Ernst Lothar: Gegenwart und Zukunft des Theaters. Kritik und Prognose.

Wir beginnen heute mit der Veröffentlichung des Vortrages, den Ernst Lothar in Deutschland und der Czechosowakei gehalten hat. (Anm. d. Red.)

             Das Wort Theaterkrise ist ein Schlagwort geworden, dessen Schlagkraft die Vernunft zu Fall zu bringen und eine Panik zu erzeugen droht, worin die Begriffe wanken und nichts als steriler Pessimismus oder Nutznießertum der Desperation aufrecht bleibe. Da ist es an der Zeit, sich klar zu machen, was an dem alarmierenden Schlagwort wahr, was übertrieben, was mißverstanden daran ist. Und ob ihm tatsächlich der ganze Schrecken innewohnt, den ihm die Krisenlustschnapper nachsagen.

             Daß es bedrohlich um die Gegenwart des deutschen Theaters steht, leugne ich nicht. Und ich will, ärztliche Gepflogenheit annehmend, die Symptome der Krankheit nennen, bevor ich mich zur Diagnose und damit zur Therapie vorwage. Eine Anamnese ist zu fordern, Geschichte des Krankheitsverlaufes, wie von jedem Patienten, der Heilung sucht; beides, das Leiden, das Geheiltwerdenmüssen, trifft ja auf das kranke Gegenwartstheater und insbesondere auf das Schauspielwesen, dem meine Ausführung gelten, zu. Welche Symptome zeigt der Patient? Gestatten Sie mir, die Dinge nicht nur beim Namen, sondern sogar bei Ziffern zu nennen und auf jede Ziffer einzeln zurückzukommen:

             Erstens: das heutige Schauspieltheater ist zum Schauspielertheater (und zum Regisseurtheater) geworden, wodurch die geistige Situation des Theaters Schaden litt; zweitens: das Schauspieler- und Regisseurtheater wurde zum Prominententheater, wodurch das Ensembletheater, aber auch (mit der geistigen Kontinuität) die wirtschaftliche Prosperität des Theaters Schaden litt; drittens: dieses Theater folgerte aus der Geschäftsstockung, daß es Geschäftstheater zu sein habe; viertens: es bekämpfte und bekämpft die ihm durch den Tonfilm erwachsenen Konkurrenz mit absolut untauglichen Mitteln.

             Erstens: Die geistige Situation des heutigen Theaters hat sich grundlegend geändert. Als Max Reinhardt, zu dessen überzeugten Anhängern ich zähle, soweit es sich um die schauspielerische Regenerierung des Theaters und seiner Erlösung vom Pathos der Verstellung handelt, im Vorjahr jubilierte, sagte er öffentlich: „Das Theater von heute gehört dem Schauspieler.“ Dieser verlesene, also keineswegs einer Bankettimprovisation überlassene Trinkspruch klang wie ein Urteilsspruch. Er war einer. Er sprach der geistigen Bedeutung des heutigen Theaters das Urteil und – verurteilte sie, ohne es zu wollen. Denn vom Standpunkt des Jubilars Max Reinhardt angeschaut, erschien dieser Zustand nicht beklagenswert. Er, Schauspieler von Geblüt, Schauspielerführer von Genie, konnte nicht anders als, indem er der Wahrheit die Ehre gab, den Schauspielern die Ehre geben. Sie, die Schauspieler, waren es, die in ihm gefeiert wurden; sie, die Schauspieler, an die der Erinnerungsglanz sich knüpfte, mit dem der Name Reinhardt zum Theaterhimmel steigt. Sonderbar, daß fast niemand aus diesen Bankettworten heraushörte, was sie waren: die solenne öffentliche Erklärung der Diktatur, der die private längst vorangegangen war. Mit den Worten: „Das Theater von heute gehört dem Schauspieler“, hatte der größte Schauspielerdirektor der Gegenwart die Abdankungserklärung des Bühnenautors und die Herrschaftsübernahme durch die Schauspieler verkündet. Nicht zufällig – in jener geheimnishaften Vorahnung, die ihm eignete und ihn die spirituellen Zusammenhänge so seherisch durchschauen ließ – hatte der zu früh abgerufene Hofmannsthal für Reinhardts neues Wiener Theater 1924 schon den Namen gewählt: „Die Schauspieler im Theater in der Josefstadt, unter der Führung von Max Reinhardt“, ein scheinbar preziöses Firmenschild, das trotzdem jene Entwicklung vorausnahm und in Worte faßte: in diesem Aushängeschild sind die Schauspieler Firmeninhaber und der Dichter zeichnet für das Unternehmen nicht einmal mehr per Prokura.

             Meine Damen und Herren, diese Entwicklung war der Keim des Uebels. Sie stellte zu einer Zeit, als das Wort Tonfilm ungekannt und die wirtschaftliche Stagnation noch nicht von solchem Weltumfang wie heute war, das Theater auf eine Grundlage, die es nicht tragen konnte und daher nicht ertrug. Nichts gegen die Magie des Schauspielerischen! Faszinierter Freund und Beurteiler jeder mimischen Bedeutung, überzeugt davon, daß das Glück des Theaters Verwandlung des Zuschauers durch Illusion ist, fände ich mich in der lächerlichsten Rolle, wollte ich diese Bedeutung auch nur mit einem Worte schmälern. Mit allen Worten dagegen will ich sagen, daß die Ueberbedeutung die man dem Schauspieler und die der Schauspieler sich gegenwärtig zuerkennt, ihm nicht zukommt. Deshalb nicht, weil sie zu der falschen Rechnung führt, welche das Dargestellte zur Null, den Darsteller zur Unendlichkeit macht und uns hinbringt, wo wir halten: zur Schauspielerdiktatur über den Autor.

             Hier meldet sich vielleicht unter Ihnen und bestimmt in mir der Einwand, den jeder Theaterkenner pflichthaft zu erheben hat: Welche Autoren sind gemeint? Ist jene schädliche Entwicklung nicht dadurch erzwungen, daß die Gegenwart an Autoren, welche Werte für das Theater schaffen (und nur um solche kann sich’s handeln) bettelarm, ja, daß sie daran ärmer ist als je eine Epoche? Ja und nein. Ja: Denn wollte ich die deutschen Autoren der jüngeren Generation, von denen das Gegenwartstheater Werte oder zumindest Impulse empfängt, aufzählen, die Finger einer einzigen Hand genügten mir dazu, und noch da bliebe der Daumen unbeschäftigt. Sollen wir’s versuchen? Der Mittelfinger für Bruckner (und erst seit „Elisabeth von England“); der Zeigefinger für Georg Kaiser (aber er hat die Richtung verloren); der Ringfinger für Werfel; der kleine Finger für Zuckmayer. Und sonst – ? Brecht, der steil begann, ist abgestürzt; Unruhs edle Leidenschaft hat „Phäa“ nicht vermeiden können. Leonhard Frank: „Hufnägel“ waren die Sargnägel einer Theaterhoffnung; Hasenclever, Bronnen: konjunkturisiert, politisiert. Von den anderen jüngeren Deutschen nicht zu reden. Sie haben das Schreidrama des Expressionismus mitbegründet oder mitgemacht und sind nun drauf und dran, die neueste Dramenmode mitzumachen: das Agitationsdrama. Hier muß ich zur Klarstellung der Kategorien innehalten und die Begriffe „expressionistisches Drama“ und „Agitationsdrama“ abgrenzen. Niemand kann bestreiten, daß der Expressionismus abgewirtschaftet hat. Das aber beweist nichts gegen die organische Bedingtheit seiner (Nachkriegs-) Erscheinung; nichts gegen die Konsequenz seiner Idee, nichts gegen seine künstlerische Berechtigung. Ich bin weit davon entfernt, im Expressionismus wie andere „ein Kostüm bluffwilliger Schwindler“ zu erblicken und sehe vielmehr in ihm den Ausdruck seiner amusischen Epoche: er war das dramatische Sekundenecho der Kunst auf das Toben der Sekunde; er war und blieb wörtlich wie inhaltlich: Zeitausdruck. Dem Weltmaschinensaal, dem Weltkrampf, dem Weltumsturz einen Theatersaal in Stuck und Gold entgegenzustellen, dessen Bühne dieselben Konflikte, Worte, Kulissen ungeändert hätte beibehalten sollen wie zu Zeiten Wildenbruchs, schien unerträglich. So weit richtig. Trotzdem litt das Richtige Schiffbruch. Der Grund war simpel: es fehlte an Genie. Der Dichter fehlte, der das unwidersprechlich Richtige mit neuen Mitteln zur neuen Gestallt gebildet hätte. „Das Drama schreiben heißt, einen Gedanken zu Ende denken“, notierte Georg Kaiser damals pro domo. Der Gedanke war gedacht, doch nicht gestaltet. So blieb er, ohne eine Tat zu werden, ein Programm. Vom Kino und der Telegraphie entlehnten die Expressionisten die Form. Sie bilderten, statt zu bilden, sparten am Wort und leider geizig an der Seele. Im Formalen lag ihnen der Weg, in der Sprengung der Form. Doch mit dem Sturz der Form läßt sich das Drama nicht erneuern. Nur aus seiner Natur. Aus seiner Natur aber wäre das Drama dann erneuert, wenn es das zu Gestaltende (schematisch gesprochen) nicht wie bisher im Zufall, sondern im Schicksal sähe. Das Drama ist Konflikt. Der Sinn des Dramas die Optik und die Ueberwindung des Konflikts. Der Konflikt des Mißglückten Expressionistendramas entstand aus einem individuellen oder kollektiven Zufall: er war schicksallos. Der Konflikt des wahren künftigen Dramas dagegen müßte aus dem Zusammenstoß zwischen Bestimmung und Willen erfolgen: schicksalhaft. Ziel des neuen Dramas: statt Zufall Schicksal. Statt Realität Vision.

             Dies hatte ich zu sagen, um zu kennzeichnen, welchen Abstieg das sogenannte Agitationsdrama, das in vielen Spielarten hergestellt und gepriesen worden war, dem beschimpften expressionistischen Drama gegenüber (gesehen vom hier maßgebenden Standpunkt des dramatischen Kunstwertes) bedeutet: Dieses, das expressionistische, war zumindest als Kunstform und ideell geboten; jenes, das agitatorische, bloß als Plattform und konjunkturell. Dieses war das Schrei-, jenes ist das Letzte-Schreidrama: Abstieg von der Idee zur Propaganda-Mode. Allerdings hat man auch hier Idee hineinzutragen und -zugeheimnissen versucht, hat mit dem nebulosen Begriffe „Zeitdrama“ Wesens getrieben. Was ist ein Zeitdrama? „Die Dinge auf der Bühne“, formulierte erst kürzlich ein deutscher Beurteiler von Rang, „müssen mich angehen, und sie gehen mich nur an, wenn das Zeitsubjekt weltanschauungshaft in mir getroffen wird“. Da möchte ich mir aber, so verführerisch die Formulierung klingen mag, energisch zu widersprechen erlauben! Hier will man, und tut es ja auch, dem Drama den Reportage- samt dem Kolporteur- und Propagandist seiner Tage anweisen und es zur poltisch-parteiischen Zeitung der Ereignisse, statt im Drama die bedingten Ereignisse zu unbedingten Erscheinungen machen. Kunst als Waffe? Warum nicht. Aber durch das Massewerden darf sie nicht an Kunst verlieren! Der Irrtum, der den Propagandisten hier unterläuft, hat zwei Grundlagen: es ist irrig, daß Dauer und Vergänglichkeit eines Dramas sich auf seine Weltanschauung gründen; und es ist irrig, daß der Besucher des heutigen Theaters in weltanschaulichem Sinn anspruchsverschieden von dem irgendeiner theatralischen Epoche sei. Trotz anderer oder anders gewordener Weltanschauung – und das letztere gilt für den Gegenwartswert der Klassiker – kann ein Drama heute und immer wirken, weil die Wirksamkeit nicht von der im Drama ausgedrückten oder ihm zugrundeliegenden Weltanschauung, sondern bestimmend von der darin gebildeten Gestalt abhängt. Ist diese Gestalt gültig, das heißt: für eine ganze Menschengruppe repräsentativ, dann wirkt sie in der Zeit und überwirkt die Zeit. Daß der Prinz von Homburg den Krieg als geboten voraussetzt, wird pazifistischen Zuschauern gleichgültig vor der gültigen Gestalt des Menschen, der zwischen sich und seiner Pflicht schwankt. Daß der König Lear das Gottesgnadentum der Könige zur selbstverständlichen Bedingung hat, wird dem demokratischen und republikanischen Zuschauer gleichgültig vor der gültigen Gestalt eines Vaters, der sein Kind beweint. Genau so irrig aber, wie die Wirkung von der Weltanschauung abhängig machen zu wollen, ist es, daß der Theaterzuschauer Weltanschauungen oder programmatische Vorgänge (Vorgänge seiner Weltanschauung) auf der Bühne verlangt, um das „tua res“ zu spüren. Wahr ist, daß er sich sozial geändert hat, nach wie vor aber auf der Bühne Menschen sehen will, die ihn angehen. Diese Menschen gehen ihn nicht nur dann an, wenn sie seine Gesinnungsgenossen, sondern entscheidender und allgemeiner dann, wenn sie gültige Gestalten sind, die keinen Privatfall, sondern einen Menschenfall, also auch den seinen inkarnieren. Das sind, sie mögen in der Steinzeit spielen, Zeitdramen. Das sind aktuelle Dramen, weil ihre Aktualität nicht im Januar 1931, sondern im Menschenhaften liegt, und das Menschliche bekanntlich dauernd aktuell, das Aktuelle dagegen desto seltener menschlich ist. Um es meinerseits zu formulieren: das echte Drama ist immer Zeitlosigkeits- und dadurch Zeitdrama, weil es die Zuschauer aller Zeiten zu Menschheitsgenossen macht; das sogenannte Zeitdrama ist bloß Augenblicksdrama, weil es die Zuschauer bestenfalls zu Parteigenossen macht. Es waltet (auch hier) derselbe Tiefen- und Größenunterschied wie zwischen Menschheit und Partei.

             Entschuldigen Sie diesen Exkurs, er war unumgänglich, um zu erkennen, warum die jüngere deutsche Dramenproduktion so mißgeleitet ist: im Expressionismus gestrandet, hat sie im Agitationsdrama den gestalterischen Boden unter den Füßen verloren, weil sie die Gestalt als agitatorischen Vorwand statt als das dramatische Ziel betrachtet, das sie ist. So steht es um die jüngeren deutschen Dramatiker. Die älteren, soweit sie nicht enttäuscht oder verdrossen dem Theater fernbleiben oder sich dem Roman zugewendet haben, sind die kräftigsten nicht mehr und, wenn sie es sind, nicht imstande, die klaffenden Lücken allein zu füllen –: dem deutschen Dichterdrama geht es schlimm. Und dem ausländischen? In England: Shaw, Galsworthy (im Roman unvergleichlich fähiger), Sherriff (mit der „Anderen Seite“), Maugham mit einigen hintergründigen Gesellschaftsstücken. In Frankreich: Romains, Geraldy, Lenormand, Bernard, Bourdet, Savoir. In Italien: Pirandellos längst verblasener Ruhm. In Ungarn: das Theatergenie Molnar und schwache Nachahmer. In der Czechoslowakei: Frantisek Langer, Karel Capek. Davon nähren wir Deutschen uns in der Hauptsache. Wer also sagt: es werden zurzeit nicht genug wertvolle Stücke geschrieben, um das Schauspiel ausschließlich mit ihnen zu beleben, hat recht. Insoweit gilt mein: Ja. Aber das Nein, das ich vorhin zur Antwort gab, gilt insoweit, als diese unanzweifelbare Tatsache zur fragwürdigen Konsequenz verführt, das deutsche Theater sei dem Autor nicht mehr und nur noch dem Schauspieler verpflichtet! Wenngleich es in der Tat wenige neue Dramen und Dramatiker gibt, die der Mühe verlohnen: zunächst müßten einmal diese wenigen aufgeführt werden, was nicht immer geschieht. Und dann, meine Damen und Herren: sollte es außerdem nicht ein paar ältere geben, vor denen die Schlußfolgerung: Weil nicht genug Dichter wirken, muß Konjunkturschmarrn und Konfektionskitsch das Theater überschwemmen, haltlos wird? Unter anderen gibt es einen Dichter, dem die wildesten Zeitgeistschwärmer Mangel an Aktualität nicht werden nachsagen können. Er heißt Shakespeare. Man zähle die deutschen Bühnen, die den Timon von Athen, Coriolan, Caesar, Antonius und Cleopatra: lauter brennende Aktualitäten, im Spielplan haben. Es gibt aber auch einen Dichter namens Schiller: seine Aktualität (in jenem Frühjahr angezogenen Sinne) ist rasant. Ich wenigstens wüßte Weniges, was heutigen Menschen ihre eigene Sache spürbarer machte als der Carlos, der weltanschauungshaft eineinhalb Jahrhunderte vorwegnahm. Kann man sich eine dem Augenblick nähere und wesentlichere Auseinandersetzung denken, als die zwischen Posa und Philipp? (Herr Theodor Tagger, der auf den Namen Ferdinand Bruckner hört, entschuldige, daß sein Philipp diesen Vergleich nicht aushält!) Findet sich jenes erlösend und sozial betonte Wort „Mensch“, das zum eisernen Inventar der letzten Literaturepoche gehört, irgendwo überwältigender ausgesprochen als hier? Und Grillparzer, gänzlich unentdeckt für Deutschland, ja verkannt in Deutschland, beschämend unterschätzt: Sein „Bruderzwist“ vor allem, politisch-geistig zur letzten Gegenwart gewendet! Und Hebbel: für das Zeitalter der Individualpsychologie von einer phantastischen Modernität! Und Grabbe! Und Kleist! Aber, mag man sagen: das alles sind Stücke, sind Dichter, die jedes Kind kennt! Ich weiß nicht, meine Damen und Herren, ich habe nicht den Eindruck, daß jedes Kind die Ehre dieser Bekanntschaften hat. Jedes Großstadtkind wird Ihnen heute die bestakkreditierten Automobilmarken nennen, ja Ihnen aus entferntem Motorengeräusch prompt Bescheid sagen können, welche Automarke da vorüberfuhr. Ob es den Kindern mit Shakespeare, Schiller und anderen bestakkreditierten Marken eben so ergeht? Bei einer Carlos-Aufführung, die ich in Wien zu sehen bekam, lachte die Galeriejugend stürmisch, als Carlos sich ins Zimmer der Eboli verirrte: Die Sache war der Galeriejugend ganz neu, sie fand sie daher komisch. Man darf den Bekanntenkreis der jungen Generation nicht überschätzen. Manches fehlt darin. Hie und dar sogar die Bekanntschaft mit dem Geist. Aber diese Bekanntschaft ihr zu vermitteln, ja sie ihr lockend, so herrlich erlebnishaft zu gestalten, wie sie ist: dazu sind unter anderem die deutschen Theater da. Bildungstheater? Das Wort hat einen fatalen Präzeptorgeschmack und klingt nach Nachmittagsvorstellung zu ermäßigten Schülerpreisen. Trotzdem sind die Begriffe „Bildung“ und „Theater“ nicht so himmelweit verschieden, wie man heute glauben machen möchte, die Meinung, das Theater sei verpflichtet, nicht nur zu unterhalten, sondern auch zu lehren, nicht so hirnrissig und antiquiert, wie man sich heute in Direktionskanzleien anzustellen pflegt: Wenn man, wie ich, jenes Galerielachen über Don Carlos‘ Fehltritt noch im Ohre hat, kommt einem die Sache gar nicht so lustig vor.

             Aber doch Don Carlos! Habe ich mir da nicht selbst widersprochen? Also doch aufgeführt, was aufgeführt sein soll? Allerdings. Aber –: warum aufgeführt? Die Frage ist nicht unwichtig. Denn der Don Carlos war nicht aufgeführt worden, weil es der Don Carlos war … bewahre! Er war aufgeführt worden, um Bassermann Gelegenheit zum Philipp zu geben, zu einem prachtvollen Philipp, wie man weiß. Immerhin, dies war der Anlaß. Und dies und dergleichen ist der Anlaß, um heute Werke des dichterischen Welttheaters auf die Bühne zu bringen: nicht um der Werke willen tut man’s, sondern weil der Clavigo eine Moissi-Rolle, weil die Julia eine Bergner-Attraktion sein soll. Nicht, weil das Theater seine Verpflichtung zum Wert erkennt, durchbricht es die Unwertserien: es erniedrigt vielmehr den Wert zur schauspielerischen Gelegenheitsmacherei. Ob hiebei gute oder schlechte Vorstellungen zustandekommen, entscheidet nicht so sehr; entscheidend bleibt zunächst unser Punkt Eins: Die Unterwerfung des Theaters unter die Schauspielerherrschaft sogar dort, wo es sich um Ewigkeitswerte handelt. Jene grundlegende Aenderung der geistigen Theaterstruktur wird dadurch unverkennbar. Sie besteht in der ungeheuren und ungeheuerlichen Bagatellisierung des Inhalts des Aufgeführten. Was ist Bagatelle. Wichtig ist nur, daß „Was“ da ist, um schauspielerische Gelegenheit zu machen.

             Zu der Gelegenheitsmacherei für den Schauspieler tritt die für den Regisseur, die bei klassischen Reprisen am vernichtendsten bemerkbar wurde. Reinhardt, von den fehlgeratenen Großen-Schauspielhaus-Experimenten belehrt, hat für seine Person die Tollheit vermieden und seine geniale Regiekraft wieder ganz dem Schauspieler gewidmet. Er ist kein „Auffassungsregisseur“, kein Zeitgeisteinbläser, deshalb auch kein Werkvergewaltiger. Aber wie viele solche liefen herum! Ihr Stern ist im Verblassen, gottlob. Sie haben trotzdem Unheil genug gestiftet, nicht zuletzt dadurch, daß sie einer Generation, der man das Theater der Größe vorenthielt und die es daher kaum vom Hörensagen kannte, durch tolle Verstümmelungen und Verzerrungen die Meinung beibrachten, es sei so klein wie seine ungebetenen Erneuerer. Jene „Krise der klassischen Darstellungsform“, die Herbert Ihering in seiner Schrift „Reinhardt, Jeßner, Piscator oder Klassikertod?“ hervorhebt, ist nicht zuletzt dem Regisseurgrößenwahn zur Last zu schreiben. Unter dem Vorgeben, es sei in dem falschen Sinne zeitgemäß zu machen, von dem die Rede war, fühlte man sich befugt, dem klassischen Drama eine Form zu geben, welche die überkommene zertrümmerte, ohne die neue gefunden zu haben. Befugt aber fühlte sich die Unbefugten, und unbefugt sind da fast alle, die Ausnahmen bestätigten die Regel. Wenn etwa der Dichter Beer-Hofmann die „Iphigenie“ dramatisch kürzte und zusammenfaßte, wie er’s getan hat, dann war er dazu befugt, als Dichter trat er zu der Dichtung, fühlte sie nach, verehrte sie so sehr, daß er um der Dichtung willen sie neu belebten wollte und belebte. Wenn aber ein zünftiger Auffassungsregisseur, er sei der fixeste, desgleichen tut, dann tut er’s nicht um der Dichtung, sondern eben um der „Auffassung“ willen, die er angeblich hat und die er zeigen wollte: aus selbst Zweck also. Solche Selbstzweckregisseure, die ein Werk inszenieren, um sich dadurch in Szene zu setzen und nach Tragödienschluß im Namen Shakespeares zu danken, haben das epochale Theaterübel verbittert und verschärft. Von der Insolvenz abgesehen, die dazu gehört, daß jemand, der keine andere Legitimation als die der Eisenbahn hat, vor Shakespeare, vor Schiller als eingebildeter Retter mit dem Gedanken tritt: „Das Kind will ich schon schaukeln“, sind solche Schaukler weit davon entfernt, zu retten, und näher daran, zu morden! Lernt die Generation, wie es ihr zu Berlin in der Aera Jeßner erging, das klassische Drama (man erinnere sich an Wilhelm Tell !) aus Auffassungsregien kennen, dann enthält sie eine Vorstellung, deren geistige noch quälender als die szenische ist; von den Abendkassenschränkern der klassischen Hinterlassenschaft ganz zu schweigen, die den Hamlet in den Frack steckten und die Situation unhaltbar, weil sie sie lächerlich machten. Es war daher nicht unverschuldet, daß Jeßner auf seiner Treppe wirtschaftlich zu Falle, der ungleich stärkere Piscator auf dem laufenden Band um keinen Kunstschritt weiterkam. „Vom Ibsen zu Piscator“ betitelte Bernhard Diebold diese Entwicklung, der man kaum anders als durch den Untertitel „Weit gebracht!“ gerecht werden kann.

(Fortsetzung folgt.)

In: Neue Freie Presse, 22. Februar 1931, S. 1-4.

F. L.[orenz]: Dichter und Revolution. Ein Gespräch über entfesseltes Theater

Kürzlich sprach ich mit einem Dichter, der nach langjähriger Abwesenheit wieder nach Wien zurückgekehrt war und nun erschüttert vor der Ruine des Justizpalastes stand. Das Gespräch drehte sich um die Stellung des Dichters zur Revolution.

            „Was verstehen Sie unter Revolution?“ fragte der Dichter. „Wir, die wir schöpferisch arbeiten, die wir in anderem Sinn Nutznießer des Zeitgeistes sind als die Politiker, verstehen darunter schon jede Verzerrung des Straßenbildes. Das erscheint Ihnen sonderbar, überspannt? Sie meinen, daß Revolution für den Dichter erst dort beginne, wo eine Weltordnung im Wochenbett liegt? Wo aus dem Elend, der Angst Tausender von Menschen eine neue Idee entsteht? Sie irren, wir Dichter sind der Straße verhaftet, der Straße in ihrem unpolitischen Sinn, der Straße als der Summe des Unvermuteten, des Zufälligen, des Anregenden. Wir brauchen keine Haupt- und Staatsaktionen, im Gegenteil, wir scheuen sie. Was wir brauchen, sind die kleinen Winke, die uns die Straße gibt, eine schöne Frau, ein typisches Männerprofil, einen ungewöhnlichen Lichtreflex, den geheimnisvollen Chor aus Menschenstimmen, Tierlauten und Maschinengeräuschen, den krassen Wechsel der Stimmungen, der das Wesen der Städte bildet: hier Kaffeehaushalbdunkel, dort grelle Bogenlampe…“

            „Aber die Revolution?“ fragte ich.

            „Man möchte nicht glauben,“erwiderte mein Begleiter, „wie oberflächlich wir Dichter sind, wenn es Anregungen gibt. Darum scheint uns die Weltrevolution einem kleinen Straßenkrawall gleichwertig. Ueberlegen Sie doch: es handelt sich nur darum, was man sieht, was man miterlebt. Wenn wir uns einer Straße verschrieben haben, mit der wir leben, dann ist diese Straße die Welt und ihre Entfesselung die Weltrevolution. Ich habe auf meiner Reise durch die Länder viele Empörungen der Straße mitgemacht. Es waren oft nur kleine Zusammenstöße, die kaum die Lokalzeitungen beschäftigten. Mich aber erregten, schmerzten sie, als drohe die ganze Welt unterzugehen. Denn ich konzentrierte meine Liebe in diese Straßen, wie ein anderer eine Stadt, ein dritter etwa sein Vaterland liebt. Das müssen Sie festhalten, daß wir oberflächlich sind, wenn wir Stimmungen suchen. Der Kontakt mit der Welt, dem Zeitgeist findet sich später, unbewußt. Ich habe die Beobachtung gemacht, daß in dem Augenblick, da die Oberfläche der Zeit, der Straße revoltiert, mit einem Schlag die Quellen der Kunst versiegen, als sögen sie ihre Kraft aus eben dieser Oberfläche. Grotesker Zustand für einen Dichter, von dem Zufall eines Lohnkonflikts abhängig zu sein! Der Grund dafür: wir brauchen friedliche Entwicklung der Dinge und verabscheuen die billige Dramatik der entfesselten Straße.“

            „Dennoch gibt es Dichter, die gerade von der Revolution befruchtet werde?! Ich meine nicht die sozialen Dichter an sich, sondern die vor allem, die Revolution als wildbewegtes Drama fesselt.“

            „So wäre also mein Bekenntnis das „ecce homo“ des Bourgeois. So wären wir mit unseren Nerven, die kein Blut spüren können, ohne zu zucken, die dafür aber stark sind, wenn es gilt, unblutige Geheimnisse zu erleben, so wären wir mit unserem Sinne für Beschaulichkeit, für innere Sensation um Jahrzehnte zu spät geboren? Ich glaube es nicht. Bedenken Sie, daß alles Wilde, Unorganische den Spiegel der Zeit beschlägt, vor dem wir sitzen. Wir haben als Menschen nicht die Kraft zu so gewaltiger Objektivität, daß wir vor einer revolutionär aufflammenden Stadt daran denken könnten, daß hunderttausend andere Städte zur gleichen Stunde im tiefsten Frieden leben. Wir sehen nur das Nächstliegende und müssen es sehen, da wir mit tausend Fühlern nur aus unserer engsten Umgebung die Stimmung holen, die wir brauchen. Der Dichter ist, wenn ich mich so ausdrücken darf, Untersuchungshäftling seiner nächsten Umgebung. Und zwar ein Häftling, dem nicht einmal Selbstbeköstigung gestattet ist.“

            „Und ich dachte, daß gerade der Dichter in Zeiten der Konzeption zu größter Objektivität fähig sei. Wie vermöchte er sonst aus dem Zufälligen, das ihn umgibt, Allgemeingültiges zu holen? Und außerdem: ist die Revolution in diesem Jahrhundert wirklich bloß ein Zufall? Ist Rußland, sind die überall aufzuckenden Flammen revolutionären Geistes nicht der Beweis dafür, daß unsere Zeit im Zeichen der Umwälzungen, der Umwertung der Begriffe steht? Gibt es noch einen anderen Zeitgeist als den, den wir spüren, oder garantiert der Dichter, der seiner Zeit bekanntlich immer um ein Stück voraus ist, daß die Revolution keine Angelegenheit eines Jahrhunderts ist, sondern bloß Phase, Uebergang zu neuer Ordnung der Dinge auf überlieferter Ebene? Garantiert der Dichter mit den schwachen Nerven dafür, daß es niemals das geben wird, von dem Utopisten heute faseln, Kunst der Masse, revolutionäre Dichtung, Aesthetik des ganzen Volkes?“

            „Sie fragen mich etwas unerhört Wichtiges. Sie fragen mich nach dem Sinne unserer Zeit, wie man sich etwa bei einer Wahrsagerin nach der Zukunft erkundigen mag. Was soll ich Ihnen erwidern? Meine schwachen Nerven, die versagen, wenn die Straße revoltiert, wollen Sie als Argument nicht gelten lassen. Ist das, was wir erleben, eine Götterdämmerung der alten Kunstform, der unmittelbaren Kunst von Mensch zu Mensch, die aus inneren und nicht aus äußeren Stürmen entstand? Wird der Mensch als Persönlichkeit, von dem die Kunst bisher lebte, entwertet werden zugunsten der Masse als Inhalt des Kunstwerkes? Und mit dem Menschen auch sein Dichter? Ich glaube es nicht. Denn ich glaube nicht daran, daß der Mensch sein Herz, das große Geheimnis, um das sich alles dreht, einmal nicht mehr in seiner eigenen Brust wird schlagen hören, sondern in der Masse. Sie müssen an eine große Wahrheit denken. Jeder Mensch geht einmal nach Hause! Zu Hause, wo er sein eigenes Schicksal wieder vorfindet, wird er nicht mehr Gefahr laufen, sein eigenes Freud und Leid mit dem seiner Mitmenschen zu verwechseln. Revolution ist immer und überall ein Rausch. Ihm folgt die Ernüchterung, wenn man nach Hause kommt und statt der Barrikaden wieder sein Bett sieht. Es ist, wie wenn ein Theaterpublikum plötzlich die Bühne stürmen will, um selbst Komödie zu spielen, dann aber einsieht, daß dazu doch etwas mehr gehört als bloße Begeisterung. Zwar, die Politik, die aus Diplomatenintrigen längst eine Monstertheatervorstellung für das Volk geworden ist, erzieht die Menschen dazu, lieber Akteure zu sein, als Zuschauer. Und da haben sie das tiefste Wesen der Krise der Theater: Der Mensch in seiner Eitelkeit ist lieber der letzte Statist auf der Bühne der Zeit Als der erste Zuschauer im Parkett eines Theaters. Aber das ist nicht weiter schlimm. Wenn die Menschen nach Hause kommen, unterscheiden sie wieder genau zwischen politischer Theatervorstellung und Kunst. Denn sie hören ihr Herz wieder schlagen und fühlen, daß das Geheimnis des wirklichen Dramas – Furcht und Mitleid, sagt Aristoteles – nicht dem gelegentlichen Schauspieler sich enthüllt, sondern dem Zuschauer. Und darum glaube ich als Dichter zwar an geistige Revolutionen, nicht aber an die metaphysische Bedeutung von Straßenkämpfen, die die Oberfläche des Spiegels trüben, durch den wir in die Tiefen des Menschen schauen.

In: Neues Wiener Journal, Nr. 12140, 11. September 1927, S. 19-20.

Paul Wertheimer: Zement. Roman von Feodor Gladkow.

Aus dem Russischen übertragen von Olga Halpern. 11. bis 18. Tausend. Verlag für Literatur und Politik, Berlin-Wien

Ein flammendes Buch, eine flammende Beichte. Eines der seltenen Bücher von heute, die, nicht in der Schreibstube, sondern aus glühender Wirklichkeit geboren, uns wie mit glühenden Armen umpressen. Gladkow – man wird diesen Namen als eines der stärksten, jüngeren wortbildnerischen Talente Rußlands merken müssen – hat die russische Revolution aus der Nähe gesehen. Was er sah, steigt hier in vorüberflackernden, oft in das Ekstatische gesteigerten, expressionistischen, aber doch unendlich einprägsamen Visionen vor dem erstaunt-erschütterten, oft abgestoßenen, aber immer wieder mit harter Faust zum Interesse gezwungenen Leser auf. Ein Zeitdokument von authentischer Echtheit und, weil Gladkow nicht ein Schreier, sondern ein Bildner im Streit ist, ein künstlerisches Werk von nicht gewöhnlicher Bedeutung. Eines der wenigen, die wir einstweilen aus diesen chaotischen Tagen, dieser chaotischen Welt besitzen. Weil es den repräsentativ modernen Roman des Rußland von heute oder von gestern bedeuten soll, ist es ein Roman der Masse und der Maschinen und des maschinell gewordenen Menschen. Aber dennoch ist es kein konstruktives, maschinelles Gebilde. Vielmehr sind in diesem großen, zeitreflektorischen Roman nach einem Wort Heines die Maschinen, die Daimler Motoren etwa, wie Menschen. Und die Menschen, kommunistische Arbeiter, zwischen denen ein westeuropäisch gesinnter Ingenieur sich mühsam behauptet, sind nicht Maschinen, sondern, trotz ihres programmatischen Lebens von Leidenschaften, nicht motorisch, sondern gewaltsam durch ihr Blut vorwärts getrieben. Ungezählte Figuren in schärfster Kontur, wie auf den Zeichnungen Krinskis, Kustodjews und Annenkows, der Graphiker dieses Bolschewismus. Die „Masse Mensch“, gebändigt von der Hand eines starken, nie im Parteiwortschaum verlorenen, durch sein sicheres Gefühl für das Bildnerische geleiteten Künstlers. Hat dieses seltsam aufwühlende Werk, was man früher Handlung nannte, die Geschlossenheit eines aufwärts steigenden Geschehens? Keineswegs. Es hat nur Figuren und Atmosphäre der Zeit, — eine Atmosphäre von Schweiß und Blut — tausend drohende, schwielige Arme, gestraffte Muskeln heben sich gegen den Betrachter wie auf manchen Plakaten. Diese Menschen, dumpf, trieb- und tierhaft, russische Menschen der Arbeit, nicht, wie bei Dostojewski und Gorki, des Sinnierens, Gott- und Sich-selbst Suchens. Sie gruppieren sich um den aus Kämpfen der Roten Armee siegreich in sein Städtchen und seinen Betrieb heimgekehrten Werkmeister Gleb. Er will das große, durch die Planlosigkeit der als Organisatoren versagenden Führer zum Stillstand gebrachte Werk wieder in Gang bringen, die Schlote blau wie Gaszylinder sehen, das Herz, nach dessen Pochen er sich – die russische Romantik des Maschinellen – sehnt, wieder vernehmen. Wie ihm dies zuletzt gelingt, trotz des Widerstandes der kommunistischen Bureaukratie, die Gladkow mit ingrimmiger Laune schildert: dies ist der ganze Roman. Er kling in einen Päan der Arbeit aus. Dieser Ton ist der russisch-zeitdokumentarische. Aber Gladkows Werk birgt einen gewichtig menschlich-künstlerischen. Es sind Episoden in diesem Buche, die man nicht vergißt: Das Sterben des Töchterchens Glebs Njurka, das, fremder Obhut überlassen, weil Dascha, die Mutter, sich der Parteipropaganda hingegeben, buchstäblich an mangelnder Liebe verhungert. Es sind Figuren, die sich wie aus dem ›Germinal‹ einprägen, wie der Vorsteher-Genosse Badjin mit dem metallenen, harten Gesicht. Es gibt hier Gesichte des Schreckens, Szenen aus den Kämpfen zwischen den ›Roten‹, ›Weißen‹ und ›Grünen‹, Schilderungen des entfesselten Trieblebens wieder von Zolascher Wucht, so abschreckend sie auch, vielleicht gegen die Intention des Dichters wirken mögen. Die Landschaftsbilder, Stimmungen der russischen Haide, der weißen Kalkfelsen, des Sommers, der Sonntagmorgen, aufblühend zwischen Blut und Grauen – ein Dichter hat sie mit solcher Zartheit gefühlt. Kein Zweifel: der Sturm, der über dieses, uns noch immer halb sagenhafte Land getobt, ist hier nicht zu einem Säuseln abgedämpft, doch es sind auch leisere Stimmen darin, die seinen Schrecken mildern.

In: NFP, 10.6.1928, S. 28.

Ernst Fischer: Der Neger Jonny und das freiheitliche Wien

            Seit Silvester hat Wien sein großes Ereignis. Eine neue Oper „Jonny spielt auf“ von Ernst K r e n e k hat die Gemüter erhitzt und das träge, vom Beharrungsvermögen niedergehaltene, gegen alles Neue voreingenommene Wiener Publikum aufgerüttelt. Umso erfreulicher, daß dies einem bescheidenen, blonden, kaum 28jährigen jungen Mann gelang, der ohne große Phrasen, ohne leeren Schwulst, ohne blutleeres Pathos frisch und frei drauflos komponiert. Er will keine Ewigkeitswerte schaffen und schon gar nicht mit  Ewigkeitswerken in Wettbewerb treten. Er hat einfach gedichtet und gesungen, wie es ihm ums Herz war, ja wie es in unserer von Benzingestank geschwängerten Luft liegt. Er umgibt sich mit keinem falschen Heiligenschein, er gestaltet die Tonwelt als Abbild einer entgötterten äußeren Welt und er hat den Mut, den Jazz opernfähig zu machen, wie vormals Mozart das Menuett oder Richard Strauß den Walzer. Da er genau weiß, was er will, fürchtet er weder Tod noch Teufel und sein Jazz wird förmlich zu einer Apotheose jener rhythmischen Urkraft, die unserem Maschinenzeitalter die Welt beherrscht.

            Sein „Jonny“ hat, wie vorher schon an Dutzenden anderen Bühnen, nun auch an der Wiener Staatsoper aufgespielt und der Neger hat es auch den Wienern angetan. Das Geheimnis seines Erfolges ist die Einfachheit, die Wahrhaftigkeit des Ausdrucks, die moderne schlanke Linie im Orchester, die Selbstverständlichkeit, mit welcher Kreneks Tonsprache in der unmittelbaren Gegenwart lebt und sich an die breitesten Schichten des Publikums wendet. In seinem leichtbeschwingten Spiel mischen sich ernste mit heiteren Episoden, es will nach dem Rezept des alten Theaterdichters Goethe vielerlei und jedem etwas bringen. Ohne jede Dogmatik, ohne alle Moralpauken vollzieht sich hier die Annäherung des alten, in der Ideologie seiner Kunst erstickenden Europa an das von künstlerischer Vergangenheit unbeschwerte, im raschesten Jazztempo dahinstürmende Amerika. Der schwarze, skrupellose Jonny, der Geiger und Banjospieler, Posaunist und Saxophonbläser, gewinnt mit allen Mitteln der List und Gewalt die kostbare alte Geige des künstlerisch entarteten {sic!} Danielo, der von den Rädern der Lokomotive zermalmt wird. Siegreich schwingt sich Jonny auf die Bahnhofsuhr, welche sich zur Weltkugel weitet, auf der Jonny auf der alten Geige der ganzen Welt im Jazzrhythmus aufspielt. Er ist stärker als der lüsterne Danielo, stärker als der schwerfällige romantische Tondichter Max, der hochanständige, dem Leben nicht gewachsene Schwächling, der die geräuschvolle Wirklichkeit fürchtet und sich in die Einsamkeit des Gletschers verbirgt. Aber das rasche Leben stürmt vor unseren Augen und Ohren unerbittlich weiter, jenseits von Pathos, Empfindsamkeit und Moral, mit allen seinen Lastern und Leidenschaften, mit Eisenbahn und Auto, Film, Lautsprechern, Detektiv,  falschem Chauffeur und boxenden Polizisten, mit dem täglichen und nächtlichen unromantischen Treiben auf dem Hotelkorridor, mit Tötung und Einbruch, mit Blues, Saxophon und Charleston.

            In all diesen bunten Bildern, die filmartig rasch vorüberziehen, vermag uns Krenek mit dem Urinstinkt des Theatermenschen im D-Zugstempo unserer Zeit auf der Opernbühne aufzuspielen, ein gegenwartsfroher Wirklichkeitsmensch, der, ohne nach rechts oder links zu schielen, ohne in Symbolen und Problemen dick aufzutragen, der Oper von heute etwas gibt, was sie längst suchte und nicht fand. Sein ungekünstelter „Jonny“ ist für die Opernbühne unserer problemfeindlichen Zeit förmlich ein Ei des Kolumbus!

            „Jonnys“  naiver Realismus, seine Ehrlichkeit und Unbefangenheit haben in Wien wie anderwärts Publikum und Kritik im Sturm erobert. Jede Aufführung ist trotz phantastisch hoher Preise ausverkauft und vor dem Wunder dieses Publikumserfolgs verblassen alle „Wunder der Heliane“.1

            Ein Blatt freilich schrie Zeter und Mordio über die Unsittlichkeit und über den Dilettantismus  der Negeroper: Die „Neue Freie Presse“, unfehlbar wie stets tat dem „Jonny“ die Ehre an, ihn mit den gleichen überheblichen Phrasen in Acht und Bann zu tun, mit dem sie vormals Wagner und Brunner, Richard Strauß und Neger belegt hatte. So wenig es jenen geschadet hat, so sehr mag es Krenek ehren, wenn die „Neue Freie Presse“ jede schwache Operette und jede schwächere Revue höher stellt und reinlicher, // kurzweiliger und zeitgemäßer findet als den „Jonny“. Mit der einmaligen Abschlachtung des „Jonny“ gab sich aber die Sittenrichterin nicht zufrieden; das „Weltblatt“ verlor den letzten Rest von Haltung und ließ wenige Tage nachher einen von Sittlichkeit und Kulturidealen triefenden Leitartikel los2, der förmlich zur Absetzung des „Jonny“, der „Ouvertüre zur Entweihung des Hauses“ aufforderte. Das Weltblatt, einst der Vorkämpfer für Freiheit und Fortschritt, kämpft da in schimmernder Wehr für das Deutschtum und der Menschheit Würde – welche durch Kreneks Oper bedroht werden! – Schulter an Schulter mit dem Wiener Hakenkreuzlerblatt, welches von einer „Entweihung des ältesten deutschen Opernbühne“ durch den „Jonny“ sprach. „Schluß machen mit der unerhörten Schande!“ rief empört das deutsche Bruderblatt aus. Schon munkelte man von einer lauten Demonstration der sittlich unentwegt Entrüsteten gegen die weiteren Aufführungen des „Jonny“ und die Polizei im Opernhause wurde vervierfacht. Aber das angesagte Revolutiönchen blieb aus und die Aufführung verlief friedlich unter dem einmütigen Beifall des ausverkauften Hauses.

            Der Musikkritiker Julius Korngold wird dem Rad der Zeit nicht in die Speichen greifen, es dreht sich weiter, unbekümmert um Korngolds wichtige, oberstrichterliche Meinung. Ernst Krenek ist übrigens dem unfehlbaren Kritiker die Antwort nicht schuldig geblieben. Er bezeichnete ihn – gelegentlich eines Vortrages über seinen „Jonny“ – unter lebhaftem Beifall seiner Zuhörer als einen älteren, gereizten Herrn, dessen Einstellung ja ohnedies zur Genüge bekannt ist.3 Ebenso bekannt ist längst die Einstellung der „Neuen Freien Presse“, ihr Geist, der stets verneint und sich gegen alles Neue und Freie wendet. Gleichwohl soll es festgenagelt werden, dass sie es nicht verschmähte, ihr schwerstes Geschütz, ihren Leitartikel, gegen eine harmlose Oper in Bewegung zu setzen. Die geöltesten Phrasen von Sittlichkeit und Kunstschönheit werden da aufgetischt, der arme „Jonny“ wird ein {recte: in} einem Zerrspiegel gezeigt, in dem er sich selbst nicht mehr erkennen mag. Alle Bonzen der hohen, strengen Kunst von Lessing und Herder bis zu dem vormals in den gleichen Feuilletonspalten verunglimpften Richard Strauß werden heraufbeschworen, ja sogar das Schubertjahr muß herhalten und der tote Schubert wird gegen den lebenden Krenek ausgespielt. Dies alles, um ein das Antlitz seiner Zeit tragendes, zugkräftiges, aber dem „Weltbaltt“ und seinen Hintermännern unbequemes Theaterstück aus dem Opernspielplan herauszubeißen. Alles vergebens! Das „Weltblatt“ hat seinen wohlvorbereiteten Feldzug gegen Krenek verloren. Er war die beste Reklame für dessen „Jonny“, welcher der „Neuen Freien Presse“ wohl noch lange in der Staatsoper aufspielen wird.

Wien im Jänner.                                                                                            e. f.

In: Arbeiterwille, Graz, 14.1.1928, S. 3-4.


  1. Oper von Erich Wolfgang Korngold, die 1927 am Stadttheater Hamburg uraufgeführt wurde und 1928 im Operntheater Wien am Programm stand. Das Libretto stammt von Hans Müller-Einigen nach dem Drama Die Heilige von Hans Kaltnecker. Die Aufführungen, auch in neuerer Zeit, wurden eher reserviert bzw. kontrovers aufgenommen und diskutiert. Vgl. z.B. die ablehnende Kritik zur britischen UA 2007 in der Royal Festival Hall: http://www.telegraph.co.uk/culture/music/opera/3669482/Das-Wunder-der-Heliane-Operas-biggest-load-of-codswallop-rises-from-the-grave.html  während jene zur Brünner 2012 Aufführung deutlich positiver ausfiel: http://www.der-neue-merker.eu/brunn-das-wunder-der-heliane-von-korngold-derniere. (Aufgerufen am 22.8. 2014)
  2. Bezieht sich auf den Leitartikel Das Ende des Opernrummels in der NFP vom 6.1.1928; siehe: http://anno.onb.ac.at/cgi-content/anno?aid=nfp&datum=19280106&seite=1&zoom=33
  3. Gemeint ist der Vortrag Kreneks im Kulturbund

Egon E. Kisch m.p.: Eine Erklärung der roten Garde

Das Kommando der Volkswehrabteilung Stiftskaserne ersucht uns um Aufnahme folgender Zeilen: Die Volkswehrabteilung Stiftskaserne (Rote Garde) ist zu der gestrigen Manifestation mit zwei Bataillonen ausgerückt, um bei der Proklamierung der Republik anwesend zu sein und dem Arbeiterzuge Spalier zu stehen. Die beiden Bataillone wurden im Beisein der Staatsräte Domes und Max W i n t e r aus der der Stiftskaserne abgefertigt. Oberleutnant Kisch und Abg. Domes hielten an die Wehrmänner Ansprachen, die von der Mannschaft mit dem Gelöbnis aufgenommen wurden, unter allen Umständen Ruhe und Disziplin zu bewahren und sich auf keine Weise provozieren zu lassen. Die abmarschierenden Abteilungen erhielten w e d e r  M u n i t i o n noch M a sch i n e n g e w e h r e, die Gewehre ergaben bei der Visitierung, daß sie keine Patronen enthielten. Die Kolonne marschierte in Totenstille, auf keine Ovationen reagierend, zum Parlament, wo sie – Front zur Minervasäule – am Straßenbahngeleise Aufstellung nahm. Hier enthielt sich die Volkswehrabteilung gleichfalls jeden Zurufes; auch als die rot-weiß-roten Flaggentücher aufgezogen wurden und als es beim Schwenken von schwarz-rot-goldenen Fahnen zu Zusammenstößen kam, hielten die Rotgardisten stumm und entschlossen Spalier. Wiederholt vorgebrachte Bitten von zwei bis vier Mann, um inoffiziellen Rednern den Weg zu bahnen, wurden rundweg verweigert. Als nach den ersten aus dem Parlament abgegebenen Schüssen [?] Tumultszenen begannen, sammelte der Kommandant die Rote Garde und sie marschierte im geschlossenen Zuge durch die Stadiongasse über die Lastenstraße zur Stiftskaserne, wo man hinter sich die Tore schloß. Zwei Kompagnien, gemischt mit Volkswehrleuten anderer Kasernen, besetzten das Parlament, um sicherzustellen, wer die Schüsse abgegeben habe. Der dieses Halbbataillon kommandierende Oberleutnant Waller und zwei Infanteristen sprachen beim Präsidenten Seitz vor und stellten im Einvernehmen mit ihm die Ordnung auf Rampe und Straße wieder her. Naturgemäß war es in der ungeheuren Verwirrung nicht möglich, daß alle Rotgardisten sich bei der Formierung um ihren Kommandanten zu sammeln vermochten. Es ist daher keineswegs ausgeschlossen, daß sich Soldaten von der Erregung der Massen zu einer selbständigen Handlung oder zum Gebrauch der Feuerwaffe hinreißen ließen. Wenn dies aber – was die den am Abend in der Stiftskaserne aufgenommenen Protokollen n i c h t  sichergestellt werden konnte – geschehen sein soll, so könnte dies bloß entgegen den erhaltenen Weisungen, ohne jeglichen Befehl und ohne Wissen der gewählten Führer geschehen sein.  

In: Fremdenblatt, 13.11.1918, S. 5.

David Josef Bach: Die Dreigroschenoper im Raimundtheater

Kommentiert von Julia Danielczyk und Johannes A. Löcker.

Das Raimundtheater1 ist gestern der Schauplatz eines theatergeschichtlichen und musikhistorischen Ereignisses gewesen. Daß uns Berlin darin vorangegangen ist, wird man, wie die Dinge liegen, wohl schon als selbstverständlich empfinden; aber wir wollen froh sein, daß die „Dreigroschenoper“ nun doch auch nach Wien gekommen ist. Dieses Werk ist es, mit dem nach mannigfachen Vorbereitungen und Experimenten ein neues Kapitel in der Geschichte des Theaters anhebt.

Es mag musikalisch wie dichterisch anspruchsvollere Werke geben, pomphaftere, tiefsinnigere, von dem Unverständnis der Gegenwart in das Verständnis der Zukunft sich flüchtende Werke; aber keines, das so entschlossen wie die „Dreigroschenoper“ sich an die Bedürfnisse der Gegenwart wendet und bei allem Bruch mit der Vergangenheit, bei aller Verwurzelung in der Gegenwart, Neues, Zukünftiges aufbaut. Die Zukunft der Oper als Kunstform ist fraglich geworden. […]

Die „Dreigroschenoper“ erklärt sich selbst mit eigenen Worten: „Sie werden heute Abend eine Oper für Bettler sehen. Weil diese Oper so prunkvoll gedacht war, wie nur Bettler sie erträumen, und weil sie doch so billig sein sollte, daß Bettler sie bezahlen können, heißt sie „Die Dreigroschenoper“.“ […] Die „Dreigroschenoper“ nun stellt das Singspiel unserer Zeit dar. Das Lumpenproletarische, in dem sich seine Handlung bewegt, ist nichts als eine Möglichkeit, sich den Problemen unserer Zeit, den Tatsachen des sozialen Lebens zuzuwenden. Daß solche Stücke geschrieben werden, in Dichtung und Musik, beweist, daß die Künstler der neuen Generation, ganz gleichgültig, ob sie politisch denken, sich den sozialen Problemen nähern, die unsere Zeit erfüllen, sich mit ihnen auf irgendeine Art abfinden müssen. […] auf der Bühne ist keine armselige Wirklichkeit vorgetäuscht, sondern die Wahrheit der Empfindungen, die sich aus einem bestimmten Milieu ergeben, im Guten wie im Bösen, in der Liebe wie in ihrer Käuflichkeit, im Heldenhaften einer Räuberromantik , im Bewußtsein des Unrechts, das an den armen Leuten geübt wird und das sie mit Ungesetzlichkeit vergelten, in dem Bewußtsein ihrer Unterwerfung unter das Gesetz der Reichen und Mächtigen , dem sie ausgesetzt sind, und in ihrer kindlichen Hoffnung auf ein glückliches Ende: „Damit das Publikum sehe, daß wenigstens in der Oper Gnade vor Recht gehe“, heißt es am Schluß. Und so kommt mit der unwahrscheinlichsten und darum doch nicht weniger erwarteten Gnade ein nicht minder unwahrscheinliches, künstlerisch aber sehr begründetes Opernfinale.

Die Handlung so geführt, daß sie jedesmal im rechten Augenblick in Musik mündet. Schon durch diese Form ist der Widerspruch zwischen Text und Musik beseitigt, der dem Opernstil so leicht anhaftet. Ueberdies entspricht auch die Musik, für sich allein betrachtet, den Bedürfnissen einer neuen Zeit. Keineswegs etwa im Aestethischen oder nur in diesem. Der Komponist Kurt Weill2 ist schon mit mehreren modernen Orchesterwerken und mehreren kleineren Opern hervorgetreten, die man, fast selbstverständlich, in Wien gar nicht kennt. Aber in der „Dreigroschenoper“ sind die Ergebnisse moderner Kompositionsweise geradezu popularisiert. Diese soziale Musik, die sich der rhythmischen Formen und der instrumentalen Möglichkeiten der Jazzmusik bedient, wird von jedermann verstanden werden und die Schlager dieser „Dreigroschenoper“ werden bald und ebenso gesungen und gespielt werden wie so viele Nummern aus Operetten und Revuen. Die „Dreigroschenoper“ ist kein Ersatz dafür; sie bringt nicht einen neuen Operettenstil, sondern sie bringt die Möglichkeit eines neuen musikalischen Stiles für Theaterzwecke. Sie wendet sich an ein Publikum, dem die große Oper bisher aus wirtschaftlichen Gründen ebenso verschollen war wie aus den Gründen, die im Ursprung dieser höfischen Kunst liegen. Wenn das Publikum nicht in die Oper geht, ins musikalische Theater kann es gehen. Die „Dreigroschenoper“ sprengt ein Tor und verschafft jedermann Zugang zu neuer Musik. An ihr werden sich viele Tausende erfreuen, ohne lange darüber nachzudenken, wodurch sich diese Musik von andrer unterscheidet. Sie werden ihre lebendige Frische, ihre echte, unserer Zeit entsprechende Volkstümlichkeit empfinden und sich ihr gerne hingeben.

Durch die Aufführung der „Dreigroschenoper“ im Raimund-Theater ist Direktor Beer3 zu seinen ersten ruhmreichen Bestrebungen, das Neue zu bringen, die er später gelegentlich immer wieder erneuerte, mit Begeisterung und Erfolg zurückgekehrt. Die von Karlheinz Martin4 geleitete Aufführung ist der Wichtigkeit des theatergeschichtlichen Ereignisses würdig. Alfred Kunz5 hat die Bühnenbilder so entworfen, daß sie den Erfordernissen des Werkes selbst und den Einfällen des Regisseurs vollkommen entsprechen. Unter den Darstellern steht Harald Paulsen6 als Räuberheld obenan. Er ist nicht nur Tänzer und Sänger, er ist ein bedeutender Darsteller wie unter anderem seine Szene im Käfig, vor der Hinrichtung beweist. […] Der Erfolg wird noch steigen, wenn die richtigen Leute das Haus füllen, die Jedermann.

In: Arbeiter-Zeitung, 10.3.1929, S. 5-6.


  1. Das Raimundtheater (Wallgasse 18–20, 1060 Wien) wurde am 28. 11. 1893 eröffnet. Es war der erste Theaterneubau nach der Stadterweiterung im Jahr 1890. Adam Müller-Guttenbrunn leitete die Bühne von 1893–1896, Ernst Gettke führte sie von 1896–1907, Siegmund Lautenburg und Karl Rosenbaum im Jahr 1907, es folgten Wilhelm Karczag und Karl Wallner bis 1920. Im Herbst 1921 hatte das Haus einen neuen Pächter und Direktor: Rudolf Beer. Er machte aus dem Operettentheater eine renommierte literarische Bühne. Sein Konzept beinhaltete drei Schwerpunkte: zeitgenössische Literatur, moderne Klassik und Unterhaltungsstücke. Ab 1924 leitete Beer sowohl das Raimundtheater als auch das Deutsche Volkstheater. Dies eröffnete Möglichkeiten alternativer Programmgestaltung und Austausch des Ensembles. 1926 trat Hubert Marischka der Direktion Beer bei. Das zwischenzeitliche Engagement von Ferdinand Exl (Leiter und Besitzer der Exl-Bühne in Innsbruck) als künstlerischer Leiter erwies sich als Fehlschlag, da sein bäuerlich-volkstümliches Programm vom Wiener Publikum eher im Sommer angenommen wurde. 

    Als eines der bedeutendsten Ereignisse unter der Direktion von Beer gilt die österreichische Erstaufführung von Bertolt Brechts „Die Dreigroschenoper“. Harald Paulsen war als Macheath (Mackie Messer), Kurt von Lessen als Peachum, Julius Brandt als Tiger Brown, Pepi Kramer-Glöcker als Frau Peachum, Barbara Hohenberg als Polly, Elisabeth Markus als Lucy, Thea Braun-Fernwald als Seeräuber Jenny sowie Alexander Marich, Karl Ehmann und Karl Skraup als Bandenmitglieder zu sehen. Für das Bühnenbild sorgte Alfred Kunz, das Jazzorchester leitete Norbert Gingold, für die Regie verantwortlich zeichnete Karl Heinz Martin.

    „Die Dreigroschenoper“ wurde von der Presse mit Hugo von Hofmannsthals „Jedermann“ verglichen, das 1920 bei den Salzburger Festspielen seine österreichische Erstaufführung (UA 1911 in Berlin) erlebte. Die „Probleme des Daseins“, wie Felix Salten schreibt, sind in keinen anderen Stücken so gut angesprochen wie in „Jedermann“ und der „Dreigroschenoper“. Im „Berliner Börsenkurier“ heißt es anlässlich der österreichischen Erstaufführung: „Die Triebe, von denen die Figuren bewegt werden, sind so zeitlos menschlich wie etwa das Leben und Sterben des ‚reichen Mannes‘ in Hofmannsthals ‚Jedermann‘. Beer hat mit dieser Aufführung seine Position und die seines Theaters weitgehend gefestigt.“ Felix Salten rezensierte in der „Neuen Freien Presse“ am 10. März 1929: „Man hat ein Werk vor sich, das von Tradition und alter Herkunft getragen wird, das mit Menschlichem und Allzumenschlichem anspricht, das nach Heute und Morgen riecht, das von Talent und Jugend umwittert ist. Dieses Werk den Wienern in einer so guten Aufführung gezeigt zu haben, war jedenfalls Pflicht, war vielleicht sogar ein Wagnis, aber es bleibt unter allen Umständen ein Verdienst“.

  2. Kurt Weill (* 2.3.1900 Dessau – 3.4.1950 New York). 1927 begann die Zusammenarbeit mit Bertolt Brecht, 1928 verfassten sie zusammen „Die Dreigroschenoper“. Sein ab 1927 entwickelter sogenannter „Songstil“ prägte „Die Dreigroschenoper“.
  3. Rudolf Beer (*21.8.1885 Graz – + 9.5.1938 Wien). Beer war Schauspieler, Regisseur und Theaterdirektor. Er leitete 1918–21 das Brünner Stadttheater, 1921–24 pachtete er das Raimundtheater und 1924–32 das Deutsche Volkstheater in Wien. Unter Rudolf Beer war das Volkstheater mit dem Raimundtheater fusioniert, der Spielplan war stark an den Berliner Bühnen orientiert. Zu Beers wichtigsten Regisseuren zählte Karl Heinz Martin. Beer lud viele Ensembles zu Gastspielen ein, darunter das Moskauer Kammertheater unter Alexander Tairoff oder Stars mit eigenen Ensembles wie Fritz Kortner oder Paul Wegener. Beer förderte moderne, progressive Literatur, besonders Luigi Pirandello, von dem 1926 „Heinrich IV.“ mit Alexander Moissi gespielt wurde. Moissi spielte auch den Hamlet im Frack in einer zeitgenössische Shakespeare-Deutung, einem der seltenen Klassiker in der Direktion Beer. 1929 verkörperte Moissi hier seinen legendäre Jedermann, den er bei den Salzburger Festspielen unter Max Reinhardt dargestellt hatte. Dramaturg an Beers Haus war der Autor Franz Theodor Csokor. Ab 1931 war am Volkstheater auch eine Schauspielschule angegliedert, Karl Paryla und Paula Wessely, die dem Ensemble einige Jahre angehörte (Wendla in Wedekinds „Frühlings Erwachen“, 1928) studierten hier. Karl Heinz Martin inszenierte 1929 Bertolt Brechts „Die Dreigroschenoper“ mit großem Erfolg, 1930 Molnárs „Liliom“ in einer Berliner Fassung. Eine Sensation war das Auftreten Emil Jannings in Gerhart HauptmannsDer Biberpelz“ (1930) und „Fuhrmann Henschel“ (1931). 1932 wurde Beer kurzfristig als Nachfolger Max Reinhardts ans Deutsche Theater Berlin berufen, seine Tätigkeit fand aber infolge der Machtergreifung Hitlers schon 1933 ihr Ende und er kehrte nach Wien zurück. 1932 erhielt er den Berufstitel Professor. 1933–38 leitete Beer das Theater „Scala“ in Wien. In dieser Zeit war er auch Präsident des Verbandes österreichischer Theaterdirektoren. 1938 wurde Beer nach dem ‚Anschluss’ Österreichs während einer Vorstellung von CalderónsDer Richter von Zalamea“ vom NS-Betriebszellenleiter Erik Frey gemeinsam mit Robert Valberg aus einer Loge gezerrt und schwer misshandelt. Beer nahm sich am 9. Mai 1938 das Leben. Der Regisseur und Direktor des Theaters in der Josefstadt (im Zeitraum 1935–1938) Ernst Lothar (1890–1974) sagte über Rudolf Beer: „Beer ist an keiner Sensation vorbeigegangen, er hat Hamlet in den Smoking und sich selbst den Respekt von hohen Stil an den Hut gesteckt; aber sein Theater war lebendig, hatte Ehrgeiz und Mut.“
  4. Karl Heinz Martin (*6.5.1888 Freiburg im Breisgau – + 13.1.1948 Berlin). Karl Heinz Martin war Regisseur und Theaterleiter. Martin debütierte 1904/05 in Kassel, wechselte dann nach Hannover und Mannheim , wurde 1910/11 Direktor des Komödienhauses in Frankfurt am Main, 1912/13 Oberspielleiter der dortigen Städtischen Bühnen, 1917–1919 war er Oberspielleiter des Thalia-Theaters in Hamburg. 1919 gründete Martin zusammen mit Rudolf Leonhardt in Berlin das erste deklariert proletarische Theater „Die Tribüne“ (wo er die Uraufführung von Ernst Tollers „Die Wandlung“ mit Fritz Kortner übernahm). 1920–22 war er Regisseur an den Reinhardt-Bühnen in Berlin. Martin wurde in den 1920er Jahren als Regisseur expressionistischer Stücke bekannt, er brachte – ähnlich wie Erwin Piscator – Massen auf die Bühne und förderte progressive Dramatik. 1923 gründete er zusammen mit Heinrich George das Berliner Schauspieler-Theater, ab diesem Zeitpunkt inszenierte Martin in Breslau, Salzburg, an verschiedenen Berliner Bühnen sowie am Raimundtheater in Wien, wo er für die Regie von Arnolt Bronnens „Anarchie in Sillian“ (1924) von Frank Wedekinds „Franziska“ (1924) sowie Bertolt Brechts „Die Dreigroschenoper“ (1929) verantwortlich zeichnete. 1929–1932 war Martin Leiter der Berliner Volksbühne, Ende 1932 wurde er zusammen mit Rudolf Beer als Nachfolger zum Direktor seiner Bühnen ernannt. Nach Gastinszenierungen in Wien 1933/34 war Martin vor allem als Filmregisseur tätig, da er als Theaterregisseur Berufsverbot hatte. Ab 1940 konnte er dank befreundeter Intendanten einige Gastinszenierungen gestalten, etwa an den Münchner Kammerspielen Grabbes „Hannibal“ (1940) und Laubes „Die Karlsschüler“ (1941). Am 15. August 1945 eröffnete er das Berliner Hebbel-Theater (dessen Intendant er bis zu seinem Tod bleib) mit Brechts „Die Dreigroschenoper“ wieder und brachte zahlreiche Uraufführungen heraus. Mit seiner Inszenierung von Gorkis „Nachtasyl“, Molnárs „Liliom“ (mit Hans Albers) sowie durch Gastregisseure wie Jürgen Fehling (Sartres „Die Fliegen“) machte er das Hebbel-Theater zu einer der lebendigsten Berliner Bühnen. Wolfgang Langhoff sagte 1948 über Karl Heinz Martin : „Er wußte, daß die Umschichtung und Umerziehung des Publikums die Aufgabe des Theaters von heute ist, und so wurde er nach dem ersten Weltkrieg ein Mann der Volksbühne, ein Mann des Fortschritts, ein rastloser und suchender Regisseur neuer Stücke, neuer dichter, die mit ihrer Zeit verbunden waren. Diese Seite seines Wirkens ist die größte und ihr muß dauernder Wert zugesprochen werden.“
  5. Alfred Kunz (*26.6.1894 Wien –  2.8.1961 Wien). Kunz war Kostüm- und Bühnenbildner. Ab 1918 wirkte er als freischaffender Architekt, ab 1922 als Bühnenbildner und Ausstatter an vielen Wiener Bühnen. Kunz arbeitete auch für den Film und war als Modezeichner einflussreich. 1938–1945 war er künstlerischer Leiter des „Wiener Hauses der Mode“ im Palais Lobkowitz und wesentlich beteiligt an der 1939 erfolgten Umgestaltung der Wiener Frauenakademie in eine Modeschule der Stadt Wien. 1945–1955 leitete er als erster Direktor die wieder gegründete Modeschule, er baute auch die heutige Modesammlung des Wien Museums auf.
  6. Harald (Johannes David) Paulsen (*26.8.1895 Elmshorn/Hamburg – +4.8.1954 Hamburg-Altona). Paulsen war ausgebildeter Tänzer, Regisseur, Schauspieler. Paulsen debütierte 1913 am Hamburger Stadttheater, spielte am Fronttheater Mitau und kam 1919 nach Berlin ans Deutsche Theater. Paulsen, zum damaligen Zeitpunkt vor allem Operettenstar, spielte sowohl in der Uraufführung von Bertolt Brechts „Die Dreigroschenoper“ (am 31.8.1928 am Berliner Theater am Schiffbauerdamm, die Inszenierung wurde 200 Mal gespielt, bis Ende 1932 wurde „Die Dreigroschenoper“ in 18 Sprachen übersetzt und erfuhr mehr als 10 000 Aufführungen in Europa) als auch in der österreichischen Erstaufführung erfolgreich die Rolle des Mackie Messer. 1938 übernahm Paulsen die Intendanz des Theater am Nollendorfplatz in Berlin, wo damals hauptsächlich Operetten aufgeführt wurden. Er führte auch Regie und übernahm Gesangspartien. Bis 1945 leitete er die Bühne, danach wechselte er ans Schauspielhaus Hamburg. Paulsen wirkte in zahlreichen Filmen mit. Von der „Dreigroschenoper“ existieren heute noch Gesangsaufnahmen mit Harald Paulsen.

Ernst Fischer: Im Schatten der Maschine

Vor einigen Jahren stand ich in der großen, weißen Halle eines Wasserkraftwerkes, das mit vielen Feierlichkeiten eröffnet wurde. Ein Redner nach dem anderen würdigte das Ereignis, ein Redner nach dem anderen sprach von Volkswirtschaft, Aufbauarbeit, Fortschritt und was man so sagt, wenn man dazu berufen ist. Es war sehr langweilig. Schließlich besprengte ein Priester die blanken, jungen Maschinen mit Wasser und weihte sie im Namen des Herrn, nahm sie auf in die Gemeinschaft der katholischen Kirche. Auch für uns Menschen hatte er einige Tropfen übrig, obwohl wir nicht so gute Christen waren, nicht so fleißige Gottesstreiter wie die braven Maschinen und die braven Feldhaubitzen.

Dann trat der Monteur an ein Schaltwerk und stellte einen Hebel: und von diesem Augenblick an bereute ich es nicht, daß ich zu der Eröffnung des Wasserkraftwerkes hinausgefahren war. Hoch oben auf dem Berg hinter dem weißen Haus stürzte das Wasser des gefangenen, des gebundenen Wildbachs in das Turbinenrohr. Heulend, singend, jubelnd, gurgelnd, sausend, orgelnd brach das Element in die Halle herein. Tausend Raubtiere, Drachen, Riesen, Dämonen waren losgelassen, tausend Urwaldstimmen vermengten sich zu wüstem Gesang, tausend Posaunen des Untergangs schleuderten irre Musik in das Chaos. Es war, als habe jemand die dünne Schicht Ordnung und Gesetz, die Haut der Natur, die wir für das Wesen der Dinge halten, von allem Dasein gerissen, als habe jemand die schreckliche Wahrheit, das fürchterliche Blut des Daseins entfesselt. Immer gewaltiger, immer drohender wurde das Gedröhn – in einer Sekunde mußte die Halle zusammenbrechen, mußten Trümmer von Stein und Erz uns alle begraben. Einige öffneten den Mund, riefen, so laut sie konnten, den neben ihnen Stehenden etwas zu – man hörte nichts, die Stimme des Menschen wurde hinweggefegt von der übermenschlichen Stimme niederstürzender Elemente. Hinweggefegt wurden die schönen Worte: Volkswirtschaft, Aufbauarbeit, Fortschritt, hinweggefegt die wohlgefügten Gedanken der Minister, Abgeordneten, Industriellen, die das Wasserkraftwerk eröffnet hatten – der Berg brüllte, das Wasser schrie, die Mächte triumphierten über den Menschen.

Und plötzlich – geisterhaftes Schauspiel! – zitterten die Maschinen aus ehernem Schlaf empor, plötzlich pochten die Pulse der glänzenden Ungeheuer, plötzlich begannen die Räder sich feierlich zu drehen, begannen die Kolben zu stampfen, die Riemen zu gleiten, die Walzen zu rollen. Und plötzlich sprang aus hundert Lampen elektrisches Licht in den weißen Tag, plötzlich schlug das Wasser, das in den Turbinen schoß, hundert gespenstische Augen auf. Plötzlich starrte das Element aus hundert gespenstischen Augen uns an… […]

Von Zeit zu Zeit, im Verlauf der Jahre, war es auf einmal wieder da, diese unvernünftige Angst, dieses Grauen vor der Uebermacht der Maschine – stets aber fand ich pathetische Worte und beruhigende Beweise gegen das Gefühl der Ohnmacht und der Hoffnungslosigkeit, gegen die jähe Vision, daß unser eigenes Werk uns niederwirft, daß wir alle unter die Räder geraten, die wir ins Rollen brachten. Unsere Phantasielosigkeit überwindet solche Eindrücke, diese Phantasielosigkeit, die uns vor dem Wahnsinn bewahrt und die menschliche Gesellschaft mit all ihrem Elend, mit all ihren Krisen und Kriegen, mit all ihren wohlgeordneten Schändlichkeiten und salbungsvollen Schurkereien zusammenhält.

Diese Phantasielosigkeit dann und wann zu zerstören, ist höchste Aufgabe der Kunst.

Solch ein hohes Kunstwerk ist Leo Lanias Film „Im Schatten der Maschinen“, den wir vor einigen Tagen in Wien gesehen haben. Was jeder von Zeit zu Zeit, im Verlauf der Jahre, bedrängend, bedrückend gefühlt hat; diese unvernünftige Angst, dieses Grauen vor der Maschine – hier hat es konzentrierten, herzzermalmenden Ausdruck gewonnen. Der Mensch ist nichts, Die Maschine alles – Bild auf Bild bombardiert uns mit dieser Erkenntnis, Bild auf Bild brodelt empor aus der Hölle der mechanisierten Arbeit. Ehe der Film beginnt, ertönt das Lied der Arbeit, am Ende verklingt es im Schatten der Maschinen wie bitteres Hohngelächter.

Maschinen zerren Hunderttausende täglich hinab in die Dunkelheit der Bergwerke, tragen Hunderttausende täglich empor auf Dächer, Gerüste und Telegraphenmaste, Maschine zwingen die Hände, die Füße, den ganzen Körper des Menschen, sich ihrem monotonen Rhythmus, ihrer magischen Unbeirrbarkeit anzupassen, unterwerfen der starren Diktatur ihrer Hebel und Räder den lebenden Organismus. Ihre Funktionen wechseln – hier brechen sie Kohle, hier hämmern sie Eisen, hier mahlen sie Mehl – aber ihr Wesen bleibt überall gleich: überall dieselbe mörderische Melodie: „Hin und her! Auf und ab! Eins und zwei! Hin und her! Ohne Rast! Ohne Ruh’! Auf und ab! Immerzu! Eins und zwei!“ Anfangs merkt man noch Unterschiede, sieht man noch Einzelheiten, findet man noch bestimmte Eigenarten dieser und jener Produktion – allmählich aber lösen sich diese Unterschiede, Einzelheiten, Eigenarten auf in einen einzigen monotonen Arbeitsprozeß. Was da erzeugt wird, Lebensmittel oder Todesmittel, Dünger oder Giftgas, Mehl oder Stahl, ist dem, der es erzeugt, vollkommen gleichgültig […] Er hat keinen Anteil an dem, was da erzeugt wird – wie sollte er daran Anteil nehmen? Er ist ein Stück Produktionsapparat – schade, daß man den Kerl  bezahlen muß! Man schaltet ihn ein. Man schaltet ihn aus. Und eines Tages montiert man ihn ab: Arbeitslosigkeit, Krankheit, Tod.

Die Maschine ist vollkommener als der Mensch. Manchmal, wenn man ihr pochendes, pulsendes, stampfendes Auf// und Ab vor den Augen hat, meint man, den ungeheuren Herzschlag, das ungeheure Atemholen eines Lebewesens zu sehn – aber wie unvollkommen ist unser Herz, hundertfältigen Leidenschaften, Gefühlen, Erlebnissen ausgeliefert, launenhaft und unregelmäßig, einmal tobend und einmal stockend, von Schmerzen und Hoffnungen irritiert, von Wünschen bedrängt und von Verzweiflung gelähmt, und ebenso launenhaft, ebenso unregelmäßig der Atem des Lebenden! Wie unvollkommen ist unser Herz, wie vollkommen ist das Herz der Maschine. Mit schauerlicher Genauigkeit vollbringt es die vorgeschriebenen Schläge, keinen zuviel und keinen zuwenig, keinen zu kurz und keinen zu lang, mit fürchterlicher Regelmäßigkeit atmen die stählernen Lungen aus und ein […]

Die Produktion geht weiter, ein Mensch ist nichts, der Mechanismus funktioniert. Erde ist Material, Kohle ist Material, Eisen ist Material, die Menschen sind Material. Hier wird Mehl gemahlen, dort werden Granaten gedreht – werden just Kinderwagen produziert oder Haubitzen, sind es Mehlsäcke, die da liegen oder Leichen? Teuflisch verwirrt sich die Maschinerie: da brechen auf einmal Geschütze und Tanks in die Welt der Technik herein, da sät man Korn, da sät man Blut, da ragen Gewehrpyramiden in leerem Feld und morgen sind es Getreideschober, da wälzt sich eine Nähmaschine über das Land und reife Aehren fallen zu Garben, da wälzt sich ein Tank über das Land, und was ein Aehrenfeld war, wird zum Felde der Ehre, Krieg und Frieden, Erz und Fleisch, Korn und Blut, dieselbe Bewegung, derselbe Takt, dieselbe mörderische Melodie…

Die Produktion geht weiter, ein Mensch ist nichts, der Mechanismus funktioniert. Die Musikanten spielen das Lied der Arbeit – „Stimmt an das Lied der hohen Braut“… Am feuerspeienden Kessel ein nackter Prolet, umflockt von höllischer Glut, niedergetrommelt von Flammenfäusten – „die schon dem Menschen angetraut“ – im Kohlenbergwerk ein nackter Prolet, halberstickt auf dem Rücken liegend, von Schweiß überschwemmt und überprasselt von Wasserstürzen – „eh er selbst Mensch war noch…“ Und ist er Mensch, eingekeilt in Eisen und Stein? ein Stück Produktionsapparat, sonst nichts – „Was sein ist auf dem Erdenrund“ – Erdmassen, Felsmassen stürzen ein, Krämpfe schütteln den Sterbenden, der seiner Frau, seinen Kindern nichts hinterlässt, als das unveräußerliche Proletenrecht auf staatlich geregelten Hungertod – „entsprang aus diesem schönen Bund“ – riesige Zangen greifen zu, schmieden die Kette, Glied für Glied – „die Arbeit hoch!“ – Alleszerstampfend, alleszermalmend rollt ein phantastisches Ungetüm heran, näher und immer näher heran, über uns alle hinweg: die Arbeit in dieser Welt der kapitalistischen Maschinerie

Das ist der Film „Im Schatten der Maschinen“. Ein Fiebertraum, Vision eines pessimistischen Künstlers? Nein: Wahrheit, Wirklichkeit, unsere Welt! Reportage und Photographie, ohne ein Wort der Erklärung und der Anklage. Aber kein Revolutionsfilm der Russen wirkt so aufreizend, so erbitternd, so elementar wie diese konzentrierte, diese kommentarlose Wirklichkeit. […]

In: Arbeiter-Zeitung, 19.5.1929, S. 17-18.

Ann Tizia Leitich: Girldämmerung

Das neue Ideal: die wissende junge Dame

Wer von Ihnen, meine Damen, hat ein Körpermaß von 155 Zentimeter? Wem gibt der Bubikopf ein lächerliches Aussehen und wird nur getragen, weil man lieber lächerlich wirken als wie seine eigene Großtante aussehen will? Wer hatte seine liebe Not mit diesen Puppen- , diesen Konfirmationskleidchen, die die Mode der letzten Jahre vorschrieb? Wem hat ein Künstler gesagt, daß die sanfte Wellenlinie der Hüften entzückender sei als die erbittert angestrebte hermaphroditische Kurvenlosigkeit der modernen Figur – was Sie natürlich damit beantworten, daß sie die ganze Schönheit mit einem Jumper zu phantasieloser Geradliniegkeit plattdrückten? Welche Frau gefällt sich in der von der Mode verbannten langen fließenden Gewändern mit einer Schleppe? Wer ist der ewigen Filzcloche der Sechzehnjährigen müde? Und wer möchte  – ich bin mir bewußt, daß diese Frage der ganz unmittelbaren Gegenwart etwas vorausgreift, aber sie liegt in der Entwicklungslinie meines Gedankens – wer möchte einmal, statt bloß geistlos zu tanzen, interessant flirten?

Alle diese Damen, deren geheime Wünsche mit den Möglichkeiten im Widerspruch liegen, können frohlocken und einander die Hände schütteln. Für sie bricht eine bessere Zeit heran: sie kommen wieder in Mode, denn – –

Das Girl hat ausgespielt. Wie es in Europa ist, weiß ich nicht, denn die Behauptung gilt nur für Amerika, das Land, wo das Girl die impertinent unschuldigen und je nach Bedarf keck-fröhlich oder sentimental-ergebenen Augen aufschlug. Europa dürfte übrigens, wie in den letzten Jahren gewöhnlich, schleunigst folgen. Es wird natürlich auch nicht gleich ganz verschwinden, das Girl, dazu ist es zu lebenskräftig und zäh; aber es wird Liebe und Sex, Mode, Künstler  und Figurinenzeichner, Männer und ihren Geschmack, Literatur, Theater, Kino, Manieren nicht mehr tyrannisieren können. Es ist ihm nämlich das Fatalste passiert, das einem weiblichen Wesen heute zustoßen kann: es ist uninteressant geworden. Das geschah, als die Intellektuellen und die Snobs es gleichzeitig fallen ließen. Jene taten es, indem sie sich laut und wortreich in ihren Magazines mit den Problemen der verheirateten und erwerbenden Frau befaßten; diese rein geistige, daher langweilige Tätigkeit wäre wahrscheinlich ohne Konsequenzen für die Welt verhallt, wenn die Snobs nicht gewesen wären, die sich in ihren Magazines an blasierten Dialogen erfreuten, in denen die weibliche Partnerin so kühl-überlegen, so raffiniert berechnend, so erhaben über allem und doch lüstern auf jede Sensation, so lässig hingegossen und dabei in jedem Winkel ihres Wesens auf der Lauer gezeichnet war, wie es ein Girl nie und nimmer sein durfte, ein Typus, den man mit dem unübersetzbaren Wort ‚sophisticated‘ bezeichnete. Schon seit geraumer Zeit glorifizieren die Snobs, die in Newyork, dem größten Wettrennplatz der Welt, eine ganz hervorragende Rolle spielen, dem herrschenden Broadway-Geschmack und dem berühmtesten Girlregisseur Flo Ziegfeld zum Trotz die ‚sophisticated woman‘. Wer Vogue, Harpers Bazar oder Vanity Fair je in der Hand gehabt hat, dem wird dies keine Neuigkeit sein.

Das Girl im Leben und auf der Bühne. –

„Baby-stare“

Die Allgemeinheit wurde scheinbar nicht dadurch beeinflußt: Die Girlmode  hielt sich vor allem deswegen, weil sie an einem unerhört  festen psychologischen Haken der Frauen hing, die da glauben, nicht bloß Jahre, sondern Jahrzehnte wegschwindeln zu können, wenn sie sich als Girls gebärden; was bei einigen stimmte, bei vielen aber nicht; was wir aber wieder nicht so bemerkten, weil wir alle den Girlkomplex hatten. Wie in der Mode, behauptete sich das Girl auf der Revuebühne, wo das stehende Heer von Ziegfeld-, Hoffmann-, Tiller-, Albertina-, Rasch-, Duncan- und anderen Girls fortwährend durch neu anmarschierende Bataillone verstärkt wurde. Sein Gesicht lächelt unentwegt und unerschüttert von den Titelblättern und aus den Seiten der populären Magazines; und sein knabenhaft unentwickeltes, schmetterlingsleichtes Figürchen, das dem Mann nicht bis zur Schulter reichen durfte, beherrschte die allmächtige Silberleinwand und damit Millionen von Zuschauern.

Vielleicht ist es hier nützlich, darauf zu verweisen, daß das amerikanische und das europäische Girl sich nicht ganz deckten. Die charakteristischen und wesentlichen Eigenschaften des amerikanischen, also des echten Girls, war die … o nein, nicht die Bubenhaftigkeit. Diese war nur die äußere Würze, die pikant kontrastierende Beigabe, die mit großer Kunst verwendet sein wollte, die die Europäerin meist nicht so gut verstand wie die Amerikanerin; denn das Girl war bei weitem schlauer als es aussah; schlauer zu sein als zu scheinen, war ja sozusagen sein Geschäft; Millionen wurden damit verdient. Daher begegneten nur Imitationsgirls dem Mann burschikos; die echten, unter denen es wahrhaft entzückende gab, wußten, daß sie vor allem ‚sweet‘ (süß) zu sein hatten. Und deshalb war das Girl an der Vermännlichung der Frau unschuldig; diese Vermännlichung gehört in ein ganz anderes Kapitel und ist auch eine Ursache mehr, daß das Girl aufhören muß, Girl zu sein. […]

Das Hauptrüstzeug ihrer Vorgängerin wird samt und sonders in die Abfallkanne wandern und darum ist es wahrlich nicht schade. Das ist nämlich jener süße, unschuldig-einfältige Blick aus weitaufgerissenen, dem Leben namenlos verwundert gegenüberstehenden Augen, mit dem das Girl zum Mann hinaufsah. Diesen Blick bezeichnete der amerikanische slang treffend als „Baby stare“. Jeder kennt ihn aus amerikanischen Filmen; denn wenn die Heldin nicht eine /30/ ausgemachte Verführerin war, so mußte sie über dieses Baby-stare und die Babygestalt verfügen und das Babyliebesgetändel beherrschen, um Helden und Zuschauer dranzukriegen. Demgemäß waren die Straßen, die Geschäfte, die Restaurants von Hollywood mit den hübschesten, gedrilltesten und mustergültig uniformen Girls so angefüllt, daß die ganze Gegend mit Baby-stares förmlich infiziert war und nach kürzerer oder längerer Zeit seinen Verstand verlieren mußte.

Mary Pickford wird entthront

Noch tanzen die Girls auf Broadway – – sie werden es noch lange tun, God bless them. Am Weihnachtstage glühlichterte ein Revuetheater über die unabsehbare Menschenmenge der Theaterstraße: „4 shows today nothing but girls.“ Aber etwas geschah neulich, das man nicht so sehr beachete, da hier täglich Größen fallen und Größen aufstehen. „Darling of America“, Mary Pickfords neuester Film fiel auf Broadway fast durch1. Nicht weil Mary über das Alter der Girls hinaus ist, aber weil sich das Publikum für Mary-Girls nicht mehr interessiert. Mary fiel zum ersten Mal in ihrem Leben ‚flach’ und sie wird ‚fern von Madrid’ jetzt Zeit haben, darüber nachzudenken, wie viele von ihren schauspielerischen Künsten sie dem Filmbaby opferte, das sie kreiert hat. Nachdem dieses Ereignis ohne Kommentar versunken war, wurde ein über der Fünften Avenue schwebender monumentaler Girlkopf, der eine Seife mit den Worten anpries „keep that school-girl complexion“ (Bewahre den Schulmädchenteint), eines Tages durch den schlanken, intelligenten Kopf und das liebenswürdig, aber sehr weltweise dreinschauende Gesicht einer jungen Frau ersetzt, die noch dazu ganz offen eine Frisur trug. Gleichzeitig verschwand auch die „School-girl complexion“. Damals begann ich etwas zu ahnen, denn ein solches Plakat kostet zu viel, als daß man sich dabei Experimente erlauben könnte. Meine Ahnung bestätigte ein Blick in das Schaufenster eines berühmten Modehauses, wo die reizenden Stilkleider, die das Girl mit seiner bekannten Präpotenz sich auch gleich wieder hatte aneignen wollen, indem es durchaus niedliche flatternde Kleidchen daraus zu machen suchte, ladylike verlängert waren. Einzelne rückwärts bis zum Boden, in der Art der Kostüme der andalusischen Tänzerinnen, andere mit seitlicher oder rückwärtiger Schleppe. Ha, eine Schleppe, das geschieht ihm recht, dem Girl.

            Es gab in den Schaufenstern noch allerhand andere interessante Sachen, Schleier zum Beispiel, die aber wahrscheinlich nicht Mode werden dürften, weil die Amerikanerin sie einmal nicht will, und geraffte, fließende Kleider, die für jene hochgewachsenen Frauen geschaffen sind, die sich die letzten Jahre in Mauselöchern verkriechen durften, wenn sie nicht sich selber untreu sein wollten. Und am selben Abend sah ich bei einer fashionablen Premiere alle die Damen, von denen ich wusste, daß ihre blonden, brünetten, grauen, weißen Bobs (geschnittene Haare) unmöglich schon nachgewachsen sein konnten, mit tiefen Knoten im Nacken, mit gedankenvollen, intelligenten, von zu viel Erleben müden Gesichtern – Müdigkeit, die natürlich zu 99 Prozent Imitation war, Gesichter, die zum Mann keineswegs hinauf-, sondern offenbar auf ihn herabsahen, auf denen ein Lächeln nur selten aufflog, aber dann mit allen Anzeichen von Kostbarkeit, Geheimnis und wissendem Locken. Blond, brünett, grau oder weiß – – die Girls waren samt und sonders verschwunden und es gab nur elegant-geschmeidige, unendlich blasierte „sophisticates“.

Die neue Königin und ihre Attribute

Und damit seien auch alle jene getröstet, die um die verlorene Dame die Hände gerungen haben. Es ist nicht mehr notwendig, denn sie ist schon wieder da. Wirklich und wahrhaftig; man darf sich beruhigen. Sie ist zwar nicht ganz die Alte, selbstverständlich nicht, Gott sei Dank nicht, dazu hat sie viel zu viel mitgemacht und zu viel gelernt; aber sie ist Dame. Wenn man es noch nicht glauben kann, so will ich zum Schluß jetzt meinen Trumpf ausspielen: Hollywood ist mit dabei, sein ureigenstes Produkt, das Girl, zur Strecke zu bringen. Das ist ungeheuer wichtig, denn ohne Hollywood könnten wir’s alle nicht ermachen. Sie zweifeln? Aber ich habe es schriftlich. „Hoch, schlank, statuesk, schön, die Personifizierung schlummernder Glut.“ Worte, die vor zwanzig Jahren geschrieben wurden? Mit nichten! Ganz neue Worte, so neue, daß sie noch brennend weiß über Broadway getragen werden. Denn mit ihnen preist Hollywood seinen neuesten Star an, Greta Garbo, die Schwedin, die gegenwärtig in einem Film, „Love“ Triumphe feiert, dessen Personen komischer- oder tragischerweise die Namen von Tolstois Roman „Anna Karenina“ tragen. Auch Pola Negri2 hatte hier Erfolg, aber es war nicht die Art von Erfolg, die so zwingend einen Teil der öffentlichen Mentalität wird, daß die Frauen sich selbst, Mode und Liebe verändern, und die Männer ihr weibliches Ideal von heut auf morgen umkrempeln. Greta kam eben im psychologischen Moment, als Amerika reif war für die hohe, schlanke, wissende, junge Frau, die noch vor zwei Monaten in Hollywood ruhig vor den Toren der Studios hätte verhungern können, selbst wen sie die Duse3 des Films in Person gewesen wäre. Greta bricht übrigens auch die Tradition in anderer Hinsicht, indem zum erstenmal in einem amerikanischen Schlager eine verheiratete Frau zur Liebesheldin gemacht wird.

Was werden nun die Girlarmeen in Hollywood machen? Und wie werden die kleinen Stenos ihr Budget dem neuen Ideal anpassen, das bei weitem teurer kommt? Warum sollen wir uns darüber den Kopf zerbrechen; wer hat uns gefragt, als man uns Kinderkleider zumutete! Ich habe meine Pflicht getan und Ihnen, meine Damen, eine „Advance notice“ zukommen lassen. Und jetzt gehe ich zum Coiffeur, um mir die Haare à la Garbo  – halblang auf die Schulter fallend – frisieren zu lassen, und zur Schneiderin, um mir ein gerafftes Abendkleid mit einer kleinen, blasierten Schleppe zu bestellen.

Newyork, im Januar 1928.    

In: Neue Freie Presse, 22.1.1928, S. 29-30.

  1. Mary Pickford (1892-1979, Star des amerikanischen Stummfilms) siehe: http://en.wikipedia.org/wiki/Mary_Pickford (Zugriff vom 5.7. 2014)
  2. Pola Negri, 1897 in Lipno, Russland (eigentl. Poln. Stadt) – 1987, San Antonio, USA; Star der Stummfilmzeit, insbes. in der Zusammenarbeit mit Ernst Lubitsch seit 1919 (Madame Dubarry), Hollywood, Rückkehr nach Deutschland 1934, wo sie mit Paul Wegener für die UFA drehte, ab 1941 wieder in den USA.
  3. Eleonora Duse (1858-1924), bedeutende italienische (Theater)Schauspielerin; siehe: http://de.wikipedia.org/wiki/Eleonora_Duse (Zugriff, 5.7.2014)

Ann Tizia Leitich: Ein Wort für Amerika. Noch einmal „Monotonisierung der Welt“

Siehe dazu auch Monotonisierungsdebatte.

Stand da vor Wochen ein so interessantes Feuilleton in diesem Blatt, voll der Wehmut, die sich über schwindende Schönheit neigt, und doch auch voll Kraft im Selbstbehaupten, im Pathos der Schlusssätze. Der es schrieb, ein Dichter-Schriftsteller von internationalem Ruf, dessen künstlerisches und menschliches Wesen bis in die letzte Fiber durchtränkt ist von dem Duft, der Sensibilität der Kultur, deren unaufhaltsames Schwinden er beklagt; einer Kultur, die zwar unbewußt und liebenswürdig hochmütig, aber in ihrem universellen Umfassen aller ‚Himmel des Geistes’ dem Gefühlsleben ein Blumenparterre schuf, darin die Seelen im Anschauen von Schönheit ewige Fragen in edler Muße besprechen konnten. Vorausgesetzt freilich, daß sie in dieser Muße geboren waren, denn sonst hatten sie in der Regel draußen vor den Toren zu bleiben. Denn diese schöne und versinkende Kultur, unsere europäische Kultur des neunzehnten und frühen zwanzigsten Jahrhunderts, die der Krieg mit Auszehrung schlug, sie war eine individual-aristokratische, respektive bürgerliche Kultur, wie bis jetzt noch jede, die altgriechische ausgenommen. Sie gehörte jenen, die durch Geburt, Klasse, Stand sie in die Wiege gelegt bekamen. Sie ist uns allen teuer, die wir in ihr aufgewachsen. Wir alle bluten aus Wunden, die uns ihr Abreißen geschlagen hat, und unser taumelndes Leid wird  beredt in der Sprache eines Dichters wie jenes, der den Aufsatz schrieb, auf den ich hier weise: ‚Monotonisierung der Welt.’

Aber nicht um Vergangenem nachzuahmen greife ich zur Feder; ich bin in Amerika und da gibt es nur Gegenwart und Zukunft, keine Vergangenheit. Ich schreibe heute, weil in ‚Monotonisierung der Welt’ ein Satz ist, der heißt: „Woher kommt diese Welle, die uns alles Farbige, alles Eigenförmige aus dem Leben wegzuschwemmen droht? Jeder, der drüben gewesen ist, weiß es: von Amerika.“ Ich greife diesen Satz heraus und nehme ihn unter die Lupe.

Woher nehme ich die Courage? Kaum eine Handvoll Jahre ist es her, da saß ich im Kaffeehaus an der grünen Salzach, wo die ganz ansehnliche Künstlergemeinde Salzburgs ihr Quartier-Latin-Zusammenkünfte in jenen Nachkriegsjahren zu haben pflegte, im Angesichte von Fluß, Brücke, Stadt und des alten Wolfdietrich ragendem Schloß. Ist’s Café-Akademie? Zuviel ist über den Namen gerauscht, wie plastisch zwar auch die Szene der Seele erhalten geblieben. Und da saß am selben Tisch Stefan Zweig. Nicht, daß er mich bemerkt hätte: ich war jung und unreif, aber dankbar für die Stunde, die den Dichter an meine Seite gebracht, der mir die schlanke, sensitive Hand reichte, der aus der Welt von Kunst und Büchern seines altersgrauen Schlößchens nur selten herunterkam, um zu präsidieren, mit der Grazie eines Herzogs in der Nonchalance von Kniehosen und Sporthemd. Aber nicht ganz so selten wie der unsichtbare Geist über dieser literarischen Gemeinde, der schweigsam und exklusiv wie ein grollender König, täglich, in Silberbart und karierten Bridges, in ein gewisses Gasthaus in der Vorstadt pilgerte, wo es die besten Knödel gab. Ich meine natürlich Hermann Bahr. Oder der Schmied duftiger Verslein und sinniger Geschichtlein, voll der Herb-Süße Alt-// Österreichs, Franz Karl Ginzkey, der sich gerade ein Nest zurechtzimmerte, so weit draußen, versteckt hinter Wiesen und Hecken, daß man seine liebe Not hatte, es zu finden. Reinhardts Barockschloß träumte damals noch abbröckelnd, mit glaslosen Fenstern, über einen schilfgesäumten Teich, der jedem gehörte, der ihn haben wollte.

Was für silberne Tage, was für ein silberner Platz: Salzburg. So recht geschaffen dazu, dort eine Burg aufzurichten gegen die in der Phalanx der Großstädte auftürmende Verplattung von Zeit, Mensch, Gedanke. Und daraus stracks nach Amerika – es könnte ebenso gut heißen, von einem Planeten durch unendlichen Raum zu einem anderen Planeten. In das Amerika nämlich, in das ich gelangte. Mitten hinein ins schlagende Herz der neuen Welt warf es mich, nach Chicago. Und da war keine lieblich erwärmte Hotelsuite für mich bereit, keine Freundeshand, die mich führte und wies, kein Wegzeiger auf meiner Straße, aber da war auch kein Land von Hotel zu Hotel durchrasender Salonwagen, keine schwatzenden Komitees, die im ehrlichsten Bemühen nichts anderes tun als eine Welt in einem Fingerhut präsentieren. Ich kam nicht aus Hunger nach Brot oder Gold: denn eine leidlich gute Krippe hatt’ ich im alten Land in den Wind geschlagen und vom Gold war ich klug genug zu wissen, daß es auch hier nicht auf der Straße liege. Ich kam aus dem Zusammenbruch einer Epoche: aus dem Zusammenbruch eines Lebens, um die Möglichkeit neuen Lebens zu suchen. So stand ich Amerika gegenüber mit blanker Seele, aus der die Vergangenheit weggebrannt war, fragend: Was bist du, wo bist du, wer bist du; was bringst du mir, was der Welt? Ich, die Mücke, zum Riesen Amerika. Und der Riese sagte: Go ahead and find out! Geh und schau zu, was du findest. Ich stand mit dem Bündel Fetzen, das der Krieg einem österreichischen Intellektuellen hinterlassen hatte, in den Straßen Chicagos ätzend heiß im Sommer. Go and find out… Und ich ging und trachtete zu finden. Vorerst etwas zu essen und ein Dach überm Kopf. Leicht oder nicht leicht, ich wollte doch so ungeheurer mehr. Schritt um Schritt rang ich es dem Riesen ab. Ich kämpfte mit ihm, ich arbeitete für ihn, ich schrie gegen ihn, ich schmeichelte mich an ihn heran, trachtete seine schwachen Seiten herauszufinden und fand seine starken, dort wo sie kaum geahnt. Ich besah ihn mir von unten und oben, von innen und außen. Ich aß apple-pie und steak mit Wäscherinnen und Tippfräulein und Austern und Lobster mit Klubdamen und Millionären. Lachende Töchter des Westens schlug ich auf der Universität in englischer Grammatik, und ließ mich von ihnen in basket-ball schlagen. Viele Türen ging ich ein und aus und sah den Menschen bei der Arbeit auf die Finger, belauschte die Muße: Eine bunte Menge, hochmütig-exklusiv und gemütlich-anbiedernd, arm und reich, edel und unedel, ich sah, wie die Tage, die Wochen, die Jahre, wie die Städte und die Weiler sie gleich Treibholz an das Ufer unseres Bewusstseins schwemmen, das bereit steht mit der Laterne der Frage: Wer seid ihr, was bringt ihr? Und ich bin in den Farmerhäusern des großen Mittelwestens gewesen, wo Schweine auf der einen und Mais auf der anderen Seite der Menschen Hirn und Herz begrenzen, weil ihnen die Natur nichts anderes gewährt, und ich habe mich gewundert, wie sie es zusammenbringen, dazwischen auf Gott nicht zu vergessen, was immer nun Gott auch sein mag. Der Mittelwesten hat Amerika eine Anzahl seiner besten Dichter und Schriftsteller des letzten Jahrzehnts gegeben. Die man in Europa erst noch kennen zu lernen hat als die Pfadbrecher einer neuen literarischen Epoche – Morgenrot über dunklen, schlafenden Wäldern.  Freilich glaube ich nicht, daß einer unter ihnen sich mit Marcel Proust hätte verständigen können oder Proust mit ihnen; dazu sind beide zu sehr Vertreter der Extreme, die nicht einmal auf derselben Linie liegen. Ich möchte nicht begraben sein im Mittelwesten, kein Europäer könnte dort leben, der vor dem Krieg erwachsen und gebildet war. Aus dem einfachen Grund, weil es zu verschieden ist. Ich floh nach Newyork, um Europa näher zu sein, um Europa zu riechen im Angesichte der Dampfer, die es erste vor ein paar Tagen gesehen; aber ich habe im Mittelwesten unendlich viel gelernt. Amerika ist mehr als die an monumentale Keckheit, an Frivolität des Geistes grenzende Ausgestaltetheit der Wolkenkratzer; ist mehr als Newyorks weißglühender Markt der Eitelkeiten und des Sensationshungers, Broadway, mehr als Wallstreets Dollarjagd; mehr als seine 16 Millionen Automobile und die unheimliche Kompetenz des Druckknopfes (just press the button), der uns mit allem versieht, von einer Tasse Kaffee bis zum Konzert des berühmten, ein paar hundert Meilen weit entfernten Virtuosen. Amerika, das Land der unbegrenzten Möglichkeiten des Reichwerdens, wie es in den europäischen Märchen vorkommt, ist mehr oder weniger eine Sache der Vergangenheit; aber Amerika, das Land der unbegrenzten Möglichkeiten n der Evolution des Menschengeschlechtes mag wohl eine Tatsache werden.

Europa weiß ja selbst heute seinen Weg nicht. Es taumelt in der Dunkelheit. Zurück zum Alten, über die Trümmer hinüber klimmen kann es nicht und vorwärtsweiß es nicht recht wie. Europa ist zu befangen, zu verstrickt in tausend Strömungen und Unterströmungen, in Hemmungen und Wünschen.  Der Europäer als Einzelmensch ist einem werter und unleugbar interessanter als der Amerikaner, aber das Land als solches? Langweilig, platt, oberflächlich? Nein. Je länger man hier ist, desto überzeugter wird man davon, daß man noch immer mehr zu erkennen hat. Wenn ich sage ‚Land’, so meine ich es: Land. Die amerikanischen Städte sind mit wenigen Ausnahmen von einer trostlosen Hässlichkeit, einzig und allein für den Zweck gebaut, Geld zu machen; aber der Amerikaner besiegt diese Hässlichkeit, indem er ihr so viel als möglich ausweicht, und es hilft ihm dabei ein großes Glück: Platz zu haben. Alle amerikanischen Städte wachsen weit ausladend ins Grüne. Aber die Kraft, der Sinn Amerikas liegt nicht in den Städten, der liegt im Boden. Monotonie? Langeweile? Ja, fürchterlich, in beiden, Land und Stadt. Aber der Amerikaner kann nichts dafür; er empfängt diese Monotonie nicht freiwillig wie der Europäer, der sie eintauscht für bessere Güter. Ihn hat sie überrascht, überströmt, daß er momentan wehrlos, obwohl nicht tatlos ist gegen sie. Nach der sauren, alle Zeit und Energie in Anspruch nehmenden Arbeit der Erschließung eines riesigen Kontinents verwandte er den Ueberschwang// der also durch Uebung gestählten, durch Erfolg erfrischten Kräfte auf den weiteren Ausbau seines Lebens, für das er sich in wenigen Jahrzehnten eine Form geschaffen hat, die alles je Dagewesene an Brillantheit übertrifft. In Treibhausschnelle ist sie der ehemaligen Lehrmeisterin Europa über den Kopf gewachsen. […] Europa hat Jahrhunderte gebraucht, um seine Kultur zu bilden, die, zwar befruchtet von asiatischen, dennoch seine eigene ist. Nun, Amerika ist dabei, seine eigene Kultur zu bilden. Was es bisher gehabt hat, war importiert, adaptiert, oder trug deutlich den Stempel europäischer Schulung. Nun beginnt es sich zu emanzipieren. Sein politisches Distanzhalten ist vielleicht ein Symptom davon. Nicht daß es Europa von sich fern hielte, Europa und Amerika sind näher denn je, geographisch. Es horcht, was Europa zu sagen hat. Dieses Horchen darf man aber nicht für Absorbieren nehmen, denn es geht absolut seinen eigenen Weg. Wer kann heute genau wissen, wohin der führt? Aber jeder, der hier ist und dem Land den Puls fühlt, wird es erleben: die unverwischbare Empfindung, daß hier etwas im Werden ist, daß sich eine Seele regt, die langsam große Augen aufschlägt.

Renan definiert eine Nation: „Große Dinge in Gemeinschaft gemacht zu haben und wünschen, große Dinge in Gemeinschaft zu machen.“1 Aus naheliegenden Gründen trieb und treibt der Materialismus hier – wie überall – seine giftigen Blüten. Aber legt man das Ohr auf die Erde, so hört man den Hufschlag von Besserem. Hat man in Europa je daran gedacht, in Gemeinschaft national Wertvolles zu leisten? Ja, der Einzelne, der Große, er dachte und denkt die großen, die schönen Gedanken. Der Impetus, den die Großen gaben, war immer die Hefe für Neues und Besseres. Aber einmal über die Schwelle ihres Hauses trat man in Tyrannei, Stupidität, Haß und Schmutz. Hat je ein Volk zusammengearbeitet, um sein Land groß zu machen? Nein, es wurde höchstens dazu gepeitscht, es mächtig zu machen. Nur ein Beispiel. In Europa gibt es heute genug sehr reiche Leute, wahrscheinlich mehr als vor dem Krieg. Ist es einem eingefallen, ein großzügiges Kulturwerk zu schaffen, deren Nutznießer die Allgemeinheit ist, eine Bibliothek, eine Universität usw. oder Bestehendem genügend aufzuhelfen? Ich habe nichts davon gehört. […]

Amerika ist noch mitten drin im Fundamentlegen. Nun noch einmal zu unserem Mann zurück, zu unserem Durchschnittsmann – abends konzertieren für ihn Pablo Casals, Jeritza, die Philharmonie in seinem Hause, Staatssekretär Hughes spricht für ihn. Der reichste Mann der Welt kann wahrscheinlich Pablo Casals, Jeritza für einen Abend engagieren, kaum aber Staatssekretär Hughes2. Aber hier ist er in einem Fünf-Zimmer-Haus! Also: Fabriksware, Maschine, Kino, Radio, Horreurs für den kultivierten Europäer, gewiß. Warum aber eine Gefahr? Kein Künstler braucht zu fürchten, daß sein Saal leer wird durchs Radio, denn wer Schaljanin am Radio hört, wäre wahrscheinlich kaum ins Konzert gekommen. Andrerseits aber wird durch das Hören am Radio der Wunsch erweckt, den Künstler in Person zu hören. Wenn man hundert-, zweihundertmal am Victriola (ein ausgezeichnetes Grammophon) „O du mein Abendstern“ gespielt hat, prägt sich einem schließlich etwas von der Schönheit ein, und man wünscht die ganze Oper zu hören3. Vielleicht ist das Victriola zum großen Teil  schuld daran, daß die Operngesellschaften in Amerika aus der Erde wachsen. Riesige Entfernungen sind in Amerika, die durch die Vehikel der Kultur, wie wir sie einst in den schönen Zeiten vor dem Radio gehabt haben, nie erreicht werden könnten. Viele Millionen Menschen wohnen dort. Ihnen allen wird plötzlich eine neue Welt erschlossen. Machen wir uns doch einmal klar, daß die Zeit, da Cheops (von dem wir glauben, daß er seit Tausenden Jahren tot ist, der aber noch immer atmet) Ungeheures schuf mit Hilfe von Hunderttausenden von namenlosen Sklaven, die in der Wüstensonne wie Fliegen starben, daß diese Zeit endgültig vorüber ist. Wir stehen an der Schwelle einer ganz neuen. Wir sind inmitten einer ungeheuren sozialen Evolution. Europa experimentiert sich in diese Zeit hinein und es experimentiert, wie das russische Beispiel zeigt, nicht gut. Aber das russische Bei//spiel hat auch gezeigt, wie faul, wie unterminiert unsere Zeit gewesen. Es gefiel uns, gewiß, und wenn wir von Elend und Jammer und Hässlichkeit hörten, hielten wir die Hände abwehrend vor und sagten: Ja, ja, das existiert, aber wir wollen nichts davon wissen. Aber es nützte uns nichts; wir bekamen Jahre voll Elend, Jammer und Hässlichkeit voll zubemessen und wir sind dem russischen Gemetzel nur um ein Haar entronnen. Der Gestank aus übertünchten Gräbern wird früher oder später ruchbar.

Ich sehe für einen der bedeutendsten, ja vielleicht für den bedeutendsten Amerikaner der Epoche jenen an, der in allen seinen Betrieben dem geringsten Laufjungen einen solchen Wochenlohn zahlt, daß er durch ihn mehr haben kann als bloß trockenes Brot. Dies nicht aus Idealismus, auch nicht nur als Propagandakunststück, aber aus einer mehr schlauen als weisen, ungemein sicheren Vorausfühlung, mit der er Gestalt findet für Dinge, die da kommen sollen. Dieser Mann ist Ford. Ich habe gezögert, den Namen hinzuschreiben, denn Ford hat in Europa schlechtesten Ruf als der Protagonist des Taylorsystems, der äußersten, verblödenden Spezialisierung der Arbeit, Man kann eben nie ein Glied aus einem komplizierten Mechanismus, wie es ein Industriesystem ist, herausgreifen und einzeln betrachten; da muß man falsche Schlüsse machen. Gut und schlecht – das Kapitel Ford ist ein Kapitel amerikanischer Kulturgeschichte. Was aber nun den Laufjungen betrifft – es muß auch Laufjungen geben, warum sollen sie Ausgeworfene sein, weil sie Laufjungen sind? Es wäre entsetzlich, wenn die Welt nur aus Universitätsprofessoren bestände. Ich bin weder eine Bolschewistin noch eine Sozialistin, lediglich Amerikanerin – in diesem Sinn – und als solche sage ich: Jeder, wo immer er geboren ist, soll die Möglichkeit haben, sein Leben auszugestalten; die Möglichkeit, die Zeit, zu lachen. Das wollen wir vor allem wieder können: lachen. Dann werden wir weiter sehen. […]

Ja, wird man mir sagen, in Amerika ist das leicht, den Leuten geht es eben einfach allen materiell besser. Aber das ist es keineswegs, was den Unterschied so fundamental macht. Er liegt tiefer, dort, wohin die gleißende Politur des Geldes nicht mehr reicht. Diese Lemuren: Jazz, Fabriksware, Maschinen, Talmikunst – sie sind Quartiermacher, sie sind nicht Amerika. Es ja uns, die wir Heldenverehrer sind und die Persönlichkeit über alles schätzen, gleichgültig sein, ob Millionen Menschen wissender und lachender werden. Menschen, für die wir uns von vornherein, weil sie in Bildung unter uns stehen, nicht interessieren. Aber es ist für das Wesen der Dinge, für die Formung der Zeiten nichts weniger als gleichgültig. Ich ging einst in der Sonntagsmenge von Coney Island, dem größten Volksvergnügungsplatz der Welt, mit einem sehr gereisten sehr verwöhnten und Amerika – wie alle – sehr skeptisch gegenüberstehenden Wiener, der sagte zu mir: „Diese Mädchen sind alle nett gekleidet, sie sehen alle gut und hübsch aus. Wie machen sie es? Nun, darauf könnte man mancherlei Antwort geben, aber unter anderem auch das: Ein nettes, einfaches Kleid kann man billiger in Newyork kaufen als irgendwo anders, obwohl Newyork zu den teuersten Städten der Welt gehört, vorausgesetzt, daß man die Durchschnittsstatur hat. Dank der Fabrik. Wenn mein Geschmack darüber erhaben ist, so kaufe ich es einfach nicht. Daß die Fabriksware Geschmack verdirbt, ist durchaus unrichtig. Das Gegenteil ist der Fall, denn bei Leuten, die sich mit Fabriksware Genüge sein lassen, ist kein Geschmack zu verderben, höchstens einer zu entwickeln. Und dabei muß man immer von unten anfangen, nicht von oben. Es hat wenig Sinn, wehmütig derTage zu denken, da man in der Beschaulichkeit eines geruhsamen Lebenstaktes kunstvolles Hausgerät und Gewänder ersann und sie bedächtig und fürsorglich für langes Dienen in die Welt setzte. Jedes Jahrhundert hat seinen Inhalt und seine Aufgaben, und wo hinaus und hinauf die phänomenale Basis, auf die unsre gestellt ist, sich auswachsen wird, das können wir heute wohl gar nicht ahnen. Aber man fühlt es hier am Herzen Amerikas mit größter Gewissheit als hinter Europas Zaunburgen, daß auf den Kämmen dieses mit barbarischen Kräften geschwellten Stromes der ‚Monotonisierung der Welt’ neue und große Werte herangetragen werden mögen, daß sie herangetragen werden. 

In: Neue Freie Presse, 25.3.1925, S. 1-4.


  1. Ernest Renan (1823-1892), französischer Schriftsteller, Historiker, Orientalist und Religionswissenschaftler. Leitich bezieht sich auf seine berühmte, 1882 an der Sorbonne gehaltene Rede Was ist eine Nation (Qu’est-ce qu’un nation?) Siehe: http://fr.wikisource.org/wiki/Qu%E2%80%99est-ce_qu%E2%80%99une_nation_%3F (Zugriff vom 6.7.2014)
  2. Pablo Casals (1876 in El Vedrelli, Spanien – 1973 Puerto Rico), bedeutender Cellist, Komponist und Dirigent, der sich auch politisch, kulturell und sozial exponiert und engagiert hat, insbesondere gegen den Nationalsozialismus durch Einladungsablehnungen sowie im Verlauf des Spanischen Bürgerkriegs ab 1936 für die Republik und gegen Franco, was seinen Gang ins Exil zur Folge hatte. Weiters setzte er sich konsequent für die katalanische Sprache und Kultur ein.

    Maria Jeritza (1887, Brünn – 1982 New Yersey), weltbekannte Sopranistin und Theaterdiva, in vielen Opern von Richard Strauss und Max Reinhardt engagiert, 1921-1932 Ensemblemitglied der New Yorker Metropolitan Opera.

  3. Bezieht sich auf die Arie O du mein holder Abendstern in Richard Wagners Oper Tannhäuser (UA 1845, erste Aufführung in New York 1859)

Robert Neumann: Mädchen wohin?

Es geht hier um Frauenliteratur – und dieses Thema ist von vornherein einigermaßen heikel. Denn man riskiert, sich die Sympathien breiter Kreise, besonders weiblicher Leserschaft zu verscherzen, wenn man offen bekennt, daß man die gemeinhin von Frauen produzierte Literatur, ein Halbdutzend weltliterarischer Ausnahmen ausgenommen, bei allem Wohlwollen doch nicht als ganz vollwertig anzuerkennen vermag. Gott helfe mir, ich kann nicht anders. (Und er Mann, der mir nicht beistimmt, ist mir verdächtig.)

So hätte man es mit seiner Meinungsbildung leicht – begänne nicht eben hier erst das eigentliche Problem. Denn das negative literarische Urteil hat seine Kehrseite: Sind die Frauenbücher (von jenen sechs oder in Gottesnamen zwölf Ausnahmen immer abgesehen) „literarisch“ unerheblich – sie sind um so erheblicher als Dokument. Ich glaube, die Frau ist in einer tieferen Schicht phantasielos. Auch als Lügnerin phantasiert sie nicht, sondern sie

kombiniert nur reale Gegebenheiten – will sagen: sie ist eine gute Lügnerin, denn sie lügt plausibel. Mit anderen Worten: sie ist nicht produktiv. Zwingt man sie (oder zwingt sie sich), produktiv zu sein, das heißt schreibt sie etwa einen Roman, so surrogiert sie, gute Lügnerin und schlechte Dichterin, die sie ist, „Erphantisiertes“ durch Erlebtes (oder Erträumtes, was auf dasselbe hinausläuft). Und man wird, auch ohne Psychoanalytiker zu sein, jenseits aller literarischen Betrachtung die Existenzberechtigung der Frauenliteratur damit als gegeben erachten. Sie ist d a s document humain, das uns gemeinhin ohne Ohrenbeichte oder psychotherapeutisches Studio zur Verfügung steht.

Habe ich gesagt: Dokument? Dann wollen wir die Sache noch von einer anderen Seite ansehen. Es gibt stofflich und es gibt formal orientierte Epochen, und man muß weder spielerisch veranlagt, noch ein Aesthet, noch auch ein Mystiker sein, um eine gewisse Periodizität dieser Schwankungen zwischen Stoff und Form in der Geistesgeschichte, also auch in der Literaturgeschichte der letzten zwei Jahrtausende herauszuspüren. Jedenfalls: unsere Zeit ist (im Gegensatz zum Beispiel zum Aesthetizismus der Vorkriegsperiode) eine typische „Stoffzeit“. Primitiv gesprochen: sie würgt an ihrem Stofferlebnis (Krieg-Nachkrieg) und kommt damit nicht an den Rand. Nun hat aber jeder Produktive außer seiner „poetischen“, seiner „ewigen“ Aufgabe auch eine zeitliche: Zeugnis abzulegen, Zeuge zu sein. Als jener Poet Plinius Zeuge des Unterganges der Stadt Pompeji wurde, schrieb er zunächst einmal nicht Lyrik, sondern den Untergang der Stadt Pompeji. Aus ganz verwandten Gründen kommt es in unserem Weltuntergang, in unserer Stoffzeit zu einer nie gekannten Blüte der Dokumentenliteratur. (Die, reaktiv, schon wieder eine neue Romantik hervorbringt; worüber einiges zu sagen wäre.)

Jedenfalls also : Dokumentenliteratur als Forderung dieser Zeit. Wie findet sich die zum Schreiben aufgerufene (oder sich aufrufende) Frau mit dieser Forderung ab? Stimmen die früher aufgestellten Formulierungen, so befindet sie sich während solch einer Stoffzeit in ihrer künstlerischen Realsituation. Denn ist ihre Produktion erkannt worden als dokumentarisch in sich – hier begegnet dieses artistische Frauendichtungsdokument ausnahmsweise, legitim und ohne jeden surrogierenden Umweg, der dokumentarischen Forderung der Epoche. Anders ausgedrückt: Wenn Frauenliteratur überhaupt jemals sinnvoll und existenzberechtigt sein kann, so ist sie in solch einer Dokumentenzeit gleich der unseren sinnvoll und existenzberechtigt. (Nicht, wie man auf den ersten Blick meinen sollte, in einer „romantischen“ Periode, die der scheinproduktiven Frau-Dichterin noch immer eine Freistätte bedeutet hat für jenen herzbluthaft nebulosen und zugleich blaustrumpfig aufgeputschten Dilettantismus, für jene zugleich überschwengliche und unpräzise, also unwahrhaftige Poetasterei, die uns nachgerade identisch geworden ist mit unserer Vorstellung von Frauenliteratur. (Die These Robert Neumanns von der Minderwertigkeit der Frauenliteratur wird keineswegs allgemeine Zustimmung finden. Anm. d. Red.)

Damit ist die grundsätzliche Lokalisierung für das Folgende vollzogen, die Beschäftigung des Kritikers mit Frauenliteratur in dieser Zeit ist legitimiert. Bleibt, den Anlaß solcher Beschäftigung aufzuzeigen. Es handelt sich da also um drei Bücher, die im Laufe des letzten Monats vom Paul – Zsolnay – Verlag in Wien herausgebracht worden sind: „Mädchen wohin?“ von Viktoria Wolf, „Herz über Bord“ von Lili Grün, „Kati auf der Brücke“ von Hilde Spiel. Gemeinsamkeit: drei neue Autorinnen, überaus jung an Jahren – der Roman der jüngsten der drei ist von einer Neunzehnjährigen geschrieben. Wovon schreiben diese drei Frauen? Der Roman der Wolf : ein junges Mädchen, nach dem Abitur zu Hochschulstudienzwecken allein in München einquartiert, findet an zwei Männern vorüber zu einem dritten in dem Augenblick, da es zu spät ist – und lebt weiter. Die Grün : Ein junges Mädchen, kleine Schauspielerin, nach schwerem Erlebnis mit einem Mann in großer Armut nach Berlin verschlagen, kämpft gegen Not, Ungemach im Beruf und Liebe zu einem, der nicht zu ihr paßt – und lebt weiter. Und die Spiel: Ein junges Mädchen, überaus zart, wird vom Leben, von ersten Erkenntnissen, von einer ersten Liebe und Enttäuschung hart angefaßt – und lebt weiter. Nicht mehr? Selbstverständlich viel mehr. Es wäre herbe Unbilligkeit, den Gehalt der drei auf eine zarte Weise bunten Romane auf diese dürren Formeln des Berichtes zu reduzieren – geschähe das nicht, um jene weitere Gemeinsamkeit aufzuzeigen, auf die es hier ankommt : Bei der Wolf wie bei der Grün, bei der Grün wie bei der Spiel handelt es sich um die Konfrontation der Jung-Frau mit der Realität. Mit einer sehr typischen, sehr heutigen, sehr sachlichen Form der Realität – mit dem etwa, was man noch vor kurzem unter dem inzwischen ein wenig fadenscheinig gewordenen Begriff der „Neuen Sachlichkeit“ zu subsumieren gewohnt war. Dieser Realität begegnen die hier vorgestellten Frauen gewissermaßen mit der Stärke ihrer Schwäche.

Darüber hinaus gibt es natürlich Unterscheidendes in Menge. Vergnüglich und lehrreich, wie da das Buch der Wolf von jenem alten Frauenromantypus einer artistischen und ein wenig blaustrumpfhaften Wunschtraumrealisation die Brücke schlägt zu der neugefundenen Form. Kein Zufall ist es, daß gerade dieses am wenigsten bedeutende der drei Bücher ohne Schwierigkeit für alle drei gemeinsam und damit auch gleich für diese Betrachtung über alle drei den Titel zu liefern vermag. „Mädchen, wohin ?“ – das ist so etwa die innere Situation der neuen Gattung. Und wie hierin, so ist dieses Buch der Wolf auch in jeder anderen Beziehung unter den dreien das komfortabelste. Es ist leicht zugänglich, es ist süffig – es kann seines Erfolges in breiten Schichten besonders weiblicher Leserschaft sicher sein.

Da hat es eine wie die Lili Grün mit ihrem Buche „Herz über Bord“ zugleich leichter und schwerer. Schwerer: denn an Süffigkeit, will sagen: an Erfolgsgewissheit nimmt sie es mit der Wolf nicht auf. Und leichter: denn die dokumentarische, literarische Qualität dieses Erstlingsbuches eines vom Leben verprügelten kleinen Mädels ist über jeden Zweifel erhaben. Habe ich gegen das Buch der Wolf eingewendet, es walte in ihm keine „Not“ – hier herrscht Not im Ueberfluß. Und das schon in rein materieller Beziehung. Ist die Heldin der Wolf materiell gesichert, ist die Heldin der Spiel, wie wir noch sehen werden, gefährdet nur in metaphorischem Sinn – hier bei der Grün geht es in jedem Betracht auf Sichdurchbeißen oder Verrecken. Und ich stehe, da es sich nun einmal um „Dokumentarliteratur“ handelt, nicht an, zu verraten, dass das Schicksal der Heldin da durchaus dem der Autorin nachgebildet ist. Als ich diese und ihr Manuskript vor wenigen Monaten aufspürte, wog sie neununddreißig Kilogramm und lebte von – aber das würde man mir nicht glauben. Ist das ein literarisches Argument, höre ich mich gefragt. Es ist ein Argument, wenn man es mit dieser Leistung zusammenhält. Denn Not und Leistung wollen hier auseinander verstanden sein – sie werden gewissermaßen erst durch einander transparent. Es herrscht in diesem Erziehungsroman eine ganz besondere Form von Ueberwindertum, der „Protest der Jung-Frau gegen die Sachlichkeit“ vollzieht sich auf eine erschütternde und sehr zarte Manier, und zwar derart, daß die Heldin sich geheime seelische Reservationen, geheimste Traumwinkel aufspart, in denen sie jene halbe Stunde, die ihr von vierundzwanzig für ihr privates, eigenes, inneres Leben übrigbleibt, in einer seltsam versponnenen und den eigenen Wirklichkeiten abholden Weise reich macht und leuchten läßt. Um diese Lili Grün ist mir nicht bange. Sie wird ihren Weg machen.

Sie wird ihn sicherer machen als die dritte im Bunde. Denn so wahr der Roman „Kathi auf der Brücke“ der Hilde Spiel poetisch-substantiell inter den dreien der gewichtigste und darum auch der interessanteste ist, so wahr ist er der am schwersten zugängliche. Einfach deshalb, weil jenes Aussparen von Reservationen, jenes Anlegen geheimer seelischer Naturschutzparks hier so weit getrieben ist, dass die Aufspaltung zwischen Traum und Tat, also ein schizzoides Element, geradezu zum Hauptproblem des Buches und des zentralen Charakters wird. Ein Traummensch, von den Wirklichkeiten fast bezwungen. Dem entspricht die außerordentlich weit gediehene Brechung der epischen Linie. Diese Spiel „treibt Nebendinge“, um es mit Professor Unrat zu sagen, die treibt sie sehr zum Frommen der poetischen Substanz, sehr zum Nachteil der epischen Geschlossenheit. Sie sagt einfach alles, was sie zu Gott, der Welt und dem Zwiespalt in der eigenen Brust zu sagen hat. So ist der Roman auf eine rührende Weise ungelenk, langweilig und spannend zugleich, und unfaßbar bleibt, daß dieses scheue, kindliche und zum Heulen lebensreife, ja weise Buch von einer Neunzehnjährigen geschrieben worden ist. Dabei ist all das von größter innerer Sauberkeit ; von jener neidenswerten und in dieser Form nie wiederkehrenden Unbeirrbarkeit der ethischen Haltung, wie sie nur sehr junge Menschen ihr eigen nennen ; mit einem dünnen, doch präzisen Stift gezeichnet und mit zarten Tinten illuminiert. Das ist viel und dennoch: die Prognose ist in dem Falle Spiel am schwierigsten. Ich glaube nicht, daß dieses junge Mädchen nach solchem „kosmischen“ Buche in naher Zeit etwas Neues zu sagen haben wird. Daß sie sich zu einer kessen und abschriftlichen Begabung nach Art der ihr sonst in mancher Beziehung verwandten Irmgard Keun verflache – dafür besteht keine Gefahr. Aber sie bleibe getrost, auch wenn ihre Gabe für eine Weile verstummen sollte. Man wird inzwischen nicht vergessen, daß sie zu den starken Hoffnungen einer neuen literarischen Gattung zu zählen ist.

Mädchen, wohin? Ach, es sind hier trotz allem nur drei Bücher besprochen worden. Die Frage ist ohne Antwort geblieben. Weil sie kraft einem weiseren und tiefergründigen Weltgesetz ohne Antwort zu bleiben hat?     

In: Neue Freie Presse, 7.7.1933, S. 1-3.