendeinem Heil, noch von irgendeinem Punkt auch nur das kleinste Pünktchen zu spüren gewesen. Verdient der Waffenstillstand, zu dem man sich herbeiließ, überhaupt diese Bezeichnung? Die furchtbarste Waffe, wirksamer als alle Tanks und jedes Trommelfeuer, die Blockade, wurde weiter gebraucht. Drei Monate lang, gegen Frauen, Kranke und Kinder. Da schon der Waffenstillstand kein Waffenstillstand gewesen ist, erscheint die Befürchtung leider begreiflich, Völkerbund werde kein Völkerbund, die verheißene Freiheit keine Freiheit und der Friede kein Friede sein.

 Es gibt Augenblicke, in denen alles Hoffen schwindet. Sie erinnern sich, daß ich Ihnen in den Tagen, in denen Deutschland den U-Boot-Krieg begann und Amerika sich der Entente anschloß, geschrieben habe, die Lehrbücher künftiger Generationen würden sich wohl schwerlich mit der Aufzählung all der vielen, jetzt so berühmten Schlachten befassten, sondern diesen ganzen Krieg nur als Einleitung zu größeren Katastrophen erwähnen. In diesen Lehrbüchern (schrieb ich damals) wird es ungefähr heißen: der allgemeinen Weltrevolution ging ein Krieg voran, der so und so viele Jahre dauerte. Als dann der Zusammenbruch erfolgte, konnte man noch einiges hoffen. Man konnte hoffen, daß Ihre Staatsmänner einsehen würden, wie sehr eines Tages über die Verbrechen des Krieges hinaus die fabelhafte Leistung des deutschen Volkes sich erheben, wie viel Rum und Bewunderung sie erringen werde. Bedachten sie das, dann schien es ihnen sicher ein unmögliches Beginnen, das deutsche Volk durch einen übermütig diktierten Gewaltfrieden zu erdrosseln. Vieles ist dem Sieger erlaubt, aber er muß sich, wenn er klug ist, davor hüten, für künftige Zeiten Haß gegen sich zu sähen. Alles darf er dem Besiegten zufügen, nur nicht solche Dinge, die unverzeihlich und unvergeßlich sind. Daß es verderblich ist, gefährlich und töricht, einem Volk wie dem deutschen, solche Dinge zuzufügen, daß sich in der Geschichte das Blatt oft fürchterlich wendet, ist Binsenwahrheit. Man braucht dazu nicht einmal die vierzehn Punkte. 

Aber vielleicht können Ihre Staatsmänner nicht anders handeln. In dem Rausch, mit dem die Fülle der Macht, die Habgier und die Größe des Sieges sie umnebelt, sind sie schließlich Gefangene der Ereignisse, wie wir alle es sind. Die Zwietracht, die dabei unter ihnen herrscht und die das erfolgreiche Bündnis jetzt schon zu zerreißen droht, verbergen sie umsonst hinter dreimal verschlossenen Türen. Es liegt offen vor aller Augen und dient gleichfalls nur der Erkenntnis, daß die Menschen heute kleiner sind als ihre Erlebnisse. So liegt denn das das Schicksal der Welt jetzt nicht bei der Genialität von einzelnen Auserwählten, sondern bei den Massen. Dieses Schicksal schreitet über die einzelnen wie mächtig sie auch sein mögen, hinweg und muß sich vollziehen. Es hat wohl keinen besonders praktischen Wert, Kulturkongresse gerade in einem Augenblick zu planen, in welchem diese ganze alte Kultur zugrunde geht […]

In: Neue Freie Presse, 2.2.1919, S. 1-3.

Robert Müller: Die Kulturpolitik des Bolschewismus. (1920)

Die Reden des reichsdeutschen Außenministers Simons spielten mit dem Gedanken der deutsch-russischen Koalition. Für die Börsen in Berlin und Wien war der Bolschewismus einst das rote Tuch. Heute rechnen Börsenblätter ihn zu ihren Mitteln, wenn sie gewisse Papiere zugunsten anderer drücken wollen. Aber auch hinter dieser Anpassungsfähigkeit einer kapitalistischen Welt gesehen: die Reagenz auf den russischen Bolschewismus hat sich in Deutschland wesentlich gemildert. 

In der Tat hat das jetzige russische Regierungssystem zwar die russische Wirtschaft annihiliert, obwohl es auch Berichterstatter gibt, die von eigenartigen und nützlichen Organisationen zu berichten wissen. Auf Grund solcher Berichte hat der Minister Simons in einer aufsehenerregenden Rede dem russischen System selbst auf wirtschaftlichem Gebiete einen partiellen Erfolg eingeräumt. Verknüpft ist dieser Erfolg allerdings mit einem finanzpolitischen Fiasko. Unbestritten dagegen ist von allen Augenzeugen aller Nationen der außerordentliche kulturpolitischen Fortschritt, den die jetzige russische Gesellschaftsordnung mit sich gebracht hat. 

Der Grund ist einfach. Staat ist dem Bolschewiken eine ideologische Anstalt. Die im materialistischen Westen und seiner Zivilisation gangbare Voraussetzung der Rentabilität sine qua non fehlt dort. Kulturpolitische Maßnahmen werden gegen die finanzielle Kalkulation durchgeführt. Darum ist Rußland das Dorado aller kulturell interessierten, wirtschaftlich sei es desparaten, sei es unerfahrenen Individuen geworden. Die englischen, besonders die französischen und die deutschen, sogar die amerikanischen Künstler schwärmen für Moskau, Lenin und Lunatscharsky. Lenin überzeugt von persönlicher Tüchtigkeit die Diplomaten, Trotzky die Militärs, Lunatscharsky die Schöngeister. Es ist auffallend, wieviel Sympathie unter deutschen Offizieren der Bolschewismus genießt, seit er sich als kriegerisch, soldatisch-diszipliniert und strategisch genial erwies. Die vielbesprochene Allianz zwischen rechts und links ist psychologisch nicht mehr unwahrscheinlich. Der Offizier, auch sein Vorbild, der Ritter, der Edling, sind Geschöpfe einer unkapitalistischen, rein ideologischen Welt. Sie verstehen zuinnerst tatsächlich das Seelenleben und die Werte des überzeugten militanten Bolschewiken besser als die technisch-ökonomische Interessenswelt der Plutokratie, von der sie freilich mit zunehmender Zivilisation aufgesogen wurden. Es ist also kein Zufall, daß in der russischen Armee begeistert deutsche Junker dienen und daß sowohl Lenin als Lunatscharsky Aristokraten sind.  

Alle geistigen, d.h. nicht materiell kalkulierenden Menschen, alle, die nicht Erwerbsmehrung, sondern eine Art auskömmlicher Staatsbesoldung (wie Offiziere) wünschen, um ihren produktiven Neigungen fern vom ökonomischen Lebenskampf, in dem sie indifferent sind, zu leben, blicken heiß nach Rußland. Dort ist, wie immer man es drehen mag, der kulturpolitische Staat verwirklicht, wenn auch contra Kassa. Aber was schiert das den Offizier? Was den Künstler, den Denker, den Pädagogen? Die Künstler sind Schwerarbeiter und es geht ihnen allen gut, leider sogar den wenigen mittelmäßigen. Sie sind offizielle Persönlichkeiten. Sie erhalten Bau- und Schmuckaufträge, die Literaten sind zur Volksaufklärung und -besserung organisiert. Die Lehrer haben für ihre Ideen weitesten Spielraum. Das Erziehungswesen steht auf höchster Höhe. Übertreibungen, Verirrungen unterlaufen, die geistige Nahrung ist der Aufnahmefähigkeit des Schülerdurchschnittes oft unangemessen. Aber es wird gearbeitet, gedacht, verwirklicht, nirgends gibt es ein frischeres Tempo, wir Österreicher, verwirklichungsferner denn je, schielen mit Neid dort hinaus. Mit einem Schlage – gegen das Staatsportemonnaie – sind alle die lästigen Hemmungen wegefallen. 

Das ist die Wirkung einer geistigen Forderung. Sie ist plötzlich, von Geistigen geführt, von Millionen getragen. Nur die Finanziers stehen grollend beiseite. Da gibt es also eine Menschheit, die nicht mehr auf sie hört? Die den praktischen Verstand in den Wind schlägt? Diese Menschheit gibt es heute, sie ist da. Wie zur Zeit des absinkenden Römerreiches, so schlägt heute eine geistige Forderung die materielle Schulung unserer Urteile nieder. Wir mögen eine Zeitlang Unterproduktion und Hunger haben: aber der Geist mag wie damals Gloria feiern. 

Die geistige Forderung ist der Kern. Ihn hat das von Harald von Hoerschelmann (auch einem baltischen Junker) bei Diederichs, Jena, erschienene Büchlen „Person und Gesellschaft“ herausgeschält. Es ist das beste Buch, das man als objektive Analyse des Bolschewismus lesen kann. Es versetzt haargenau in die bolschewistische Seele, wo sie am tiefsten – und schönsten ist. Geistreich und scharfsinnig in der Deduktion, reich an Material und Beleg, kunstvoll geschrieben, lauter, beinahe weise verdient das Buch allgemeine Bekanntheit. Vielleicht sind in Wirklichkeit alle diese Dinge noch viel komplizierter, nuancierter, als Hoerschelmann sie sieht, der einen Bolschewismus ad usum des deutschen Delphini schnittmustert und Ideale des Anarchismus und der Aristokratie schon heute in Rußland verwirklicht sieht, die ich noch nicht sehen kann. Aber seine Konsequenzen sind anregend, er ist ein starker, aufbauender Geistpolitiker. Aufgabe der Gesellschaft ist nicht Sicherung einer Gemeinschaft, sondern aller schöpferischen Kräfte gegen die erstarrten, heißen sie jetzt Bürokratie oder Demokratie. Im gleichen (Diederichs) Verlage erschien von dem Weltreisenden Alfons Paquet das Buch „Im kommunistischen Rußland“. Eine dichterische Persönlichkeit mit starker sachlicher Begabung auch für das Amerikanisch-Statistische schildert persönliche Eindrücke so, daß uns dieses Rußland im ganzen sympathisch wird. Es steht ein gutes Volk, ein derbes, sinnliches, aber innerliches Volk hinter diesem Bolschewismus, und es ist dasselbe Rußland, das Dostojewsky hervorgebracht hat, ihn und die Anlässe seiner Kritik und Selbstironie; Langsamkeit, unpraktische Weltart, aber nachgiebig dem Guten, das dort meistens roh auftritt und uns darum erschreckt. Das Buch „Moskau 1920“, Tagebuchblätter von Dr. Alfons Goldschmidt (Rowohlt-Verlag, Berlin) sind brillant geschriebene Reisefeuilletons im letzten Impressionistenstil, wie er aus Kopenhagen und Paris kam. Das deutliche Urteil bleibt noch im Schatten, weil neben viel Anerkennung eine kräftige Portion Touristensarkasmus zu Worte kommt. Sehr zutreffend sind die Witze, die Goldschmidt der Konkurrenz, den britischen und amerikanischen Revolutionsbummlern, zukommen läßt, Menschen der flachsten Auffassung im Ja- und Neinfalle. Wir können mit Spannung erwarten, was Goldschmidt in seinem sachlichen Buche „Die Wirtschaftsorganisation Sowjetrußlands“, das in kurzem (bei Rowohlt) erscheint, zu sagen haben wird. Von dieser Art Literatur hängt viel ab, Europas Zukunft. Rußland macht Mode, ohne Zweifel! 

Ich möchte noch auf das von mir selbst geschriebene „Bolschewik und Gentleman“, das soeben im Erich-Reiß-Verlag, Berlin, erscheint, hinweisen; es behandelt die kulturpolitische Gradation, die Rußland dem westlichen Kulturkreis voraus hat. 

In: Der neue Merkur, H. 6/1920, S. 11-12 (KS, II, 473-475)

N.N. [Otto Bauer]: Die Weltrevolution. (1919)

4. Die historische Funktion des Bolschewismus.

Die Kommunisten betrachten die Rätediktatur nicht als eine vorübergehende Phase, sondern als die abschließende, endgültige Form der Weltrevolution. Die Rätediktatur werde die Bourgeoisie „erdrosseln“, alles Privateigentum an Produktionsmitteln aufheben, die Spaltung der Gesellschaft in besitzende und besitzlose Klassen aufheben, die sozialistische Gesellschaftsordnung aufrichten, und sobald dieses Werk getan sei, werde der Staat überhaupt absterben, da es einer öffentlichen Gewalt nicht mehr bedürfe, sobald es keine unterdrückten und keine unterdrückenden Klassen mehr gibt. Die Rätediktatur, in einem Lande aufgerichtet, führt die Rätediktatur in den anderen Ländern durch die Macht ihres Beispiels herbei; nach wenigen Jahren werde der Kapitalismus in aller Welt überwunden sein. 

Daß in allen besiegten Ländern starke Tendenzen zur Diktatur des Proletariats ganz unvermeidlich entstehen, unterliegt keinem Zweifel; ob aber die Diktatur des Proletariats wirklich jene Wirkungen herbeizuführen vermag, die die Kommunisten von ihr erhoffen, ist eine ganz andere Frage. Die Geschichte aller Revolutionen zeigt, daß sehr oft die objektiven historischen Wirkungen der Revolution ganz andere sind als die subjektiven Vorstellungen, Absichten und Hoffnungen ihrer Urheber und Träger. 

Der Versuch des Proletariats, seine Alleinherrschaft aufzurichten und sich alle anderen Klassen zu unterwerfen, führt zunächst den Bürgerkrieg herbei. Selbst in Rußland kann sich die kommunistische Diktatur nur in ständigem blutigen Kriege gegen die konterrevolutionären Klassen erhalten; dieser Krieg gegen die Kornikow und Kaledin, die Denikin und Koltschak dauert nun schon mehr als anderthalb Jahre und sein Ende ist nicht abzusehen. Greift der Bolschewismus auf Mitteleuropa über, so wird er hier einen noch viel gewaltigeren, noch viel blutigeren Bürgerkrieg zu bestehen haben:  denn hier würde ihm eine viel breitere, zahlreichere, widerstandsfähigere Bourgeosie und vor allem eine viel selbstbewußtere, viel besser organisierte und viel konservativere Bauernschaft gegenüberstehen als in Rußland. Der Bürgerkrieg zerstört aber die Produktivkräfte des Landes, er macht den Wiederaufbau der Industrie, die Wiederherstellung der Verkehrsmittel, die Wiederbelebung der Landwirtschaft unmöglich. Er bereitet dem Aufbau der Organisation des Proletarierstaates und der Organisierung der sozialistischen Produktion unüberwindliche Schwierigkeiten. Infolge der Desorganisation, die die Folge des Bürgerkrieges überhaupt und der passiven Resistenz der Bauernschaft im besonderen ist, ist die Rätediktatur nicht imstande, die Großstädte zu ernähren; selbst Moskau, das doch die Hauptstadt des größten und fruchtbarsten Agrargebietes Europas ist, hungert, selbst Budapest, die Hauptstadt der getreide- und viehreichen ungarischen Ebene, ist heute schlechter versorgt als Wien. Und aus denselben Gründen stockt in den Sowjetrepubliken auch die industrielle Produktion; infolge der Unmöglichkeit, die Zufuhr von Roh- und Hilfsstoffen zu organisieren, stehen in Rußland die meisten Fabriken still und die Arbeiter sind teils in die Bauerndörfer zurückgekehrt, teils in die Rote Armee eingetreten. 

Trotzdem kann sich die Rätediktatur behaupten, wo sie aus den Erzeugnissen des eigenen Landes wenigstens notdürftig den dringendsten Bedarf an Lebensmitteln und Rohstoffen zu decken vermag. Ganz andere Schwierigkeiten würden ihr in Ländern erwachsen, die, wie Deutschland und Deutschösterreich, die Zufuhr von Lebensmitteln und Rohstoffen aus überseeischen Ländern nicht entbehren können. Wenn wir unsere Bevölkerung ernähren, unsere Fabriken und Eisenbahnen betreiben wollen, müssen wir Getreide, Fett, Fleisch aus überseeischen Ländern, Kohle aus der Tschecho-Slowakei und aus Polen, Rohstoffe aus aller Welt einführen. Und alle diese Waren können wir nur auf Kredit bekommen; denn da wir vorerst nichts auszuführen vermögen, können wir die einzuführenden Waren nicht bezahlen. Kredit aber können wir nur von den Ländern bekommen, die allein nach Kriege kapitalstark geblieben sind; vor allem also von England und von Amerika. Die englischen und die amerikanischen Kapitalisten werden aber keinem Lande Kredit gewähren, das ihnen nicht die notwendigen Sicherheiten zu bieten vermag. Sie werden nicht einem Lande kreditieren, in dem der Bürgerkrieg wütet. Sie werden nicht einem Land Kredit gewähren, das heute durch dieses, morgen durch jenes Dekret das Privateigentum aufhebt und die privaten Rechtsansprüche für nichtig erklärt. Die Räterepublik, unfähig, den Kredit der weltbeherrschenden kapitalistischen Länder zu erlangen, ist damit auch unfähig, ihre Bevölkerung mit Nahrungsmitteln, ihre Industrie  mit Rohstoffen zu versorgen. Die Folge ist gesteigertes Massenelend, verschärfte Hungersnot, fortschreitende Desorganisation des ganzen Wirtschaftslebens. 

Selbst im besten Falle also, selbst wenn die kapitalistischen Länder nicht zu offener Feindseligkeit gegen die Proletarierdiktatur übergehen, sondern ihr nur den Kredit verweigern, für den sie den Kapitalisten keine hinreichende Sicherheit zu bieten vermag, selbst in diesem Falle muß die Räterepublik in unüberwindliche Schwierigkeiten geraten, die ihr der Aufbau einer sozialistischen Gesellschaftsordnung schier unmöglich machen müssen. Aber alle Wahrscheinlichkeit spricht dafür, daß es dabei nicht sein Bewenden haben wird, daß die kapitalistischen Weltmächte vielmehr gegen jede Räterepublik zum offenen Angriff übergehen werden, ganz so wie sie es gegen Rußland und gegen Ungarn getan haben. Denn die kapitalistischen Mächte fühlen durch die Existenz jeder Räterepublik ihre Interessen bedroht. Die besiegten Länder sind Schuldner der Sieger; ihr Staatsbankerott, ihre Einstellung der Schuldenzahlungen, ihre Expropriation des Privateigentums bedeutet daher den Versuch, den Siegern den geschuldeten Tribut zu verweigern. Die Rätediktatur in den besiegten Ländern bringt durch ihr Beispiel auch die kapitalistische Ordnung in den benachbarten kleineren Ländern in Gefahr, die die Sieger als ihre Vasallenstaaten aufgerichtet, als ihre wirtschaftlichen Interessenssphären und als Stützpunkte ihrer politischen Macht geschaffen haben: in Polen, in der Tschecho-Slowakei, in Jugoslawien und Rumänien. Und die Verbreitung der Proletarierdiktatur vom Osten nach dem Westen über immer weitere Teile Europas erschüttert schließlich auch die kapitalistische Ordnung in Italien, in Frankreich, in Belgien und gefährdet damit jene ungezählten Milliarden, die die angelsächsischen Länder diesen ihren Verbündeten geborgt haben. So widerstreitet die bloße Existenz der Räterepubliken den stärksten Interessen der herrschenden Klassen der weltbeherrschenden Staaten; deshalb suchen sie die Räterepubliken durch Blockaden zu erwürgen, durch materielle Unterstützung der Konterrevolutionäre niederzuwerfen. Der unvermeidliche Zusammenstoß zwischen den kapitalistischen Weltmächten und den proletarischen Räterepubliken treibt allerdings die soziale Entwicklung in den noch kapitalistischen Ländern weiter: denn die englische Arbeiterschaft ist erbittert über den Feldzug der englischen Herrenklassen gegen die Räterepubliken und die englische Bourgeoisie muß sie daher durch Zugeständnisse zu gewinnen, durch Beschleunigung der Demokratisierung und Sozialisierung in England selbst zu beruhigen und zu besänftigen suchen. Aber andererseits wird die Not der Räterepubliken durch den Angriff von außen furchtbar verschärft; und wenn auch große Agrarländer wie Rußland, die vom Ausland relativ unabhängig  und von außen her schwer angreifbar [gesperrt gedr.] sind, sich des Angriffs der kapitalistischen Mächte zu erwehren vermögen, so müßten Industrieländer wie Deutschland und Deutschösterreich, die amerikanischen Lebensmittel und Rohstoffe, amerikanischen und englischen Kredit, amerikanischen und englischen Schiffsraum nicht entbehren können, diesem Angriff bald und unvermeidlich erliegen. 

Die Verwüstung der Volkswirtschaft durch den Bürgerkrieg im Innern, die Verweigerung der Kredit- und Rohstoffhilfe durch das kapitalistische Ausland, schließlich gar der feindliche Angriff kapitalistischer ausländischer Mächte machen es den Räterepubliken unmöglich, die wirtschaftliche Lage der Arbeitermassen zu verbessern. Der Begeisterung der Arbeitermassen für die Diktatur des Proletariats folgt daher sehr bald die bittere Enttäuschung, die sich gegen die Rätediktatur, gegen ihre unvermeidlichen Begleiterscheinungen, wie den Terror, wie die Aufhebung des Streikrechtes, der Preß- und Versammlungsfreiheit, wie der Rekrutierung zur Roten //Armee, kehrt. Die Diktatur des Proletariats führt schließlich zur Auflehnung des Proletariats gegen die Diktatoren. In Rußland stand im Oktober 1917, in Ungarn im März 1919 sicher das ganze Proletariat hinter der Diktatur: heute sind da wie dort unzweifelhaft schon breite proletarische Schichten in Gegensatz gegen die Räterepublik geraten und der Terror der Diktatoren richtet sich nicht nur mehr gegen die Bourgeoisie und Bauernschaft, sondern auch gegen die opponierenden Schichten des Proletariats. Von außen bedrängt, im Innern von der Bourgeoisie und der Bauernschaft leidenschaftlich bekämpft, schließlich auch von immer breiteren Schichten des darbenden, hungernden, kriegsmüden Proletariats verlassen, verwandelt sich die Diktatur des Proletariats in eine reine Militärdiktatur, die sich auf nichts mehr stützt als auf die Bajonette der durch eiserne Disziplin zusammengehaltenen, durch wirtschaftliche Begünstigungen befestigten Roten Armee. Aber die alte Wahrheit, daß man auf Bajonetten nicht sitzen könne, gilt auch für Räterepubliken. Sobald das Proletariat von den Wirkungen der Diktatur enttäuscht ist und sich gegen die verschärfte Hungersnot und den erneuten Krieg auflehnt, ist die Rätediktatur verloren und die Militärdiktatur der Roten Armee wird abgelöst von der Militärdiktatur der Konterrevolution.  

Auch die Kommunisten wissen sehr wohl, daß die Rätediktatur scheitern muß, wenn sie auf die besiegten Länder beschränkt bleibt. Aber sie glauben, daß die Diktatur in den besiegten Ländern sehr bald die Revolution in den Ländern der Sieger auslösen werde, und darauf stützen sie ihre Hoffnungen. Diese Hoffnung ist trügerisch. Selbst wenn die soziale Revolution wirklich über die besiegten Länder hinaus greifen, selbst wenn sie auch Frankreich und Italien erfassen, auf dem ganzen europäischen Festland triumphieren sollte, selbst dann wäre der Kommunismus nicht gerettet. Denn alle wirtschaftliche Macht ist jetzt in den angelsächsischen Ländern, in England und Amerika, konzentriert; diese Länder allein verfügen über die Rohstoffe, über die Lebensmittel und über den Schiffsraum, die das ganze Festland braucht, und gerade in diesen Ländern fehlen die Voraussetzungen der Revolution. Die soziale Revolution der besiegten, der ohnmächtigen und abhängigen Länder scheitert unvermeidlich an der ungebrochenen Macht des Kapitals in den Ländern, die den Sieg errungen haben und die Welt beherrschen. 

Aber wenn die Diktatur des Proletariats in dem großen Prozeß der Weltrevolution nur eine vorübergehende Phase ist, so ist sie darum doch keine bedeutungslose Phase. Der Krieg hat die Gesellschaft mit ungeheuren Schulden belastet; über den realen Produktivkräften, die den Reichtum der Gesellschaft erzeugen, ist ein ungeheures Gebäude papierener Rechtstitel getürmt. Wo dieser Ueberbau so drückend geworden ist, daß er mit den gesetzlichen Mitteln der Demokratie nicht mehr abgetragen werden kann, dort wird der Bolschewismus unvermeidlich. Er vernichtet alle die papierenen Rechtstitel und zerreißt alle die papierenen Schuldverpflichtungen. Und wenn dann sein Herrschaftssystem wieder zusammenbricht, dann lebt nicht wieder auf, was er zerstört hat. Die Gesellschaft, von der Last jener unerträglichen Schuldverpflichtungen, die der Krieg ihr zurückgelassen hat, befreit, kann nach dem verheerenden und vernichtenden, aber auch reinigenden Sturme darangehen, ihr Wirtschaftsleben von neuem aufzubauen. Der Bolschewismus ist nicht imstande, die sozialistische Gesellschaft aufzubauen; aber wenn einem Lande unerträgliche Last aufgebürdet wird, die dem Wiederaufbau im Wege steht, dann kann er der eiserne Besen sein, der die Last hinwegfegt und dadurch den künftigen Wiederaufbau erst ermöglicht.

Der Bolschewismus ist ein Nachfahre des Jakobinertums vor 1793. Als die Jakobiner die Macht eroberten, glaubten sie durch den Terror des Pariser arbeitenden Volkes eine ewige Gesellschaft der Freiheit und Gleichheit aufrichten und durch ihr Beispiel alle Länder zur Nachahmung zwingen zu können. Darin haben sie sich getäuscht. Die Jakobiner haben kein tausendjähriges Reich der Freiheit und Gleichheit aufzurichten vermocht, und ihr Beispiel ist von den anderen Ländern nicht nachgeahmt worden. Aber wenn die Jakobiner nicht das erreicht haben, was sie zu erreichen hofften, so hat ihre Herrschaft doch anderes erreicht, wovon nichts ahnten: ihre Schreckensherrschaft hat nach Marxens berühmten Worte mit eisernem Besen alle Ueberbleibsel der feudalen Gesellschaftsordnung hinweggefegt und dadurch die Basis geschaffen, auf der nach ihrem Sturze das neue kapitalistische Frankreich aufgebaut worden ist. So wird auch der Bolschewismus nicht das erreichen, was er zu erreichen wähnt; er wird nicht das tausendjährige Reich einer kommunistischen aufzubauen vermögen. Aber wo unerträgliches Kriegsergebnis und unerträgliche Friedensbedingungen der Gesellschaft ein Erbe hinterlassen, das sie zu erdrücken droht, dort wird seine vorübergehende Herrschaft dieses Erbe hinwegfegen, um den Boden zu reinigen, auf dem erst nach seinem Zusammenbruch in planmäßiger demokratischer Arbeit die neue soziale Ordnung wird aufgebaut werden können. 

In: Arbeiter-Zeitung, 28.6.1919, S. 1-2.

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Vicki Baum: Lippenstift und Spitzenwäsche in Rußland (1931)

„Bringen Sie meinen Schwestern Lippenstifte mit“, sagte mir ein russischer Freund, als ich nach Moskau fuhr. „Das ist es, was ihnen am meisten fehlt. Sie wissen: Russinnen – und keine Schminken! Und wenn es geht: Parfüm!“

Ich packte also Lippenstifte und Parfüm ein; man darf davon nach Rußland mitnehmen, so viel man für den eigenen Gebrauch benötigt; das ist ein dehnbarer Begriff und übrigens ist die Grenzkontrolle Ausländern gegenüber sehr höflich und gar nicht kleinlich. In Rußland fand ich dann, daß den Russinnen so ziemlich alles fehlte, aber Lippenstifte – die hatten sie! „Ich habe sechs Stück in meinem Haar eingeschmuggelt“, sagte mir eine kleine Chemiestudentin, die ein paar Schuljahre in Deutschland verlebt hatte. Auch Parfüm hatten sie, Parfüm war sogar eines der ganz wenigen Dinge, die man in Läden zum Verkauf bereit sah. Und geschminkt waren viele von ihnen. Gut geschnittenes Haar hatten die meisten, sie lobten ihre Friseure, und die Aufschrift „Parruckmacherstaja“ ist in russischen Leitern oft genug zu lesen. Bolschewikinnen strenger Observanz schienen mir dem langen Haar und aufgesteckten Knoten zuzuneigen (was übrigens schön zu den breiten, stillen Bauersfrauengesichtern steht, die in Ämtern und Fabriken zu finden sind), farblose Kleidung, strenge Haltung und schlichte Frisur kennzeichnen – so schien es mir – eine bestimmte proletarische Oberschicht, wie sie in Deutschland etwas charakterisieren, das man „Potsdamer Stil“ nennen kann. 

Es gibt keine elegante Frau mehr in Rußland; oder doch: eine einzige. Sie ist auch in den europäischen Hauptstädten bekannt: Frau Lunatscharski. Man nimmt es ihr übel genug. Es wäre in diesem Land voll Hunger und Elend auch schlechter Geschmack, sich elegant anzuziehen, selbst wenn es sich eine oder die andere Frau leisten könnte. Auf den Botschaften, diesen europäischen Inseln im uferlosen Moskau, trägt man sich einfach, Wollkleider, Wollstrümpfe. „Sie werden bald einsehen, daß man hier keine Seide trägt“, hörte ich eine Botschafterin zu einer jungen Attachésfrau sagen, die im einfachen schwarzen Seidenkleid zum Lunch gekommen war. Nebenbei: Es gab gekochtes Ochsenfleisch als Hauptgang, und der Botschafter sagte mir: „Wir sind stolz, eine solche Delikatesse aufgetrieben zu haben.“

Die Russin ist von Natur aus „trés femme“, und man mag ihr so viel abstrakte Gedankenpanzer anziehen, das Allesgleichmachen bis auf das Geschlecht ausdehnen (gibt es doch für das Wort „Towarisch“ = „Genosse“ keine weibliche Form) die Frau kommt immer wieder zum Vorschein. Die Theater, in denen man keine angezogene Frau sieht, nur Genossinnen, die tragen was sie eben haben, riechen nach Parfüm. Im „Prophylaktum“, einem Heim zur Besserung von Prostituierten, hatte eine Leiter die Offenheit, mir zu sagen: „Für ein paar Seidenstrümpfe prostituieren sich so viele!“

Wirklich fand ich, daß der Seidenstrumpf den jungen Russinnen fast als ein Symbol erscheint für alles, was sie entbehren. Und sie entbehren viel; denn die Liebe gehört mit zu den Dingen, die man dort abgeschafft hat. „Es gibt noch ein bißchen Bett; keine Liebe, nichts vorher, nichts nachher. Keine Blumen –“ sagte mir eine junge Frau, und es war eine Welt von Traurigkeit darin. Diese reinen Arbeitsbienen, so farblos in ihren Kitteln und Strickkleidern – sie fangen zu zittern an, wenn sie ein Stückchen Seidenwäsche sehen oder gar verehrt bekommen. Als man vor der Revolutionsfeier ein paar Tage lang den Verkauf von Seidenblusen freigab, wurden ein paar Frauen totgedrückt, so schlimm ging es dabei zu…

Im „Grand Hotel“, wo in einem pompösen Speisesaal im Stil der Achtzigerjahre die Ausländer zu essen bekommen, ist nachts Jazz (sonst in Rußland als bourgeois verboten) und Tanz. Man fühlt sich gespensterhaft, zwischen Palmen und Seidenlampen, als wäre man Schaustück in einem Museum. In Moskau wird viel gemunkelt von der Pracht und Eleganz dieses in Spiritus konservierten Stückchens Europa im Sowjetstaat. In Wirklichkeit sieht man ein paar Ingenieure und Trustleute, ein paar Ausländerinnen, die geschmackvoll genug sind, sich aufs einfachste anzuziehen, und dann noch hier und da eine Russin, die aus irgendeinem Ziel und Grund ins „Grand“ gehen kann, ohne sich mißliebig zu machen. Diese Frauen haben alle das befangene Wesen von Menschen aus der äußersten Provinz; sie tragen ihr bestes Kleid – auch im Theater tragen sie manchmal ihr bestes Kleid. Es ist von kleinen Schneiderinnen nach verschollenen Moden gemacht, aus irgendeiner Seide, die man erwischt und mit mehr als 800 Kronen per Meter bezahlt hat. Ich wurde angefleht, eine Seite aus einem Modeblatt hinzuschicken, denn ganze europäische Zeitungen sind verboten, und sie wunderten sich sehr über unsre länger und knapper gewordene Kleider. Übrigens haben sie eine Art Modenzeitung auch dort – aber die macht Frauen nicht glücklich. Ein rührendes kleines Requisit der Eitelkeit sah ich, als ich mit ihnen ins Dampfbad ging: den Büstenhalter. Sie haben da einen Schnitt – ich denke, ihre Modenzeitung lanciert ihn – und eine besondere Methode, aus alten Spitzengardinen etwas einigermaßen Pikantes zurechtzukriegen. Es ist etwas wie der Sieg der Weiblichkeit mitten im Bankerott der Weiblichkeit. Und ich muß sagen, diese kleinen Büstenhalter aus Vorhandtüll haben mir eben so viel Eindruck gemacht und mehr verraten als der „Rote Platz“ mit den Hunderten von Menschen, die immer vor dem Grabmal Lenins warten … 

In: Prager Tagblatt 24.1.1931, S. 3.