Alfred Markowitz: Eroberung der Kunst

Alfred Markowitz: Eroberung der Kunst (1928)

             Die Ansicht ist weit verbreitet, daß ein echtes Werk der bildenden Kunst nur ein solches sei, das auf alle gleichmäßig dieselbe starke Wirkung ausübe. Wenn diese Ansicht aus dem sozialen Gefühl stammt, das instinktiv verwirft, was anscheinend nur für wenige Auserwählte berechnet ist, so macht sie ihren Verfechtern alle Ehre. Wenn sich aber hinter ihr das Unvermögen verbirgt, ein über das Triviale hinaus reichendes Kunstwerk zu erfassen, so wird sie geradezu gefährlich, weil sie geeignet ist, die Allgemeinheit davon abzuhalten, sich die Kunst zu erobern, die ja tatsächlich nicht nur für wenige Auserwählte geschaffen wird, aber sich nicht ohne weiteres hingibt.

             Einen Schein von Berechtigung hat jene Ansicht allerdings. Es hat nämlich wirklich Zeiten gegeben, da die Kunst Gemeingut aller war. Das waren aber immer Zeiten, in denen sie sich auf die Darstellung eines verhältnismäßig kleinen Kreises bestimmter, allen gleich wertvoller, zumeist religiöser Gegenstände beschränkt hat; in dem Maße, als diese Gegenstände einem weiteren Kreis der mannigfachsten Gegenstände wichen, hörte die Kunst auf, Gemeingut aller zu sein. Daraus ist zu schließen, daß es in jenen Zeiten nicht so sehr die Kunst als solche, die Art ihrer Darstellungen, als vielmehr deren Gegenstand es war, der sie mit der Allgemeinheit verbunden hat. Freilich hat man immer gewisse Unterschiede gemacht zwischen den einzelnen Darstellungen desselben Gegenstandes; es mag wirkliches Gefühl für Kunstwerte gewesen sein, das manchen Darstellungen den Vorzug vor anderen gegeben hat. Aber dieses Gefühl reichte nicht hin, sich später über den Stoff zu erheben und sich Darstellungen jeglichen Inhalts zuwenden zu können.

             Vielleicht wird mancher hier denken, daß dies nicht zu bedauern sei, weil es eben gar nicht Aufgabe der bildenden Kunst sei, Gegenstände jeglicher Art, sondern nur solche darzustellen, die die Anschauung des Volkes verkörpern. Abgesehen davon, daß jeder Gegenstand, also auch einer, der die Ansichten des Volkes verkörpert, umso stärker wirkt, je mehr an Gefühl für seine künstlerische Gestaltung ihm entgegengebracht wird, ist dieser Gedanke schon aus dem Grund abzuweisen, weil sich die Kunst heute nicht mehr in die verhältnismäßig engen Grenzen einer Auffassung zwängen läßt. Die religiöse Weltanschauung von dereinst wurde gesprengt, weil die vielen, dem aufblühenden Geistesleben entspringenden neuen weltanschaulichen Ideen nicht mehr Platz in ihr fanden. Gewiß darf der Sozialist hoffen, daß der Sieg des Sozialismus an Stelle der längst verblühten religiösen Weltanschauung eine alle ergreifende, auch im Stofflichen sozialistische Kunst setzen wird. Allein die sozialistische Weltanschauung als die reife Frucht jener geistigen Bewegung // muß Platz gewähren allen wertvollen Ideen, die ihr zufließen aus der steigenden Erkenntnis der Natur und des Geisteslebens. Sie kann sich ihnen nicht verschließen, wie es die religiöse getan hat.

             Kunst ist Verkörperung von Weltanschauungen. Aber es ist auch Ausdruck einer Weltanschauung, wenn sie uns lebendes und totes Sein aller Art der gefühlsmäßigen Erkenntnis erschließt. Damit erfüllt sie eine Mission, die ihr erst recht im Rahmen des Sozialismus zukommt. Und darum kann sich unsere Kunst nicht mit der Darstellung jener Gegenstände bescheiden, die nur der politischen sozialistischen Gedankenwelt Ausdruck verleihen. Sie darf das auch nicht, weil glücklicherweise das Volk selbst nach immer größerer Bereicherung seiner Weltanschauung strebt.

             Eine Kunst, die nicht von vornherein durch ihren Gegenstand anzieht, sondern umgekehrt, mit ihren Ausdrucksmitteln erst zum Gegenstand führt, indem sie sein Wesen offenbart, ist nicht geeignet, ohne weiteres auf jedermann dieselbe Wirkung auszuüben. Das seelische Organ für die Aufnahme künstlerischer Ausdrucksformen bringt so gut wie jeder mit auf die Welt. Aber es funktioniert nur unzulänglich, wenn es nicht durch Übung geschult, ausgebildet und verfeinert wird. Die Kunst kann nicht mehr zurückkehren zu einem eng begrenzten, jedem von vornherein nahestehenden Stoffkreis. Soll sie wieder Gemeingut aller werden, so kann das daher nur geschehen durch eine Stärkung des Gefühles für die künstlerische Form, in der Gegenstände welcher Art immer dargestellt werden. Wie früher der Gegenstand zur Kunst, so muß nun die Kunst zum Gegenstand führen. Die Bereicherung der Weltanschauung  – das Wort in seiner buchstäblichen Bedeutung genommen – wird der Gewinn sein.

             Kunst wendet sich nicht an wenige Auserwählte. Jeder kann sie erobern, wenn er guten Willens ist. Es gehört nicht einmal allzuviel dazu. Jeder hat heute die Gelegenheit dazu. Auch die Sozialdemokratische Kunststelle bietet sie reichlich in ihren Ausstellungen »Kunst ins Volk«. Die Führung, die sie in diesen Ausstellungen veranstaltet, können die Selbstaneignung der Kunst nicht ersetzen, aber sie sind geeignet, Vorurteile zu zerstreuen und die Wege ins Reich der Kunst zu weisen.

In: Kunst und Volk, H. 2 (Okt.) 1928, S. 12-13.